spaten Abend. Sie fuhlte sich beklommen und eingesperrt. Nach zwanzig Minuten kam sie erleichtert aufatmend zu einer sonnenbeschienenen Lichtung mit hohem Gras. Auf der gegenuberliegenden Seite erkannte sie eine Lucke in den Baumen, dort fuhrte der Pfad also weiter. Sie ritt eben uber die Lichtung, als sie links von sich eine Burg bemerkte. Sie konnte sich nicht erinnern, dieses Gebaude je auf einer ihrer Karten gesehen zu haben, dennoch stand es hier. Es war nur eine kleine Burg - eher ein Landhaus - und wei? getuncht, so da? es hell im Sonnenschein leuchtete. Es hatte vier Turmchen und ein blaues Schieferdach. Auf den ersten Blick wirkte es frohlich, doch dann sah sie, da? alle Fenster vernagelt waren; im Schieferdach klaffte ein Loch und die Nebengebaude waren nur noch Ruinen. Diese Lichtung war einst eine gemahte Wiese vor der Burg gewesen, doch jetzt regierte der Wildwuchs. Ein Gefuhl von Stillstand und Verfall beschlich sie. Sie schauderte und spornte ihr Pferd an. Plotzlich fiel ihr auf, da? das Gras vor ihr erst vor kurzem niedergetrampelt worden war -von den Hufen eines Pferdes, das in dieselbe Richtung ging wie sie. Die langen Halme richteten sich langsam wieder auf.

Jemand war erst vor kurzem hier gewesen. Vielleicht erst vor ein paar Minuten. Vorsichtig bewegte sie sich zum anderen Ende der Lichtung. Dunkelheit schlo? sich erneut um sie, als sie wieder in den Wald hineinritt. Der Pfad wurde schlammig, und sie konnte deutlich Hufspuren erkennen.

Immer wieder hielt sie an und horchte. Aber von vorne kam uberhaupt kein Gerausch. Entweder war der Reiter weit vor ihr, oder er war sehr leise. Ein- oder zweimal glaubte sie, die Gerausche eines Pferds zu horen, aber sie war sich nicht sicher. Wahrscheinlich bildete sie es sich nur ein.

So ritt sie weiter auf die grune Kapelle zu. Oder, wie sie in ihren Karten genannt wurde, auf la chapelle verte morte zu. Auf die Kapelle des grunen Todes.

Nach einer Weile stie? sie im dunklen Wald auf eine Gestalt, die erschopft an einem umgesturzten Baum lehnte. Es war ein verschrumpelter alter Mann mit einer Kapuze auf dem Kopf und einer Holzfalleraxt in der Hand. Als sie vorbeiritt, sagte er: »Ich flehe Euch an, guter Herr, ich flehe Euch an.« Seine Stimme war dunn und rochelnd. »Bitte gebt mir einen kleinen Bissen, denn ich bin arm und habe nichts zu essen.«

Kate glaubte zwar nicht, da? sie Proviant bei sich hatte, doch dann erinnerte sie sich, da? der Ritter ihr ein kleines Bundel hinten an den Sattel gebunden hatte. Sie griff hinein, fand einen Ranken Brot und ein Stuck getrocknetes Rindfleisch. Es sah nicht sehr appetitlich aus, vor allem, da es inzwischen stark nach Pferdeschwei? roch. Sie hielt ihm das Essen hin.

Der Mann richtete sich gierig auf und streckte eine knochige

Hand nach dem Essen aus - doch plotzlich packte er mit erstaunlicher Kraft ihr Handgelenk und versuchte, sie mit einem schnellen Ruck vom Pferd zu ziehen. Dabei kicherte er vor Vergnugen, ein absto?endes Gerausch. Wahrend er so mit ihr kampfte, rutschte ihm die Kapuze vom Kopf, und sie sah, da? er junger war, als sie gedacht hatte. Jetzt kamen drei andere Manner aus dem Schatten zu beiden Seiten des Pfads gelaufen, und sie erkannte, da? es godins waren, rauberische Bauern. Kate sa? noch im Sattel, aber lange wurde sie es nicht mehr aushalten. Sie trat ihrem Pferd in die Flanken, aber es war offenbar mude und reagierte nicht. Der altere Mann zerrte weiter an ihrem Arm und murmelte dabei die ganze Zeit: »Torichter Junge! Du dummer Junge!« Kate fiel nichts anderes mehr ein, als um Hilfe zu rufen, sie schrie so laut sie konnte, und das schien die Manner zu erschrecken, denn sie hielten einen Augenblick inne, bevor sie weiter auf sie eindrangen. Plotzlich das Donnern eines galoppierenden Pferdes und der Schlachtruf eines Kriegers, und die godins sahen einander an und liefen davon. Alle bis auf den alteren, der Kates Hand nicht loslassen wollte und sie jetzt mit der Axt bedrohte, die er mit seiner freien Hand schwang.

In diesem Augenblick kam - gleich einer Erscheinung - ein blutroter Ritter auf dem Pfad herangesturmt, auf einem schnaubenden, schlammbespritzten Pferd, und der Ritter selbst so grimmig und blutig, da? auch dieser letzte Mann um sein Leben rannte und in der Dunkelheit des Waldes verschwand.

Chris zog die Zugel an und umkreiste sie. Sie spurte eine riesige Erleichterung in sich aufsteigen, denn sie hatte gro?e Angst gehabt. Chris lachelte, er war ganz offensichtlich sehr zufrieden mit sich. »Seid Ihr wohlauf, Ma'am?« fragte er.

