wahlerisch im Toten sind, die Franzosen dagegen schon. Die Franzosen zeigen die Barmherzigkeit, die aus Klugheit und Bildung herruhrt.«
»So ist es«, sagte er. »Es ist wahr, da? die Franzosen zivilisierte
Manner sind. Und wenn diese beiden nichts von Bruder Marcel und dem Geheimgang wissen, dann habe ich keine weitere Verwendung fur sie. Und deshalb sage ich, gebt ihnen Pferde und Verpflegung und schickt sie ihres Wegs. Es ist mein Wunsch, mich des Wohlwollens Eures Magisters Edwardus zu versichern, und deshalb empfehle ich mich ihm und wunsche Euch Gottes Gnade, damit Ihr wohlbehalten zu ihm zuruckkehren mogt. Ihr konnt gehen.« Lady Claire verbeugte sich. Chris und Kate verbeugten sich.
Der gutaussehende Ritter durchschnitt Chris' Fesseln und fuhrte sie nach drau?en. Chris und Kate waren so verblufft uber diese Wendung der
Dinge, da? sie kein Wort sagten, wahrend er sie zum Flu? zuruckbrachte. Chris war zittrig und benommen. Kate rieb sich immer wieder ubers Gesicht, als wollte sie wach werden.
Schlie?lich sagte der Ritter: »Ihr verdankt Euer Leben einer sehr klugen
Lady.«
Chris sagte:
Die Szene am Flu? war vollig verandert. Arnauts Manner hatten die Muhlenbrucke eingenommen, das grun-schwarze Banner flatterte auf den Turmen. Beide Ufer des Flusses waren jetzt von Arnauts Berittenen besetzt. Und ein Strom aus Mannern und Material zog, machtige Staubfahnen aufwirbelnd, auf La Roque zu. Man sah Manner mit vollbeladenen Pferdefuhrwerken, Karren mit schwatzenden Frauen, zerlumpte Kinder und weitere Fuhrwerke, die mit machtigen Holzbalken beladen waren — riesige, jetzt noch zerlegte Katapulte, mit denen man Steine und brennendes Pech uber die Burgmauern schleudern konnte.
Der Ritter hatte zwei Pferde fur sie gefunden - zwei zottige Schindmahren, die noch die Spuren des Jochs trugen. Mit den Tieren am Zugel fuhrte er sie durch den Kontrollpunkt. Ein plotzlicher Tumult auf dem Flu? zog Chris'Aufmerksamkeit auf sich. Er sah ein Dutzend Manner, die knietief im Wasser standen und sich mit einer gu?eisernen Hinterladerkanone abmuhten.
Ein Holzblock diente als Lafette. Chris schaute ihnen fasziniert zu. So fruhe Kanonen waren nicht erhalten, es gab nicht einmal Beschreibungen davon.
Jeder wu?te, da? zu dieser Zeit schon primitive Artillerie verwendet worden war, auf dem Schlachtfeld von Poitiers hatten Archaologen Kanonenkugeln ausgegraben. Aber die Historiker waren der Ansicht, da? Kanonen zu der Zeit sehr selten waren und vorwiegend zur Demonstration von Starke dienten - eine Frage des Prestiges. Doch als Chris jetzt zusah, wie die Manner im Flu? sich abmuhten, den Zylinder wieder auf seinen Karren zu stemmen, wurde ihm klar, da? man um ein rein symbolisches Gerat nie so viel Aufhebens machen wurde. Die Kanone war schwer; sie verlangsamte das Fortkommen der gesamten Armee, die sicherlich die Mauern von La Roque noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollte; wenn die Kanone nur ein Symbol war, gab es keinen Grund, warum man sie nicht spater nachbringen konnte. Eine solche Anstrengung konnte nur bedeuten, da? die Kanone eine wichtige Rolle beim Angriff spielte.
Aber auf welche Weise? fragte sich Chris. Die Mauern von La Roque waren uber drei Meter dick. Eine Kanonenkugel konnte sie nicht durchdringen.
Der gutaussehende Ritter gru?te knapp und sagte: »Gott gewahre Euch Barmherzigkeit und Sicherheit.«
»Gott segne Euch und gewahre Euch Wohlstand«, erwiderte Chris. Der Ritter gab ihren Pferden einen Klaps aufs Hinterteil, und sie ritten in Richtung La Roque davon.
Unterwegs erzahlte Kate ihm, was sie in Marcels Zimmer entdeckt hatten, und von der grunen Kapelle.
»Wei?t du, wo die Kapelle ist?« fragte Chris.
