Jahreszeit und der Regenzeit sehr betrachtlich wechselt. Nach einem Modelle, ahnlich denen der Packetboote des Magdalenenstromes in Columbien, hatte er einen ganz flachen Boden und also so wenig wie moglich Tiefgang. Als einzigen Betriebsmechanismus besa? er ein sehr gro?es Rad ohne
Ueberbau (Radkasten) am Hintertheil, das von einer starken, doppelt wirkenden Maschine bewegt wurde. Stelle man sich also eine Art Flo? vor mit einem Aufbau, neben dem sich die zwei Schornsteine der Schiffskessel erhoben. Dieser Aufbau, mit einem Spardeck daruber, enthielt Salons und Cabinen fur die Passagiere, das untere Deck diente zur Unterbringung der Waaren - eine Einrichtung, die auch an die amerikanischen Flu?dampfer mit ihren ungeheuern Balanciers und machtigen Treibstangen erinnert. Das Ganze ist bis hinauf zum Platz des Lootsen und des Kapitans, der sich ganz oben unter dem Banner der Republik befindet, mit grellen Farben angestrichen. Auf den Rosten verbrennt man nur Holz aus den nahen Waldern, und man bemerkt bereits fast unubersehbare baumlose Flachen, wo die Axt des Holzfallers gearbeitet hat, an jeder Seite des Orinoco.
Ciudad-Bolivar liegt vierhundertzwanzig Kilometer von den Mundungen des Orinoco, und wenn sich die Flut auch bis dahin bemerkbar macht, so vermag sie doch die Normalstromung nicht umzukehren. Die Fahrzeuge, die stromaufwarts wollen, konnen sich also der Flut auch nicht mit besonderem Vortheil bedienen, vorzuglich bei starker Anschwellung des Wassers, die bei der Hauptstadt zwolf bis funfzehn Meter uber dem normalen Stand betragen kann. Im allgemeinen wachst der Orinoco aber bis Mitte August und behalt dann sein Niveau bis Ende September. Hierauf tritt ein Abfallen ein bis in den November, das, unterbrochen durch einen kurzere Zeit anhaltenden hoheren Stand, bis zum April fortdauert.
Die Fahrt des Herrn Miguel und seiner Collegen sollte also in gunstiger Jahreszeit stattfinden, wo alle drei in Frage kommenden Wasserlaufe untersucht werden konnten.
Am Einschiffungsplatz in Ciudad-Bolivar stromten am betreffenden Tage eine Menge Freunde der drei Geographen zusammen. Wenn das schon bei der Abfahrt der Fall war, wie wurde es erst bei der Ruckfahrt sein! Alle, die fur den beruhmten Strom Partei nahmen, machten ihren Wunschen in ebenso lebhaften und gerauschvollen Zurufen Luft, wie die Vertheidiger der beiden Zuflusse, und trotz des Larmens und Hastens der Lasttrager und der Schiffsbedienung, die die Landverbindungen des Dampfers zu losen begann, trotz des betaubenden Prasselns der Kessel und des ohrzerrei?enden Ausstromens des Dampfes durch die Sicherheitsventile, unterschied man doch immer noch deutlich die Rufe:
»Viva el Guaviare!
- Viva el Atabapo!
- Viva el Orinoco!«
Das hatte wieder heftige Auseinandersetzungen der Anhanger verschiedener Ansichten zur Folge, die ein schlechtes Ende zu nehmen drohten, obwohl Herr Miguel die hitzigen Streitkopfe zu beschwichtigen sich bemuhte.
Von dem Spardeck aus, wo sie Platz genommen hatten, beobachteten der Sergeant Martial und sein Neffe diese larmenden Auftritte, von denen sie nicht das Geringste begriffen.
»Was mogen nur die Leute wollen? rief der alte Soldat. Das erscheint doch wie die reine Revolution!«
Um eine solche konnte es sich aber schon deshalb nicht handeln, weil in den spanisch-amerikanischen Staaten diese stets unter Mitwirkung des Militars vor sich gehen. Hier sah man jedoch keinen einzigen von den siebentausend Generalen des Generalstabs von Venezuela.
Jean und der Sergeant Martial konnten uber jene Vorgange inde? nicht lange im Unklaren bleiben, denn im Verlaufe der Fahrt mu?te die zwischen dem Herrn Miguel und seinen beiden Collegen streitige Frage jedenfalls wieder zur Erorterung kommen.
Der Kapitan gab seine letzten Befehle - zuerst dem Maschinisten, seine Maschine fertig zu halten, dann den Schiffsleuten, die Sorrtaue am Vorder- und am Hintertheile schie?en zu lassen. Alle, die nicht zur eigentlichen Reisegesellschaft gehorten und die sich hier und da auf dem Oberbau verstreut hatten, mu?ten nun nach dem Quai zuruckkehren. Nach einigem Gedrange und verschiedenen Rippensto?en waren denn bald auch nur noch die Passagiere und die Schiffsbedienung an Bord.
Sowie sich der »Simon Bolivar« in Bewegung gesetzt hatte, verdoppelten sich die Zurufe und wurde der Tumult, aus dem man das Hochschreien auf den Orinoco und seine Zuflusse heraushorte, nur noch arger. Als das Fahrzeug dann ein Stuck vom Ufer abgekommen war, peitschte sein machtiges Rad das Wasser mit aller Kraft und der Steuermann lenkte es der Mitte des Stromes zu. Eine Viertelstunde spater verschwand die Stadt hinter einer Biegung des linken Stromufers und bald sah man auch nichts mehr von den letzten Hausern von Soledad auf dem jenseitigen Ufer.
