EDWARD JOHNSTON

Der Hubschrauber donnerte durch den dicken grauen Nebel. Diane Kramer, die hinten sa?, rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her. Immer wenn der Nebel sich etwas lichtete, sah sie die Baumwipfel des Waldes sehr dicht unter sich. »Mussen wir so tief fliegen?« fragte sie. Andre Marek, der vorne neben dem Piloten sa?, lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen, es ist vollig sicher.« Allerdings sah Marek nicht so aus, als wurde er sich wegen irgendwas Sorgen machen. Er war neunundzwanzig Jahre alt, gro? und sehr kraftig, unter seinem T- Shirt zeichneten sich die Muskelstrange ab. Man wurde auf jeden Fall nie auf den Gedanken kommen, da? er Dozent fur Geschichte in Yale war. Oder der stellvertretende Leiter des Dordogne-Projekts, zu dem sie nun flogen.

»Der Nebel wird sich gleich lichten«, sagte Marek mit einem Anflug seines niederlandischen Akzents. Kramer wu?te alles uber ihn: Nach seinem Studium in Utrecht hatte er sich zu einem jener neuen »experimentellen« Historiker entwickelt, die es sich zum Ziel machten, Teile der Vergangenheit wiederzuerschaffen, sie direkt zu erleben, um sie besser zu verstehen. Marek war ein Fanatiker auf diesem Gebiet; er hatte sich alles uber mittelalterliche Kleidung, Sprache und Gewohnheiten beigebracht; angeblich konnte er mit Schwert und Lanze kampfen. Und wenn sie ihn so ansah, glaubte sie es sogar. Sie sagte: »Es uberrascht mich, da? Professor Johnston nicht mit uns gekommen ist.« Kramer hatte eigentlich erwartet, da? Johnston sie personlich empfangen wurde. Sie war schlie?lich eine Topmanagerin der Firma, die diese Forschung finanzierte. Und das Protokoll verlangte es, da? Johnston selbst ihr das Projekt zeigte. Au?erdem hatte sie vorgehabt, ihn bereits im Hubschrauber zu bearbeiten. »Leider hatte Professor Johnston bereits eine Verabredung.« »Ach so?«

»Mit Francois Beilin, dem Staatssekretar fur historisches Kulturgut.« »Verstehe.« Kramer fuhlte sich gleich besser. Naturlich mu?te Johnston sich zuerst mit den Behorden beschaftigen. Das Dordogne-Projekt war vollig abhangig von guten Beziehungen zur franzosischen Regierung. »Gibt es ein Problem?« fragte sie.

»Ich glaube nicht. Die beiden sind alte Freunde. Ah, jetzt geht's los.«

Der Hubschrauber flog aus dem Nebel in morgendliches Sonnenlicht.

Die steinernen Bauernhauser warfen lange Schatten.

Als sie eins der Anwesen uberflogen, schlugen die Ganse auf dem Hof mit den Flugeln, und eine Frau in einer Schurze drohte ihnen mit der Faust.

»Sie ist nicht gerade erfreut uber uns«, sagte Marek und deutete mit seinem dicken, muskulosen Arm nach unten.

Kramer, die hinter ihm sa?, setzte ihre Sonnenbrille auf und erwiderte: »Na ja, es ist sechs Uhr morgens. Warum sind wir so fruh gestartet?« »Wegen des Lichts«, sagte Mrek. »Fruhe Schatten zeigen am besten Konturen, Gelandeunebenheiten und so weiter.« Er deutete an seinen Fu?en vorbei nach unten. Drei schwere gelbe Gehause waren an den Vorderstreben des Hubschraubers befestigt. »Im Augenblick haben wir Stereo-Gelandekameras, Infrarot- und UV-Sensoren und Sidescan-Radar dabei.«

Kramer deutete zum Ruckfenster hinaus, zu einer knapp zwei Meter langen silbernen Rohre, die unter dem Heck des Hubschraubers hing.

»Und was ist das?«

»Ein Protonenmagnetometer.«

»Aha. Und was macht der?«

»Sucht nach magnetischen Anomalien im Erdboden, die auf verschuttete Mauern, Keramik oder Metalle hindeuten konnen.«

»Gibt es noch irgendwelche Gerate, die Sie gern hatten, aber nicht haben?«

Marek lachelte. »Nein, Ms. Kramer. Wir haben alles, was wir wollten, vielen Dank.«

Bis jetzt hatte der Hubschrauber die sanft wogenden Konturen dichten Waldes uberflogen. Aber jetzt sah sie graues Felsgestein, klippenahnliche Steilhange, die die Landschaft durchschnitten. Langsam wurde ihr klar, da? Marek mit ihr so etwas wie eine wohleinstudierte Fuhrung machte; er redete fast ununterbrochen.

