Sie versuchte, an den Asten in Richtung Stamm zu klettern, aber ihre Hande waren glitschig vom Schlamm. Immer wieder rutschte sie ab, und schlie?lich kippte sie auf dem Ast langsam nach unten. Wie ein Faultier hing sie mit Handen und Beinen an dem Baum-arm und versuchte, sich daran entlangzuhangeln. Nach eineinhalb Metern merkte sie, da? sie es nicht schaffen wurde. Sie fiel.

Und prallte auf einen weiteren Ast, einen guten Meter tiefer. Einen

Augenblick hing sie so, griff mit glitschigen, schlammigen Handen nach dem Ast. Dann fiel sie wieder und hing im nachsten Ast.

Jetzt war sie nur noch einen guten Meter uber dem Wasserfall, der brausend und spritzend in die Tiefe sturzte. Die Aste des Baums waren feucht von der Gischt. Sie schaute nach unten zu dem brodelnden

Becken am Fu? des Wasserfalls. Doch sie konnte den Grund nicht sehen, wu?te folglich nicht, wie tief das Becken war.

Wahrend Kate so an diesem gefahrlich schwankenden Ast hing, dachte sie nach. Wo zum Teufel ist Chris? Im nachsten Augenblick verlor sie den Halt und sturzte in die Tiefe.

Das Wasser war ein eisiger Schock, ein blubberndes, milchiges Brodeln. Sie wurde herumgewirbelt, strampelte orientierungslos, schlug gegen die Felsen am Grund. Schlie?lich tauchte sie unter dem Wasserfall auf, der mit unglaublicher Gewalt auf ihren Kopf prasselte. Sie konnte nicht atmen, und so tauchte sie wieder, schwamm ein Stuck und kam ein paar Meter weiter vorne wieder an die Oberflache. Das Wasser im Becken war ruhiger, aber noch immer eiskalt. Kate stieg heraus und setzte sich ans Ufer. Das aufgewuhlte Wasser hatte ihr allen Schlamm aus den Kleidern und vom Korper ge-spult. Sie fuhlte sich irgendwie neu - und sehr glucklich, am Leben zu sein.

Wahrend sie langsam wieder zu Atem kam, sah sie sich um. Sie befand sich in einem schmalen Tal, und das nachmittagliche Sonnenlicht fiel durch den Gischtschleier des Wasserfalls. Das Tal war uppig und feucht. Das Gras war na?, Baume und Felsen waren mit Moos bedeckt. Direkt vor sich sah sie einen Steinpfad, der zu einer kleinen Kapelle fuhrte.

Auch die Kapelle war na?, alle Oberflachen waren mit einem schleimigen Moder bedeckt, der die Mauern uberzog und vom Dachrand tropfte. Der Moder war leuchtend grun. Die grune Kapelle.

Neben der Tur zur Kapelle lagen in unordentlichen Haufen kaputte Rustungen, verrostete Brustpanzer und verbeulte Helme, und auch Schwerter und Axte lagen willkurlich in der Umgebung verstreut. Kate suchte nach Chris, sah ihn aber nirgends. Offensichtlich war er nicht die ganze Strecke gefallen wie sie. Wahrscheinlich suchte er sich gerade einen anderen Weg in dieses Tal. Kate beschlo?, auf ihn zu warten; zuvor war sie sehr froh gewesen, ihn zu sehen, und jetzt vermi?te sie ihn. Aber sie sah ihn nirgends. Und abgesehen vom Rauschen des Wasserfalls horte sie kein Gerausch in dem kleinen Tal, nicht einmal Vogelgezwitscher. Es war unheimlich still. Trotzdem hatte sie das Gefuhl, nicht allein zu sein. Noch etwas anderes war hier - sie spurte eine Prasenz in diesem Tal. Ein Knurren kam aus dem Inneren der Kapelle, ein gutturales, animalisches Gerausch.

Sie stand auf und ging vorsichtig den Steinpfad hoch zu den Waffen. Sie hob ein Schwert auf und umklammerte den Griff mit beiden Handen, auch wenn sie sich blod dabei vorkam, denn das Schwert war schwer, und sie wu?te, da? sie weder die Kraft noch das Konnen hatte, es zu benutzen. Sie stand jetzt dicht vor der Tur der Kapelle und roch einen starken Verwesungsgestank, der aus dem Inneren kam. Wieder horte sie das Knurren.

Wie durch Zauber stand plotzlich ein Ritter in voller Rustung in der Tur. Er war ein Riese, uber zwei Meter gro?, und seine Rustung war beschmiert mit grunem Moder. Auf dem Kopf trug er einen schweren Helm, so da? sie sein Gesicht nicht sehen konnte, und in den Handen eine machtige, zweischneidige Axt, die aussah wie ein Henkersbeil.

