Jeanne von Kermor war inzwischen mundig geworden. Seitdem sie, man konnte sagen, »unter den Mutterflugeln« des alten Waffengefahrten ihres Vaters gelebt, hatte sich ihre bei der Familie Eridia erhaltene Ausbildung unter dem sachlichen und ernsten Unterricht, den die neuere Padagogik bietet, noch wesentlich vervollkommnet.

Da kann man sich wohl vorstellen, von welch unwiderstehlichem Drange sie erfa?t wurde, als jenes Schriftstuck in ihre Hande kam - erbrachte es doch den Beweis. da? der Oberst von Kermor 1879 in San-Fernando geweilt hatte. Und wu?te man deshalb auch noch nicht, was spater aus ihm geworden ware, so war es doch eine Andeutung, der so ersehnte Hinweis, auf Grund dessen die ersten Schritte zu seiner Aufsuchung unternommen werden konnten Jetzt gingen wiederholt Briefe an den Gouverneur von San-Fernando ab. die Antworten lauteten immer gleichma?ig, da? niemand einen Oberst von Kermor kenne oder sich erinnern konne, da? ein solcher nach dem Orte gekommen sei. Und doch war an der Echtheit des Briefes gar nicht zu deuteln.

Unter diesen Umstanden erschien es naturlich am rathsamsten, selbst nach San-Fernando zu gehen, und Jeanne fa?te ohne Bedenken den Entschlu?, nach jener Gegend am obern Orinoco zu reisen.

Fraulein von Kermor war mit der Familie Eridia in ununterbrochenem Briefwechsel geblieben. So theilte sie den Adoptiveltern auch ihre Absicht mit, sich dahin zu begeben, wo es ihr vielleicht moglich ware, die ersten Spuren von ihrem

Vater wieder zu entdecken, und jene konnten sie, trotz der Schwierigkeiten einer solchen Reise, in ihrem Entschlusse nur bestarken.

Doch wenn Jeanne von Kermor diesen offenbar weitaussehenden Plan entworfen hatte, war damit noch gar nicht gesagt, da? auch der Sergeant Martial ihm zustimmen mu?te. Er verwarf ihn vielleicht von Anfang an, widersetzte sich der Ausfuhrung dessen, was Jeanne als Pflicht betrachtete, und erhob Widerspruch schon aus Besorgni? vor den Anstrengungen und Gefahren, denen sie sich in den weltfernen Gebieten Venezuelas aussetzte. Viele Tausend Kilometer zuruckzulegen!. Ein junges Madchen, das sich in ein so abenteuerliches Wagni? sturzte. nur gefuhrt von einem alten Haudegen. denn eines wu?te er: wenn sie abreiste, wurde er sie selbstverstandlich begleiten.

»Und doch hat mein guter Martial zuletzt nachgeben mussen, sagte Jeanne, ihre Mittheilungen beendigend, worin sie den zwei jungen Mannern das Geheimni? ihrer Vergangenheit offenbart hatte. Ja, er hat nun zugestimmt, und das mu?te er wohl; nicht wahr, mein alter Freund?

- Leider hab' ich genugende Ursache, es zu bereuen, antwortete der Sergeant Martial, da trotz aller Vorsicht.

- Unser Geheimni? entdeckt worden ist! setzte das junge Madchen lachend hinzu. Nun da bin ich eben nicht mehr Dein Neffe und Du bist nicht mehr mein Onkel. Herr Helloch und Herr Paterne werden davon aber keinem Menschen ein Wort sagen; nicht wahr, Herr Helloch?

- Keinem Menschen, geehrtes Fraulein!

- O, nicht Fraulein, Herr Helloch, beeilte sich Jeanne von Kermor zu widersprechen; die gefahrliche Gewohnheit, mich so zu nennen, durfen Sie gar nicht annehmen. Sie wurden mich dabei zuletzt verrathen. Nein. Jean. nur Jean!

- Ja wohl. Jean. ganz kurz, hochstens der Abwechslung wegen: unser lieber Jean, sagte Germain Paterne.

- Und jetzt, Herr Helloch, werden Sie sich auch erklaren konnen, was der gute Martial mir angesonnen hatte. Er wurde mein Onkel, ich sein Neffe. Ich habe mir das Aussehen eines jungen Mannes gegeben, mir das Haar abgeschnitten, und in dieser Weise verandert hab ich mich in Saint-Nazaire nach Caracas eingeschifft. Das Spanische war mir so gelaufig wie meine Muttersprache - was im Verlauf der Reise von gro?em Nutzen sein mu?te - und nun bin ich hier in San-Fernando! Wenn ich aber meinen Vater wiedergefunden habe, kehren wir uber Havanna nach Europa zuruck. Er mu? jedenfalls einen Besuch der edelmuthigen Familie abstatten, die so lange seine Stelle an mir vertreten hat und der wir Beide so unendlichen Dank schulden!«

In Jeanne von Kermor's Augen glanzte eine Thrane; sie fa?te sich jedoch schnell und fuhr in ihrer Rede fort.

