nicht durchtrennt, der Ritter lebte noch und starrte Chris wutend und mit mahlendem Kiefer an. Chris versuchte, das Schwert herauszuziehen, es steckte aber im Hals des Ritters fest. Wahrend er sich abmuhte, hob der Ritter die Hand und packte ihn an der Schulter. Der Ritter war unglaublich stark — damonisch stark —, und er zog ihn zu sich, bis Chris' Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Zahne zerbrochen und faulig. Lause krabbel-ten in seinem Bart zwischen entfarbten Essensresten umher. Er stank nach Verwesung.
Chris ekelte sich. Er spurte seinen hei?en, schlechten Atem. Er schaffte es, dem Ritter einen Fu? aufs Gesicht zu stellen, sich seinem Griff zu entwinden und sich aufzurichten. In diesem Augenblick loste sich auch das Schwert, und er hob es, um noch einmal zuzuschlagen.
Doch der Ritter verdrehte die Augen, sein Unterkiefer klappte herunter.
Er war tot. Sofort umschwirrten Fliegen sein schmutziges, verkrustetes
Gesicht.
Chris lie? sich auf die feuchte Erde fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ekel uberkam ihn wie eine Woge, und er zitterte unkontrolliert. Er schlang die Arme um den Oberkorper. Seine Zahne klapperten.
Kate legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mein Held«, sagte sie. Er horte sie kaum und erwiderte nichts. Nach einer Weile lie? das Zittern nach, und er stand wieder auf. »Ich war sehr froh, dich zu sehen«, sagte sie.
Er nickte und lachelte. »Ich habe den einfacheren Weg hier runter genommen.«
Chris hatte es geschafft, seine Rutschpartie zu stoppen. Viele schwierige Minuten hatte es gedauert, bis er den Hang wieder hochgeklettert war, und dann hatte er den anderen Pfad nach unten genommen. Er erwies sich als bequemer Weg zum Fu? des Wasserfalls, wo er Kate auf dem Richtblock liegen sah.
»Den Rest kennst du«, sagte er. Auf das Schwert gestutzt, schaute er zum Himmel hoch. Es wurde allmahlich dunkel. »Was meinst, du,
wieviel Zeit wir noch haben?«
»Ich wei? es nicht. Vier, funf Stunden.«
»Dann sollten wir langsam anfangen zu suchen.«
Die Decke der grunen Kapelle war an verschiedenen Stellen eingebrochen, der Innenraum ruiniert. Es gab einen kleinen Altar,
gotische Einfassungen um zerbrochene Fenster, Pfutzen brackigen
Wassers auf dem Boden. Es war kaum noch zu erkennen, da? diese
Kapelle fruher ein Juwel gewesen war, mit reichverzierten steinernen
Tursturzen und Spitzbogen. Jetzt tropfte schleimiger Moder von den Mei?elarbeiten, die bis zur Unkenntlichkeit verwittert waren. Eine schwarze Schlange glitt davon, als Chris eine Wendeltreppe hinunter in die Krypta stieg. Kate folgte ihm langsamer. Hier war es dunkler, das einzige Licht fiel durch Ritzen im Boden der Kapelle. Unaufhorlich tropfte Wasser. In der Mitte des Raums erkannten sie einen einzelnen, intakten Sarkophag aus schwarzem Stein und die zerbrochenen Uberreste von einigen anderen. Den Deckel des intakten Sarkophags zierte ein in Stein gemei?elter Ritter. Kate sah sich das Gesicht des Ritters an, aber der Stein war wegen der allgegenwartigen Feuchtigkeit verwittert und die Zuge nicht mehr zu erkennen. »Wie lautete gleich wieder der Schlussel?« fragte Chris. »Irgendwas mit den Fu?en des Riesen?«
»Genau, soundso viele Schritte von den Fu?en des Riesen entfernt. Oder von den riesigen Fu?en.«
»Von den Fu?en des Riesen«, wiederholte Chris. Er deutete auf den Sarkophag, wo die Fu?e des Ritters als zwei runde Stumpen in die Hohe ragten. »Glaubst du, da? diese Fu?e gemeint sind?« Kate runzelte die Stirn. »Nicht gerade riesig.« »Nein...«
»La? es uns trotzdem mal probieren«, sagte sie, stellte sich an das Fu?ende des Sarkophags, wandte sich nach rechts und ging funf Schritte. Dann drehte sie sich nach links, ging vier Schritte, dann wieder nach rechts, stand aber bereits nach drei Schritten an der Wand. »Ich schatze, das war's nicht.«
Nun machten sie sich beide ernsthaft auf die Suche. Und Kate machte fast augenblicklich eine ermutigende Entdeckung: ein halbes Dutzend Fackeln, aneinandergelehnt in einer Ecke, wo sie trocken blieben. Die Fackeln waren zwar primitiv, aber sie erfullten ihren Zweck. »Der Eingang mu? hier irgendwo sein«, sagte sie. »Er mu? es einfach.« Chris antwortete nicht. Eine halbe Stunde suchten sie schweigend, wischten Moder von Wand und Boden, betrachteten verwit-terte Mei?elarbeiten und versuchten zu entscheiden, ob die eine oder die andere die Fu?e eines Riesen darstellte.