Die Axt schwang hin und her, als der Ritter auf sie zukam. Instinktiv wich sie zuruck, lie? jedoch die Axt nicht aus den Augen. Ihr erster Gedanke war davonzulaufen, aber er war so schnell aufgetaucht, da? sie befurchtete, er konnte sie einholen. Au?erdem wollte sie ihm nicht den Rucken zukehren. Aber angreifen konnte sie ihn auch nicht, es kam ihr vor, als ware er doppelt so gro? wie sie. Er sagte kein Wort, aus dem Helm kamen nur Grunzen und Knurren — animalische Gerausche, irre Gerausche. Er mu? wahnsinnig sein, dachte sie. Der Ritter kam schnell naher, was sie zum Handeln zwang. Sie schwang das Schwert mit aller Kraft, er hob die Axt, um den Schlag abzuwehren, und Metall klirrte auf Metall. Ihr Schwert vibrierte so stark, da? es ihr beinahe entglitten ware. Wieder holte sie aus, und diesmal zielte sie tief, um seine Beine zu treffen, doch er parierte behende, und eine schnelle Drehung seiner Axt ri? ihr das Schwert aus den Handen. Es landete weit weg im Gras.

Sie drehte sich um und rannte los. Mit einem Knurren setzte er ihr nach und packte sie bei den kurzen Haaren. Sie schrie, doch er zerrte sie um die Ecke der Kapelle. Ihre Kopfhaut brannte, und vor sich sah sie nun einen runden Holzklotz auf der Erde stehen, der die Spuren vieler kraftiger Hiebe zeigte. Sie wu?te, was es war: ein Richtblock. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Der Ritter stie? sie grob zu Boden und druckte ihren Hals auf den Klotz. Dann stellte er ihr einen Fu? auf den Rucken, um sie in Position zu halten. Hilflos ruderte sie mit den Armen.

Wahrend er seine Axt hob, sah sie einen Schatten uber das Gras huschen.

Das Telefon klingelte beharrlich und laut. David Stern gahnte, schaltete die Nachttischlampe ein und nahm den Horer ab. »Hallo«, sagte er mit schlaftrunkener Stimme.

»David, John Gordon hier. Sie sollten besser in den Transitraum kommen.«

Stern suchte nach seiner Brille und sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr zwanzig. Er hatte drei Stunden geschlafen.

»Wir mussen eine Entscheidung fallen«, sagte Gordon. »Ich hole Sie in funf Minuten ab.«

»Okay«, sagte Stern und legte auf. Er stand auf und offnete das Rollo vor dem Fenster. Die Sonne schien so grell herein, da? er die Augen schlie?en mu?te. Er ging ins Bad, um sich zu duschen. Er befand sich in einem der Zimmer, die ITC in ihrem Laborgebaude fur Forscher bereithielt, die uber Nacht arbeiten mu?ten. Es war ausgestattet wie ein Hotelzimmer, bis hin zu den Flaschchen mit Shampoo und Feuchtigkeitscreme neben dem Waschbecken. Stern rasierte sich, zog sich an und trat dann in den Gang. Gordon sah er nirgends, aber vom anderen Ende des Korridors horte er Stimmen. Wahrend er darauf zuging, schaute er durch die Glasturen in die verschiedenen Labore. Sie waren um diese Zeit alle verlassen. Aber am Ende des Gangs fand er ein Labor, dessen Tur offenstand. Ein Arbeiter ma? mit einem gelben Band Breite und Hohe der Tur ab. Drinnen standen vier Techniker um einen gro?en Tisch. Auf dem Tisch stand ein gro?es Modell aus hellem Holz, das die Festung von La Roque und die Umgebung darstellte. Die Manner unterhielten sich leise miteinander, und einer hob prufend eine

Ecke des Tisches an. Sie schienen sich zu uberlegen, wie sie das Modell aus dem Raum bekommen sollten.

»Doniger sagt, er braucht es unbedingt«, sagte der Techniker, »als Ausstellungsstuck fur seine Prasentation.«

»Ich wei? nicht, wie wir das hier rauskriegen sollen«, sagte ein anderer. »Wie haben sie es denn hereingebracht?« »Es wurde hier gebaut.«

»Es geht ganz knapp«, sagte der Mann an der Tur und lie? das Ma?band in sein Gehause zuruckschnellen.

Neugierig betrat Stern den Raum und sah sich das Modell genauer an. Es war eine sofort wiedererkennbare und prazise Darstellung der Burg in der Mitte eines viel gro?eren Komplexes. Die Burg war umgeben von einem Ring aus Baumen und Strauchern, und au?erhalb dieses Rings waren ein Komplex niedriger Hauser und ein Netz von Stra?en zu sehen. Doch nichts davon hatte je existiert. Im Mittelalter hatte die Burg allein auf einer Ebene gestanden. Stern fragte: »Was fur ein Modell ist das?« »La Roque«, antwortete ein Techniker. »Aber dieses Modell ist nicht exakt.«

»O doch«, sagte der Techniker. »Es ist hundertprozentig exakt. Zumindest nach den letzten Bauzeichnungen, die wir bekommen haben.« »Was fur Bauzeichnungen?« fragte Stern.

Auf diese Frage hin verstummten die Techniker und machten besorgte Gesichter. Jetzt sah Stern, da? es auch noch andere Modelle gab: von Castelgard und vom Kloster Sainte-Mere. An der Wand entdeckte er gro?e Zeichnungen und Plane. Wie in einem Architekturburo, dachte er. In diesem Augenblick streckte Gordon den Kopf durch die Tur: »David? Gehen wir.«

Er ging mit Gordon den Korridor entlang. Als er sich umdrehte, sah er, da? die Techniker das Modell hochkant gedreht hatten und es so durch die Tur trugen.

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