»Diese Kalksteinklippen sind die Uberreste eines uralten Strands«, sagte er. »Vor Millionen von Jahren war dieser Teil Frankreichs von einem Meer bedeckt. Als das Meer zuruckwich, lie? es einen Strand zuruck. Und uber Aonen zusammengepre?t, wurde aus diesem Strand Kalkstein. Es ist ein sehr weicher Stein. Die Abhange sind durchlochert von Hohlen.«

Kramer konnte wirklich viele Hohlen erkennen, dunkle Offnungen im Fels. »Es gibt eine ganze Menge davon.«

Marek nickte. »Dieser Teil Sudfrankreichs ist einer der am dauerhaftesten besiedelten Landstriche der Erde. Menschen leben hier seit mindestens vierhunderttausend Jahren, nachweisbar vom Neandertaler bis heute.«

Kramer nickte ungeduldig. »Und wo ist das Projekt?« fragte sie. »Kommt gleich.«

Der Wald ging in freies Gelande mit verstreuten Bauernhofen uber. Jetzt flogen sie auf ein Dorf auf einem Hugel zu; sie sah eine Ansammlung von Steinhausern, schmale Stra?en und den steinernen Turm einer Burg, der sich in den Himmel erhob. »Das ist Beynac«, sagte Marek mit dem Rucken zu ihr. »Und hier kommt unser Dopplersignal.« Kramer horte in ihrem Kopfhorer elektronische Pieptone, die immer schneller wurden. »Achtung«, sagte der Pilot.

Marek schaltete seine Ausrustung an. Ein halbes Dutzend Lichter blinkten grun auf.

»Okay«, sagte der Pilot. »Beginne mit erstem Uberflug. Drei... zwei... eins.«

Die sanften, bewaldeten Hugel endeten an einem steilen Abhang, und Diane Kramer sah das Tal der Dordogne, das sich unter ihnen ausbreitete.

Wie eine braune Schlange wand sich die Dordogne durch das Tal, das sie sich vor Hunderttausenden von Jahren gegraben hatte. Sogar zu dieser fruhen Morgenstunde sah man schon Kanuten, die auf ihr paddelten.

»Im Mittelalter war die Dordogne eine militarische Grenze«, sagte Marek. »Diese Flu?seite war franzosisch und die andere englisch. Die Kampfe gingen hin und her. Direkt unter uns liegt Beynac, eine franzosische Festung.«

»Und da druben«, fuhr er fort und zeigte uber den Flu?, »sehen Sie die gegenuberliegende Stadt Castelnaud. Eine englische Festung.« Hoch oben auf einem entfernten Hugel sah Kramer eine zweite Burg, die vollig aus gelbem Stein erbaut war. Die Burg war klein, aber wunderbar restauriert, ihre drei runden, von hohen Mauern verbundenen Turme ragten anmutig in die Luft. Am Fu? der Burg war ein malerisches Touristenstadtchen zu erkennen. »Aber das ist nicht unser Projekt...«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte Marek. »Ich zeige Ihnen nur den generellen Charakter dieses Landstrichs. Uberall an der Dordogne findet man diese paarweise angeordneten, einander gegenuberliegenden Burgen. Bei unserem Projekt geht es ebenfalls um so ein gegenuberliegendes Burgenpaar, aber es liegt noch ein paar Kilometer flu?abwarts. Da fliegen wir jetzt hin.«

Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und flog nach Osten uber sanft gewelltes Hugelland. Das Touristengebiet lie?en sie jetzt hinter sich, und Kramer war froh, als sie sah, da? das Land unter ihr gro?tenteils bewaldet war. Sie uberflogen ein Stadtchen am Flu? mit dem Namen Envaux und stiegen dann wieder uber dem Hugelland in die Hohe. Hinter einer dieser Kuppen sah sie plotzlich die offene Flache einer baumlosen grunen Wiese. In der Mitte der Wiese standen die Ruinen von mehreren steinernen Hausern, Mauern, die in merkwurdigen Winkeln aufeinanderstie?en. Dies war offensichtlich fruher eine Stadt gewesen, die sich unterhalb der Mauern einer Burg erstreckte. Doch die Burgmauern waren nur noch Linien aus Gesteinsbrocken, von der Burg selbst war so gut wie nichts mehr ubrig; sie sah nur die Fundamente von zwei run-den Turmen und Reste einer zerstorten Mauer, die sie verband. Hier und da zwischen den Ruinen waren wei?e Zelte aufgeschlagen worden. Mehrere Dutzend Leute arbeiteten dort unten.

»Bis vor drei Jahren gehorte das alles einem Ziegenbauern«, sagte Marek. »Die Franzosen hatten diese Ruinen so gut wie vergessen, sie waren von Wald uberwuchert. Wir haben den Wald gerodet und ein bi?chen was wiederaufgebaut. Was Sie hier sehen, war einst die beruhmte englische Festung Castelgard.«

»Das ist Castelgard?« seufzte Kramer. So wenig war also ubrig: ein paar stehende Mauern, die auf die Stadt hindeuteten, und von der Burg selbst fast nichts.

»Ich dachte, da ware schon mehr«, sagte sie.

»Irgendwann wird es mehr geben. Castelgard war zu seiner Zeit eine gro?e Stadt mit einer sehr imposanten Burg«, erwiderte Marek. »Aber es dauert noch mehrere Jahre, bis alles restauriert ist.« Kramer fragte sich, wie sie das Doniger erklaren sollte. Das Dor-dogne-Projekt war noch bei weitem nicht so fortgeschritten, wie Doniger sich das vorgestellt hatte. Es ware extrem schwierig, mit wirklicher Rekonstruktion zu beginnen, solange

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