Schlie?lich fragte Chris: »Hie? es in dem Ding eigentlich, da? sie in der Kapelle sind oder da? sie an der Kapelle sind?« »Ich wei? es nicht«, sagte Kate. »Andre hat es mir vorgelesen. Er hat den Text ubersetzt.«
»Vielleicht sollten wir ja drau?en suchen.« »Die Fackeln waren hier drinnen.« »Stimmt.«
Chris drehte sich frustriert um und suchte weiter.
»Wenn Marcel einen Schlussel konstruierte, der von einem
Orientierungspunkt ausging«, sagte Kate, »dann hatte er nie einen Sarg oder einen Sarkophag benutzt, weil man so was bewegen kann. Er hatte irgendwas Unverruckbares benutzt. Etwas an den Wanden.«
»Oder auf dem Boden.«
»Ja, oder auf dem Boden.«
Sie stand an der hinteren Wand, in die kleine Nischen eingelassen waren. Zuerst dachte sie, es waren kleine Altare, aber sie waren zu klein, und dann entdeckte sie Wachsreste. Offensichtlich dienten diese Nischen zur Aufnahme von Kerzen. Eine ganze Reihe dieser Nischen lief rund um die Wande der Krypta. Das Innere der Nische direkt vor Kate war wunderschon verziert mit der symmetrischen Abbildung von Vogelflugeln, die an den Seitenwanden emporwuchsen. Und die Mei?elarbeit sah unversehrt aus, vielleicht weil die Hitze der Kerzen die Moderbildung verhindert hatte. Symmetrisch, dachte sie.
Aufgeregt ging sie zur nachsten Kerzennische. Hier waren zwei Ranken mit Blattern dargestellt. Sie ging die Wande ab und untersuchte jede Nische.
Keine zeigte Fu?e.
Chris scharrte mit seiner Sohle in weitem Bogen uber den Boden und wischte den Moder vom darunterliegenden Stein weg. Er murmelte: »Gro?e Fu?e, gro?e Fu?e.«
Sie schaute zu ihm hinuber und sagte: »Ich komme mir echt blod vor.« »Warum?«
Sie deutete auf die Tur, durch die sie in die Krypta gekommen waren. Der Turstock war fruher reich verziert gewesen, jetzt aber verwittert. Doch auch jetzt war noch zu erkennen, was ursprunglich dargestellt gewesen war. Auf beiden Schenkeln des Turstocks waren klumpenartige Formen ausgemei?elt. Genau funf, der gro?te am oberen Rand, der kleinste unten. Der gro?te Klumpen hatte eine Abflachung auf einer Seite, so da? kein Zweifel bestand, was diese Formen darstellen sollten.
Funf Zehen auf jeder Seite der Tur.
»O Gott«, sagte Chris. »Es ist die ganze verdammte Tur.«
Kate nickte. »Die Fu?e eines Riesen.«
»Warum hat man so was gemacht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Manchmal wurden an Ein- und Ausgangen absto?ende oder damonische Abbildungen angebracht. Um die Flucht oder die Vertreibung von bosen Geistern zu symbolisieren.«
Sie gingen schnell zur Tur, und dann zahlte Kate funf Schritte ab, dann vier und schlie?lich neun. Jetzt stand sie vor einem in die Wand eingelassenen rostigen Eisenring. Sie waren beide aufgeregt uber diese
Entdeckung, aber als sie an dem Ring zog, zerbrach er in ihren Handen zu rotlichen Fragmenten.
»Anscheinend haben wir was falsch gemacht.«
»Zahl die Schritte noch einmal ab.«
Sie kehrte zuruck und versuchte es mit kleineren Schritten. Rechts, links, wieder rechts. Jetzt stand sie vor einem anderen Abschnitt der Wand. Aber hier war uberhaupt nichts zu sehen, nur roher Stein. »Ich wei? nicht, Chris«, sagte sie. »Irgendwas machen wir falsch. Aber ich wei? nicht, was.« Entmutigt streckte sie die Hand aus und stutzte sich gegen die Wand.
»Vielleicht sind die Schritte noch immer zu gro?«, sagte Chris. »Oder zu klein.«
Chris ging zu ihr und lehnte sich neben ihr an die Wand. »Na komm, wir finden das schon raus.«
»Meinst du?«
»Ja, das schaffen wir.«
Sie losten sich von der Wand und wollten eben zur Tur zuruckkehren, als sie plotzlich hinter sich ein leises Rumpeln horten. Genau an der Stelle, wo sie eben gestanden hatten, war ein gro?er Stein im Boden weggeglitten.