passierte.
Vielleicht war Feuchtigkeit in den Wurfel gedrungen, als sie bei der Muhle im Flu? gewesen war. Oder beim Wasserfall. Die Wurfel sollten zwar wasserdicht sein, aber sie war sehr lange im Wasser gewesen. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein defekter. Sie wurde noch einen zweiten probieren. Einen hatte sie noch. Sie griff eben wieder in den Beutel, als das Tuch in ihrer Hand zu brennen anfing.
»Au!« schrie sie. Ihre Hand brannte. Sie hatte sich diese Aktion nicht sehr gut uberlegt. Aber sie warf den Fetzen nicht weg, sondern bi? die Zahne zusammen und hielt ihn sich uber den Kopf. Sofort sah sie rechts von sich die Fackeln, sie lehnten an der Kahnwand. Sie packte eine, hielt sie an den brennenden Fetzen, und die Fackel fing Feuer. Erst jetzt warf sie den Fetzen in den Flu? und tauchte ihre Hand ins Wasser. Ihre Hand tat hollisch weh. Sie untersuchte sie: Die Haut war gerotet, ansonsten aber schien die Verbrennung nicht so schlimm zu sein. Den Schmerz ignorierte sie einfach; sie wurde sich spater darum kummern. Sie schwang die Fackel. Um sie herum hingen fahlwei?e Stalaktiten in den Flu?. Sie kam sich vor, als wurde sie im halbgeoffneten Maul eines riesigen Fisches zwischen den Zahnen herumfahren. Der Kahn prallte von einem zum andern. »Chris?«
Von weit weg: »Ja.« »Kannst du mein Licht sehen?« »Ja.«
Sie griff mit der freien Hand nach einem Stalaktiten und spurte seine schlupfrige, kalkige Oberflache. Sie schaffte es, den Kahn anzuhalten, aber sie konnte nicht zu Chris zuruckrudern, weil sie die Fackel in die Hohe halten mu?te. »Kannst du hierherkommen?« »Ja.«
Irgendwo in der Dunkelheit horte sie ihn platschen.
Als Chris dann, tropfna?, aber grinsend, wieder im Kahn war, lie? sie den Stalaktiten los, und sofort trieb die Stromung sie wieder vorwarts.
Einige Minuten lang ging es noch durch den Stalaktitenwald, und dann kamen sie wieder in einem gro?en Saal heraus. Die Stromung wurde schneller. Von irgendwo weiter vorne kam ein Tosen. Es klang wie ein
Wasserfall.
Aber dann sah sie etwas, bei dem ihr Herz einen Satz machte. Es war ein gro?er Steinblock am linken Ufer des Flusses. Der Block war an den Kanten von vielen Seilen blankgescheuert. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine Anlegestelle. »Chris...«
»Hab schon gesehen.«
Hinter dem Steinblock entdeckte sie etwas, das aussah wie ein ausgetretener Pfad, aber sie war sich nicht ganz sicher. Chris ruderte ans Ufer, sie vertauten das Boot und stiegen aus. Hier begann wirklich ein Pfad, der zu einem von Menschen aus dem Stein gehauenen Tunnel mit glatten Wanden fuhrte. Sie gingen in den Tunnel hinein. Kate hielt die Fackel vor sich ausgestreckt. Und hielt plotzlich den Atem an. »Chris? Hier ist eine Stufe.« »Was?«
»Eine Stufe. In den Fels gehauen. Ungefahr zwanzig Meter vor uns.« Sie ging schneller. »Eigentlich«, sagte sie und hob die Fackel noch hoher, »ist es mehr als eine Stufe. Es ist eine ganze Treppe.« Im flackernden Licht sahen sie mehr als ein Dutzend Stufen, die ohne Gelander steil nach oben fuhrten und knapp unter einer steinernen Decke endeten — an einer Falltur mit einem eisernen Ring.
Sie gab Chris die Fackel und kletterte die Stufen hoch. Nichts passierte, als sie an dem Ring zog. Sie druckte dagegen und stemmte die Schulter gegen die Falltur.
Schlie?lich schaffte sie es, den Stein ein paar Zentimeter zu heben. Gelbes Licht stach ihr in die Augen, so grell, da? sie sie zusammenkneifen mu?te. Sie horte das Prasseln eines nahen Feuers und lachende Mannerstimmen. Dann konnte sie das Gewicht nicht langer halten, und der Stein senkte sich wieder.
Chris kam hinter ihr die Stufen hoch. »Ohrstopsel einschalten«, sagte er und tippte sich ans Ohr. »Glaubst du wirklich?« »Wir mussen es riskieren.«
Sie tippte sich ans Ohr und horte Knistern. Und dann verstarkt die Atemzuge von Chris, der auf dem schmalen Absatz dicht neben ihr stand.
