die Anlage nur aus solchen Trummern bestand. Und sie war sicher, da? Professor Johnston sich einer Rekonstruktion unter solchen Umstanden widersetzen wurde. »Unser Hauptquartier haben wir in dem Bauernhof da druben aufgeschlagen.« Marek deutete auf ein Haus mit mehreren Nebengebauden, nicht weit von den Ruinen entfernt. »Wollen Sie uber Castelgard kreisen, um es sich genauer anzusehen?« »Nein«, sagte Kramer, die versuchte,sich ihre Enttauschung nicht anmerken zu lassen. »Nein, fliegen wir weiter.« »Okay, dann geht's jetzt zur Muhle.«

Der Helikopter schwenkte und flog nach Norden in Richtung Flu?. Das Land flachte zum Ufer der Dordogne hin ab. Sie uberquerten den breiten, dunkelbraunen Flu? und kamen zu einer stark bewaldeten Insel, die direkt vor dem anderen Ufer lag. Insel und Nordufer trennte ein schmalerer, rauschender Flu?arm von etwa funf Metern Breite. Genau hier waren die Ruinen eines anderen Gebaudes zu erkennen, die jedoch so zerstort waren, da? man nicht mehr ausmachen konnte, was es einmal gewesen war. »Und das?« fragte Kramer und schaute nach unten. »Was ist das?«

»Das ist die Wassermuhle. Fruher gab es eine Brucke uber den Flu? und darunter Wasserrader. Die Wasserkraft wurde zum Mehlmahlen benutzt und zum Antreiben gro?er Blasebalge fur die Stahlherstellung.«

»Hier wurde offenbar uberhaupt noch nichts wiederaufgebaut.« Kramer seufzte.

»Nein«, sagte Marek. »Aber wir haben die Muhle studiert. Chris Hughes, einer unser Doktoranden, hat sie ziemlich ausfuhrlich erforscht. Das da unten ist Chris, beim Professor.«

Kramer sah einen stammigen, dunkelhaarigen jungen Mann, der neben der gro?en, imposanten Gestalt von Professor Johnston stand. Keiner der beiden sah auf, als der Hubschrauber sie uberflog; sie waren zu sehr auf ihre Arbeit konzentriert.

Jetzt lie? der Hubschrauber den Flu? hinter sich und uberflog das flache Land nordlich davon. Sie uberquerten einen Komplex niedriger rechteckiger Mauern, die im schragen Morgenlicht als dunkle Linien zu erkennen waren. Kramer schatzte, da? die Mauern nur ein paar Zentimeter hoch waren. Aber sie markierten deutlich den Umri? von etwas, das aussah wie eine kleine Stadt. »Und das? Ist das eine andere Stadt?«

»So ungefahr. Das ist das Kloster von Sainte-Mere«, erklarte Marek.

»Eines der wohlhabendsten und machtigsten Kloster Frankreichs. Es wurde im vierzehnten Jahrhundert in Schutt und Asche gelegt.«

»Da wird aber viel gegraben.«

»Ja, das ist unsere wichtigste Grabungsstatte.«

Im Uberfliegen erkannte Diane die gro?en quadratischen Gruben, mit denen sich die Forscher Zugang zu den Katakomben unter dem Kloster verschafften. Sie wu?te, da? sich auf diese das Hauptaugenmerk richtete, weil man hoffte, hier noch weitere Verstecke mit klosterlichen Dokumenten zu finden; eine ganze Reihe hatte man bereits entdeckt. Der Hubschrauber schwenkte wieder und naherte sich den Kalksteinabhangen auf der franzosischen Seite sowie einer kleinen Stadt. Dann stieg er uber den Rand des Steilufers.

»Wir kommen jetzt zur vierten und letzten Grabungsstatte«, sagte Marek. »Die Festung uber der Stadt Bezenac. Im Mittelalter hie? sie La Roque. Obwohl sie auf der franzosischen Seite des Flusses liegt, wurde sie von den Englandern gebaut, die sich damit einen dauerhaften Bruckenkopf auf franzosischem Gebiet sichern wollten. Wie Sie sehen, ist es eine ziemlich ausgedehnte Anlage.«

Das war sie wirklich: ein riesiger militarischer Komplex auf der Anhohe, mit drei Reihen konzentrischer Mauern, die sich uber gut zwanzig Hektar erstreckten. Die Festung von La Roque war in einem besseren Zustand als die anderen Anlagen des Projekts, es gab noch mehr stehende Mauern. Man konnte leichter erkennen, was es einmal gewesen war.

Aber in der Anlage wimmelte es auch von Touristen.

»Sie lassen Touristen hinein?« fragte sie entsetzt.

»Das ist eigentlich nicht unsere Entscheidung«, antwortete Marek. »Wie Sie wissen, ist das eine neue Grabungsstatte, und die franzosische Regierung wollte, da? sie der Offentlichkeit zuganglich gemacht wird.

Aber naturlich schlie?en wir sie wieder, wenn wir mit der Rekonstruktion beginnen.«

»Und wann wird das sein?«

»Oh... irgendwann in zwei bis funf Jahren.«

Sie sagte nichts. Der Hubschrauber kreiste und stieg hoher.