»Nein, lieber Onkel, nein, daruber ist nicht zu klagen, da? unser Geheimni? enthullt worden ist. Gott hat es gewollt, ebenso wie es sein Wille war, da? wir zwei Landsleute, zwei wohlwollende und ergebene Freunde, unterwegs treffen sollten. Im Namen meines Vaters, meine Herren, danke ich Ihnen aus ganzer Seele fur das, was Sie fur mich bereits gethan haben und noch zu thun willens sind!«

Das junge Madchen streckte die Hande Jacques Helloch und Germain Paterne entgegen, die sie mit freundschaftlicher Warme druckten.

Am nachsten Tage nahmen die jungen Leute, der Sergeant Martial und Jean - diesen Namen legen wir ihm auch ferner fur alle erforderlichen Falle bei - Abschied von den Herren Miguel, Felipe und Varinas, die bereits ihre Vorbereitungen trafen, um die beiden Nebenflusse, den Guaviare und den

Atabapo, mit kritischer Brille zu besichtigen. Die beiden Collegen sahen den jungen Mann nicht ohne lebhafte

Besorgnisse, trotz der schutzenden Begleitung seiner Landsleute, nach dem Bett des obern Orinoco weiterziehen. Herr Miguel wunschte ihm indessen von Herzen Gluck zu dem Erfolg seiner Fahrt.

»Vielleicht finden Sie, liebes Kind, sagte er, uns bei Ihrer Ruckkehr hier noch wieder, wenn wir, meine Collegen und ich, uber unsre Streitfrage nicht haben einig werden konnen.«

Zuletzt verabschiedete sich auch der Gouverneur von San-Fernando und gab den Reisenden Briefe an die Vorstande der wichtigsten, stromaufwarts gelegenen Ortschaften mit; auch Herr Mirabal hatte sich eingestellt, um Jean noch einmal vaterlich zu umarmen - und dann schiffte sich die kleine Gesellschaft auf ihren zur Abfahrt bereit liegenden Piroguen ein.

Selbst viele Einwohner des Ortes stromten herbei, der Abreise beizuwohnen. Hochrufe und Gluckwunsche begru?ten die beiden Falcas, als sie vom linken Stromufer abstie?en. Nachdem sie um die Felsmassen herumgekommen waren, die sich an der Stelle erheben, wo der Atabapo und der Guaviare ihre Fluthen mischen, steuerten sie nach dem Orinoco hinaus und verschwanden bald in der Richtung nach Osten.

Zweites Capitel

Erste Etappe

Die »Gallinetta« und die »Moriche« wurden wie seit der Abfahrt von Caicara von den Schiffern Parchal und Valdez befehligt. Mit Parchal und dessen Leuten hatten Jacques Helloch und Germain Paterne wegen der Verlangerung der Fahrt keinerlei Schwierigkeiten gehabt. Fur eine Reise von unbestimmter Dauer angeworben, kummerten sich die wackern Leute sehr wenig darum, ob dabei der Orinoco bis zu seinen Quellen oder irgend einer seiner Nebenflusse untersucht werden sollte, wenn sie nur gute Bezahlung erhielten.

Was dagegen Valdez betraf, so mu?ten mit diesem neue Bedingungen vereinbart werden. Der Indianer sollte ja den Sergeanten Martial und dessen Neffen zunachst nur nach San-Fernando befordern, denn diese hatten nur einen dahin lautenden Vertrag mit ihm abschlie?en konnen, da alles Weitere von den Nachrichten abhing, die sie in dem genannten Orte einziehen konnten. Valdez stammte, wie wir wissen, aus San-Fernando, wo er auch seinen Wohnsitz hatte, und nach Verabschiedung vom Sergeanten Martial hatte er darauf gerechnet, mit andern Passagieren, Reisenden oder Handlern, den Strom wieder hinabzufahren.

Der Sergeant Martial und Jean waren nun aber mit der Geschicklichkeit und dem Eifer des Valdez ganz zufrieden gewesen und hatten es herzlich bedauert, sich fur den zweiten und gleichzeitig schwierigsten Theil der Fahrt von ihm trennen zu mussen. Sie machten ihm deshalb den Vorschlag, bei der

Reise uber den obern Orinoco auch ferner auf seiner Pirogue, der »Gallinetta«, zu bleiben.

Valdez ging gern darauf ein. Von den neun Leuten seiner Mannschaft konnte er freilich nur funf behalten, wahrend die andern sich fur die Kautschukernte verdingen wollten, bei der sie recht hohen Lohn bezogen. Der Fuhrer konnte sie aber glucklicherweise ersetzen, indem er drei Mariquitarer und einen Spanier anwarb, um die Besatzung der »Gallinetta« zu vervollstandigen.

Die Mariquitarer, die dem gleichnamigen, in den Gebieten des Ostens hausenden Stamme angehorten, sind vortreffliche Ruderer. Sie kennen auch den Strom grundlich bis einige Hundert Kilometer aufwarts von San- Fernando.

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