»Ich gehe als erste«, sagte Kate. Dann zog sie den Marker aus der Tasche und gab ihn Chris. Er runzelte die Stirn, doch sie sagte: »Nur fur alle Falle. Wir wissen ja nicht, was auf der anderen Seite ist.« »Okay.« Chris legte die Fackel ab und stemmte die Schulter gegen die Falltur. Der Stein knirschte und bewegte sich nach oben. Sie kroch durch die Offnung, half ihm dann, die Tur ganz aufzuklappen und leise auf den Boden zu legen. Sie hatten es geschafft. Sie waren in La Roque.
Mit dem Mikrofon in der Hand drehte Robert Doniger sich um. »Fragen Sie sich einmal selbst«, sagte er in das leere, verdunkelte Auditorium. »Was ist am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts der vorherrschende Erlebnismodus? Wie sehen die Menschen Dinge, und wie erwarten sie sie zu sehen? Die Antwort ist einfach. In jedem Bereich, vom Geschaftsleben uber Politik und Werbung bis hin zur Erziehung wurde das Entertainment, die Unterhaltung zum vorherrschenden Erlebnismodus.«
Gegenuber der schmalen Buhne waren in einer Reihe drei gepolsterte Kabinen aufgebaut. In jeder Kabine befand sich ein Tisch und ein Stuhl, ein Notizblock und ein Glas Wasser. Die Kabinen waren nach vorne offen, so da? eine Person in einer Kabine zwar Doniger sehen konnte, nicht aber die anderen Personen in den Nachbarkabinen. Das war die Art, wie Doniger seine Prasentationen inszenierte. Es war ein Trick, den er aus alten psychologischen Studien uber Gruppendruck gelernt hatte. Jeder wu?te, da? in den anderen Kabinen Leute sa?en, aber er konnte sie weder sehen noch horen. Und das ubte auf die Zuhorer einen enormen Druck aus. Denn sie mu?ten sich daruber Gedanken machen, was die anderen tun wurden. Sie mu?ten sich daruber Gedanken machen, ob die anderen investieren wurden oder nicht.
Doniger ging auf der Buhne auf und ab. »Heutzutage erwartet jeder, unterhalten zu werden, und zwar die ganze Zeit unterhalten zu werden. Geschaftliche Konferenzen mussen spritzig inszeniert sein, mit sofort verstandlichen Diagrammen und animierten Grafiken, damit die Manager sich nicht langweilen. Einkaufszentren und
Geschafte mussen fesselnd sein, damit sie uns nicht nur etwas verkaufen, sondern uns auch amusieren. Politiker mussen TV-Charisma besitzen und durfen uns nur erzahlen, was wir horen wollen. Schulen mussen darauf achten, da? sie die jungen Leute, die an das Tempo und die Vielfalt des Fernsehens gewohnt sind, nicht langweilen. Studenten mussen unterhalten werden - alle mussen unterhalten werden, oder sie wechseln: Marken oder Programme, Partys oder Loyalitaten. Das ist die intellektuelle Realitat der westlichen Gesellschaft am Ende unseres Jahrhunderts.
In anderen Jahrhunderten wollten die Menschen errettet oder gelautert, befreit oder erzogen werden. In unserem Jahrhundert wollen sie unterhalten werden. Die gro?e Angst ist nicht die vor Krankheit oder Tod, sondern die vor Langeweile. Vor dem Gefuhl, Zeit zur Verfugung, aber nichts zu tun zu haben. Vor dem Gefuhl, sich nicht zu amusieren. Aber wohin fuhrt diese Unterhaltungsmanie? Was tun die Leute, wenn sie genug haben vom Fernsehen? Wenn sie genug haben vom Kino? Wir kennen die Antwort bereits — sie sturzen sich in partizi- patorische Aktivitaten: Sport, Themenparks, Erlebniszentren, Achterbahnen. Strukturierter Spa?, geplante Kicks. Aber was werden sie tun, wenn sie auch genug haben von Themenparks und geplanten Kicks? Fruher oder spater wird das Kunstliche zu offensichtlich. Dann erkennen die Leute, da? ein Erlebniszentrum eigentlich eine Art Gefangnis ist, fur das man Eintritt zahlen mu?.
Diese Kunstlichkeit wird sie dazu treiben, Authentizitat zu suchen. Authentizitat wird zum Schlagwort des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und was ist authentisch? Alles, was nicht darauf ausgerichtet ist, Profit zu machen. Alles, was nicht von Konzernen kontrolliert wird. Alles, was aus sich selbst heraus existiert und seine eigene Gestalt annimmt. Aber naturlich gibt es in der modernen Welt nichts, was seine eigene Gestalt annehmen
Die Vergangenheit ist unbestreitbar authentisch. Die Vergangenheit ist eine Welt, die bereits vor Disney und Murdoch, Nissan und Sony, IBM und all den anderen Gestaltern unserer Gegenwart existierte. Die Vergangenheit gab es, bevor es sie gab. Die Vergangenheit entwickelte sich ohne ihre Einmischung, ihre Gestaltung und ihre Verkaufsstrategien. Die Vergangenheit ist echt. Sie ist authentisch.