»So«, sagte Marek. »Wir sind am Ende angelangt. Von hier oben haben Sie einen Uberblick uber das gesamte Projekt: die Festung La Roque, das Kloster im Flachland, die Muhle und auf der anderen Flu?seite die Festung Castelgard. Wollen Sie es noch einmal sehen?«

»Nein«, entgegnete Diane Kramer. »Wir konnen zuruckkehren. Ich habe genug gesehen.«

.Edward Johnston, Professor der Geschichte in Yale, verdrehte die Augen, als der Hubschrauber uber ihre Kopfe hinwegdonnerte. Er flog in sudlicher Richtung, nach Domme, wo es einen Landeplatz gab. Johnston sah auf die Uhr und sagte: »La? uns weitermachen, Chris.« »Okay«, erwiderte Chris Hughes. Er wandte sich wieder dem auf ein Stativ montierten Computer zu, steckte den GPS-Empfanger ein und schaltete den Strom ein. »Das Set-up dauert ein wenig.« Christopher Stewart Hughes war einer von Johnstons Doktoranden. Der Professor — alle nannten ihn nur so - hatte insgesamt funf, die bei dem Projekt arbeiteten, sowie zwei Dutzend Studenten, die seine Einfuhrungsvorlesung uber westliche Zivilisation gehort hatten und von ihm fasziniert waren.

Es war leicht, dachte Chris, von Edward Johnston fasziniert zu sein. Obwohl schon gut uber sechzig, war er breitschultrig und fit, er bewegte sich schnell, was einen Eindruck von Tatkraft und Energie vermittelte. Gebraunt, mit dunklen Augen und seiner ironischen Art wirkte er oft eher wie Mephistopheles als wie ein Geschichtsprofessor.

Seine Kleidung allerdings entsprach der eines typischen Collegeprofessors: Sogar hier vor Ort trug er jeden Tag Button-Down-Hemd und Krawatte. Sein einziges Zugestandnis an die Arbeit im Gelande waren Jeans und Wanderstiefel.

Was Johnston bei seinen Studenten so beliebt machte, war die Art, wie er sich um sie kummerte: Einmal pro Woche lud er sie zum Essen zu sich nach Hause ein, er sorgte fur sie, und wenn einer von ihnen Probleme mit dem Studium, dem Geld oder der Familie hatte, war er immer bereit, bei der Losung des Problems zu helfen, ohne sich dabei jedoch aufzudrangen.

Vorsichtig packte Chris den Metallkoffer zu seinen Fu?en aus. Zuerst holte er ein durchsichtiges LCD hervor, das er vertikal in die Halterungen uber dem Computer montierte. Dann startete er den Computer neu, damit der Rechner den Bildschirm identifizieren konnte. »Jetzt dauert's nur noch ein paar Sekunden«, sagte er. »Der GPS- Empfanger kalibriert.« Johnston nickte geduldig und lachelte.

Chris war Doktorand im Bereich Geschichte der Wissenschaft — ein au?erst kontroverses Gebiet, aber er umging geschickt alle Dispute, indem er sich nicht auf moderne Wissenschaft konzentrierte, sondern auf Wissenschaft und Technik des Mittelalters. So war er Experte fur Metallurgie, fur Waffenherstellung, Dreifelder- Frucht-wechsel, der Chemie des Gerbens und fur ein Dutzend andere Techniken der damaligen Zeit geworden. Er hatte beschlossen, seine Doktorarbeit uber die Muhlentechnik des Mittelalters zu schreiben - ein faszinierendes, aber stark vernachlassigtes Gebiet. Und sein besonderes Interesse gehorte naturlich der Muhle von Sainte- Mere.

Johnston wartete gelassen ab.

Chris war Student im zweiten Semester gewesen, als seine Eltern bei einem Autounfall getotet wurden. Chris, ein Einzelkind, war am Boden zerstort; er spielte sogar mit dem Gedanken, das College zu verlassen. Johnston hatte den jungen Studenten fur drei Monate in sein Haus aufgenommen und diente ihm auch noch viele Jahre danach als Vaterersatz, der ihm in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand, von der Abwicklung des elterlichen Nachlasses bis hin zu Problemen mit Freundinnen. Und Probleme mit Freundinnen hatte es eine ganze Menge gegeben.

Nach dem tragischen Verlust seiner Eltern hatte Chris sich mit vielen Frauen eingelassen. Die daraus folgende Kompliziertheit seines Lebens — bose Blicke von verschmahten Geliebten in Seminaren; verzweifelte mitternachtliche Anrufe wegen einer ausgebliebe-nen Periode, wahrend er mit einer anderen im Bett war; heimliche Treffen in Hotelzimmern mit einer Philosophiedozentin, die mit-ten in einer schmutzigen Scheidung steckte — pragte bald seinen Tagesablauf. Unweigerlich wurden seine Noten schlechter, und eines Tages nahm Johnston ihn beiseite und redete ihm mehrere Abende lang gut zu.

Doch Chris wollte nicht horen, und bald darauf tauchte sein Name in dem Scheidungsverfahren auf. Nur die personliche Intervention des Professors verhinderte seine Relegation von Yale. Chris reagierte auf diese plotzliche Krise, indem er sich in seine Studien vergrub; seine Noten wurden schnell besser, und schlie?lich hatte er sein

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