»Bist du es?« fragte Kate erstaunt. Chris war buchstablich mit Blut getrankt; es war auf seinem Gesicht und seinem Korper festgetrocknet, und wenn er lachelte, brach die Kruste an seinen Mundwinkeln auf und zeigte die rosige Haut darunter. Er sah aus, als ware er in ein Fa? mit roter Farbe gefallen.

»Mir geht's gut«, sagte Chris. »Irgend jemand hat mit seinem Schwert das Pferd neben mir getroffen und eine Arterie oder sonst was aufgeschlitzt. Ich war sofort pitschna?. Blut ist wirklich hei?, hast du das gewu?t?«

Kate starrte ihn immer noch an, sie staunte, da? jemand, der so aussah wie er, noch Witze rei?en konnte, doch er nahm ihre Zugel und fuhrte sie schnell davon. »Ich glaube«, sagte er, »wir sollten nicht warten, bis sie sich neu formieren. Hat deine Mutter dir denn nicht gesagt, da? du nicht mit Fremden reden darfst, Kate? Vor allem nicht im Wald?« »Eigentlich habe ich immer geglaubt, man mu? ihnen was zu essen geben, und dann helfen sie einem.«

»Nur in Marchen«, sagte er. »In der wirklichen Welt bleibst du nicht stehen, um einem armen Mann im Wald zu helfen, weil er und seine Freunde dir sonst das Pferd stehlen und dich umbringen. Deshalb tut es niemand.«

Chris grinste immer noch, er wirkte so selbstsicher und vergnugt, und ihr wurde zum ersten Mal bewu?t, da? er eigentlich ein ziemlich attraktiver Mann war, ein Mann mit einem gewissen, ganz eigenen Reiz. Aber naturlich hat er mir auch das Leben gerettet, dachte sie. Ich bin einfach dankbar.

»Was treibst du hier uberhaupt?« fragte sie.

Er lachte. »Dich einholen. Ich dachte, du bist ein ganzes Stuck vor mir.«

Der Pfad teilte sich. Rechts ging ein breiterer ab, der sanft nach unten zu fuhren schien. Der linke war viel schmaler und verlief eben. Aber er schien auch viel weniger benutzt zu sein. »Was meinst du?« fragte Kate.

»Bleiben wir auf der Hauptstra?e«, erwiderte Chris. Er ritt voraus, und Kate folgte ihm gerne. Der Wald um sie herum wurde uppiger, die Farne, die ein wenig aussahen wie riesige Elefantenohren, wuchsen beinahe zwei Meter hoch und nahmen ihnen die Sicht. In der Entfernung horte sie das Brausen von Wasser. Das Gelande neigte sich nun starker, und wegen der Farne konnte sie nicht sehen, wohin ihr Pferd trat. Sie stiegen beide ab und banden ihre Pferde an einen Baum. Dann gingen sie zu Fu? weiter.

Der Abhang wurde sehr steil, der Pfad war die reinste Schlammbahn. Chris rutschte aus und griff nach Asten und Buschwerk, um seinen Sturz zu bremsen. Kate sah zu, wie er immer weiter rutschte, und plotzlich war er, mit einem Aufschrei, verschwunden. Sie wartete. »Chris?« Keine Antwort.

Sie tippte sich an ihren Ohrstopsel. »Chris?« Nichts.

Sie wu?te nicht recht, was sie tun sollte, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Schlie?lich beschlo? sie, ihm zu folgen, aber vorsichtig, da sie jetzt wu?te, wie glitschig der Pfad war. Doch schon nach wenigen behutsamen Schritten rutschten die Fu?e unter ihr weg, und sie schlitterte hilflos durch den Schlamm. Immer wieder knallte sie gegen Baume, mit einer Wucht, da? ihr die Luft wegblieb. Das Gelande wurde immer steiler. Sie fiel ruckwarts in den Schlamm und rutschte auf dem Hintern weiter in die Tiefe. Mit den Fu?en versuchte sie sich von den Baumen abzusto?en, die ihr entgegensausten. Aste zerkratzten ihr das Gesicht und rissen ihr die Hande auf, wenn sie versuchte, sich daran festzuhalten. Sie schien ihren Absturz nicht bremsen zu konnen.

Und das Gelande wurde noch steiler. Der Baumbestand vor ihr lichtete sich, sie sah jetzt Licht zwischen den Stammen und horte das Rauschen von Wasser. Sie rutschte einen Pfad hinunter, der parallel zu einem kleinen Bach verlief. Der Wald wurde immer lichter, und dann sah sie, da? er etwa zwanzig Meter vor ihr abrupt endete. Das Wasserrauschen wurde lauter.

Plotzlich wu?te sie, warum der Wald so plotzlich aufhorte.

Es war der Rand einer Felswand.

Und dahinter war ein Wasserfall. Direkt vor ihr.

Entsetzt drehte Kate sich auf den Bauch und grub ihre Finger wie

Klauen in den Schlamm, aber es half nichts. Sie rutschte immer weiter.

Sie konnte sich nicht bremsen. Tiefer und tiefer ging es in der

Schlammrinne, sie drehte sich wieder auf den Rucken und konnte nichts anderes mehr tun, als hilflos auf das Ende zu warten, und plotzlich scho? sie aus dem Wald hinaus und flog durch die Luft.

Sekundenbruchteile spater krachte sie auf Laubwerk, griff danach, und es hielt. Offenbar hing sie in den Asten eines gro?en, uber den Rand hinausragenden Baumes. Der Wasserfall war direkt unter ihr. Er war nicht so gro?, wie sie gedacht hatte. Drei, vielleicht funf Meter tief Unten sah sie ein Becken. Aber sie konnte nicht feststellen, wie tief es war.

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