»Ja, ich habe sie auf einem der Lageplane gesehen. Sie liegt ungefahr achthundert Meter nordostlich von La Roque. Es gibt einen Pfad durch den Wald, der zu ihr fuhrt.«
Chris seufzte. »Jetzt wissen wir also, wo der Geheimgang ist«, sagte er, »aber Andre hatte den Marker, und jetzt ist er tot, was bedeutet, da? wir von hier sowieso nicht mehr wegkommen.« »Nein«, sagte sie. »Ich habe die Keramik.« »Du?«
»Andre hat sie mir gegeben, auf der Brucke. Ich glaube, er wu?te, da? er dort nicht mehr lebend herauskommen wurde. Er hatte fluchten und sich retten konnen. Aber das tat er nicht. Er ist geblieben und hat statt dessen mich gerettet.« Sie fing leise an zu weinen.
Chris ritt schweigend weiter. Er erinnerte sich daran, wie Mareks Versessenheit die anderen Doktoranden amusiert hatte — »Kannst du dir das vorstellen? Er glaubt an diesen Ritterlichkeitsschei?!« — und da? sie sein Verhalten als eine Art kurioser Angeberei betrachtet hatten. Eine Rolle, die er spielte, ein affektierter Spleen. Denn im spaten zwanzigsten Jahrhundert konnte man von Leuten nicht ernsthaft verlangen zu glauben, da? es einem wirklich ernst war mit Ehre und Wahrheit, der Reinheit des Korpers, dem Schutz der Frauen, der Heiligkeit wahrer Minne und mit dem ganzen Rest. Doch offensichtlich hatte Andre das alles wirklich ernstgemeint. Sie ritten durch eine Alptraumlandschaft. Die Sonne war hinter den Rauch- und Staubschwaden nur eine schwache, blasse Scheibe. Hier und dort gab es Weingarten, aber die Reben waren alle verbrannt, nur noch knotige, gespenstische Stumpfe, von denen Rauch aufstieg. Auch die Obstgarten bestanden nur noch aus schwarzen, tristen Baumskeletten. Alles war verkohlt.
Uberall horten sie die erbarmlichen Schreie verwundeter Soldaten. Viele der sich zuruckziehenden Soldaten waren einfach neben die Stra?e gesturzt. Einige atmeten noch, andere hatten bereits die grauen Gesichter des Todes.
Chris hatte angehalten, um einem Toten die Waffen abzunehmen, als ein Verwundeter in der Nahe die Hand hob und klaglich um Hilfe rief:
In der Ferne sahen sie La Roque, das hoch aufragend und uneinnehmbar auf seinem Felsen uber der Dordogne stand. In weniger als einer Stunde wurden sie die Festung erreichen.
In einem dunklen Winkel der Kirche von Sainte-Mere half der gutaussehende Ritter Andre Marek auf die Beine. »Eure Freunde sind aufgebrochen«, sagte er.
Marek hustete und klammerte sich an den Arm des Ritters, als ein heftiger Schmerz ihm ins Bein scho?. Der gutaussehende Ritter lachelte. Er hatte Marek gleich nach der Explosion der Muhle gefangengenommen.
Als Marek aus dem Muhlenfenster geklettert war, hatte er das gro?e Gluck gehabt, in ein Becken zu fallen, das so tief war, da? er sich nicht verletzte. Und als er wieder an die Oberflache kam, sah er, da? er sich noch immer unter der Brucke befand. Das Becken produzierte einen Strudel, so da? die Stromung ihn nicht hatte davontragen konnen. Marek hatte seine Monchskutte ausgezogen und in den Flu? geworfen, als die Muhle explodierte und Holzteile und Menschenleiber durch die Luft flogen. Ein Soldat klatschte neben ihm ins Wasser, seine Leiche drehte sich in dem Strudel. Marek arbeitete sich zum Ufer vor - und als er dort ankam, hielt ihm ein gutaussehender Ritter seine Schwertspitze an die Kehle und bedeutete ihm, er solle aus dem Wasser steigen. Marek trug noch das Kastanienbraun und Grau Olivers, und er fing an, auf provenzalisch zu stammeln, seine Unschuld zu beteuern und um Gnade zu flehen.
Der Ritter sagte nur: »Schweigt. Ich habe Euch gesehen.« Er hatte beobachtet, wie Marek aus dem Fenster kletterte und seine Monchskutte wegwarf. Er brachte Marek in die Kirche, wo er Claire und Arnaut vorfand. Der Erzpriester war in einer murrischen und gefahrlichen Stimmung, aber Claire schien Emflu? auf ihn zu haben, wenn auch nur durch Widerspruch. Claire war es auch gewesen, die Marek befohlen hatte, still im Schatten zu blei-ben, als Chris und Kate hereinkamen. »Wenn Arnaut Zwietracht zwischen Euch und Eure Freunde saen kann, so kann es sein, da? er sowohl Euch als auch sie verschont. Doch wenn Ihr zu dritt vereint gegen ihn auftretet, wird er im Zorn Euch alle toten.« Und Claire hatte mit ihrer Taktik recht behalten. Alles war einigerma?en gut ausgegangen. Bis jetzt.
Nun beaugte Arnaut ihn argwohnisch. »Eure Freunde wissen also, wo der Geheimgang sich befindet?« »Ja«,