Die Ausdehnung der venezuolanischen Ilanos schatzt man auf nicht weniger als funfmalhunderttausend Quadratkilometer, die von horizontalen, fast ganz glatten Ebenen eingenommen werden.
Hochstens an vereinzelten Stellen zeigt der Erdboden Erhebungen, die man im Lande Bancos nennt, und noch seltner Anhohen mit seitlich abfallenden Wanden, die sogenannten Mesas. Die Ilanos steigen erst am Fu?e der Berge, deren Nachbarschaft sich schon bemerkbar macht, etwas mehr an. Andre Landstrecken, die Bajos, ziehen sich bis an den Strom heran. Durch diese ungeheuern Gebiete, die wahrend der Regenzeit ein uppiges Grun bedeckt und die in der trocknen Jahreszeit gelb oder fast farblos erscheinen, walzt der Orinoco seine Wassermassen in einem gro?en Halbkreis hin.
Die Passagiere des »Simon Bolivar« ubrigens, die etwa den Wunsch hegten, den Strom vom hydrographischen oder vom geographischen Gesichtspunkte aus naher kennen zu lernen, hatten sich nur an die Herren Miguel, Felipe und Varinas zu wenden brauchen, um uber alles Auskunft zu erhalten. Die gelehrten Herren waren ja jeden Augenblick bereit zu den eingehendsten Mittheilungen uber die Uferortschaften, uber alle vom Strome aus sichtbaren Dorfer, wie uber die Nebenflusse und die verschiedenen nomadischen oder se?haften Volksstamme der Gegend. An gewissenhaftere und mehr unterrichtete Ciceroni hatte man sich gar nicht wenden konnen - die Herren waren ja stets bereit, sich den Passagieren bezuglich solcher Fragen vollig zur Verfugung zu stellen.
Die gro?te Menge der Fahrgaste auf dem »Simon Bolivar« hatte es freilich kaum nothig, noch etwas uber den Orinoco zu lernen, denn sie waren auf diesem schon viele Mal stromauf oder stromab gefahren, die einen bis zu den Mundungen des Apure, die andern bis zu dem Flecken San-Fernando de Atabapo. Die meisten waren Kaufleute oder einfache Handler, die ihre Waaren nach dem Innern schafften oder solche den ostlichen Hafen zufuhrten. Die gewohnlichsten Handelsartikel bestanden hier aus Cacao, Fellen, Rinder- und Hirschhauten, Kupfererzen, Holzwaaren, Farbstoffen, Tonkabohnen, Kautschuk, Sarsaparille und endlich aus lebendem Vieh; die Aufzucht von Vieh bildet die Hauptbeschaftigung der Ilaneros auf den weiten Ebenen.
Venezuela gehort in seiner ganzen Ausdehnung zur Tropenzone. Seine Mitteltemperatur liegt zwischen vierundzwanzig und drei?ig Grad Celsius. Sie wechselt aber, wie das ja in allen Gebirgsgebieten der Fall ist. Zwischen den Anden der Kuste und denen im Westen erreicht die Warme die hochsten Grade; hier hat man die Gebiete zu suchen, die das Bett des Orinoco durchschneidet und nach denen Seewinde niemals Eingang finden. Sogar die Hauptwinde, die aus Norden und Osten kommenden Passate, werden durch die Hohen an der Kuste aufgehalten und tragen nur sehr wenig zur Ma?igung der Warme bei.
Heute sah der bedeckte Himmel etwas regendrohend aus und die Passagiere litten nicht allzusehr von der Hitze. Der Wind wehte von Westen, also der Bewegung des Schiffes entgegen, so da? sich dessen Passagiere dabei recht wohl befanden.
Der Sergeant Martial und Jean, die beide auf dem Spardeck lagen, betrachteten aufmerksam die beiden Ufer des Stromes. Ihre Reisebegleiter schienen von dem Schauspiel weniger angezogen zu werden. Nur das Geographentrio lie? sich keine Einzelheit entgehen und besprach alles mit einer gewissen Lebhaftigkeit.
Hatte sich Jean an dasselbe gewendet, so wurde er ja uber Alles verla?liche Auskunft erhalten haben. Einerseits aber wurde der eifersuchtige und strenge Sergeant Martial keinem Fremden gestattet haben, mit dem Neffen ein Gesprach zu beginnen, und andrerseits brauchte dieser wirklich niemand, um »Schritt fur Schritt« alle Dorfer, Inseln und Windungen des Stromes zu erkennen. Er besa? einen sichern Fuhrer in dem Berichte uber zwei Reisen, die Chaffanjon im Auftrage des franzosischen Ministers des Unterrichts unternommen hatte. Die erste im Jahre 1884 umfa?te den Unterlauf des Orinoco zwischen Ciudad-Bolivar und der Mundung des Caura, wobei auch dieser bedeutende Nebenflu? untersucht wurde; die zweite, in den Jahren 1886 und 1887, erstreckte sich uber den ganzen Lauf des Stromes von Ciudad-Bolivar bis zu dessen Quellen. Der Bericht des franzosischen Reisenden zeichnet sich durch die au?erste Verla?lichkeit aus, und Jean hoffte ihn noch haufig mit Vortheil zu benutzen.
Der Sergeant Martial war naturlich mit einer hinreichenden Geldsumme - in Piastern - versehen, um alle Unkosten der