Einen Tag vor ihrer Ankunft, wurde Conway von Captain Williamson gebeten, fur einige Minuten in den Kontrollraum zu kommen. Dort wurde gerade die Position des Schiffes berechnet, um die letzte Etappe der Reise vorzubereiten. Die Vespasian war dazu aus dem Hyperraum aufgetaucht und hatte sich relativ dicht einem Doppelsternsystem genahert, von dem ein Planet ein Wandelstern mit standig wechselnder Helligkeit war.
Voller Ehrfurcht empfand Conway diesen Anblick als eines jener seltener Naturschauspiele, bei dem sich Menschen nur noch klein und einsam vorkamen und das Verlangen verspurten, naher zusammenzurucken und miteinander zu reden, um inmitten all dieser Pracht und Gro?e nicht den Glauben an ihre eigene, verhaltnisma?ig lacherliche Existenz zu verlieren. In solchen Momenten gab es keine konventionellen Schranken mehr, und auf einmal redete Williamson in einem Ton, der dem zuhorenden Conway verriet, da? der Captain auch nur ein Mensch mit ganz normalen Empfindungen war, der ein wenig aus sich herauskommen wollte.
„Ehm, Doktor Conway, ich mochte nicht, da? es sich so anhort, als wollte ich Lonvellin kritisieren“, begann er vorsichtig, und es klang wie eine Entschuldigung, „zumal er Ihr Patient war und Sie mit ihm vielleicht sogar befreundet sind. Ich mochte auch nicht, da? Sie denken, es wurde mich argern, da? er einen Monitorkreuzer angefordert hat und ganze Kompanien fur sich als Laufburschen einsetzt. Nein, so ist es wirklich nicht.“
Williamson nahm seine Schirmmutze ab und strich mit dem Daumen eine Falte am Stirnband glatt. Conway warf einen Blick auf das schuttere, graue Haar und die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn, die zuvor vom Schirm verdeckt worden waren. Williamson setzte die Mutze wieder auf und verwandelte sich so wieder in den besonnenen und erfahrenen Captain zuruck.
„. um es frei heraus zu sagen, Doktor“, fuhr er fort, „ich wurde Lonvellin als einen ausgesprochen begabten Amateur bezeichnen. Solche Leute scheinen nichts Besseres vorzuhaben, als uns Profis Scherereien zu bereiten, indem sie unsere samtlichen Termine und Plane und so weiter durcheinanderbringen. Aber selbst das stort mich nicht sonderlich, zumal die von Lonvellin aufgedeckte Situation auf Etla wirklich dringender Veranderung bedarf. Was ich eigentlich sagen will, ist, da? wir neben unseren Aufgaben als Raumvermesser, Kolonisten und Ordnungsmacht durchaus selbst Erfahrungen bei der Losung gesellschaftlicher Probleme haben, wie sie zum Beispiel auf Etla herrschen. Ich raume gerne ein, da? es im Monitorkorps weder Leute gibt, die mit Lonvellins Fahigkeiten auch nur ansatzweise mithalten konnen, noch sind wir derzeit selbst in der Lage, einen Plan vorzuschlagen, der besser als Lonvellins ware.“
Conway fragte sich allmahlich, ob der Captain langsam auf den Punkt kommen wurde oder ob er blo? Dampf ablassen wollte. Allerdings schatzte er Williamson nicht als einen notorischen Norgler ein.
„Da Sie neben Lonvellin die meiste Verantwortung an diesem Projekt tragen“, fuhr der Captain hastig fort, „ist es nur fair, Sie zum einen wissen zu lassen, was wir von der ganzen Geschichte halten, und Sie zum anderen daruber zu informieren, was wir selbst zu tun gedenken. Derzeit arbeiten auf Etla doppelt soviel unserer Leute, als Lonvellin annimmt, und es sind noch mehr unterwegs. Personlich hab ich vor unserem langlebigen Freund den allergro?ten Respekt, aber ich werde einfach nicht das Gefuhl los, da? die Situation auf Etla weit verworrener ist, als selbst Lonvellin klar ist.“
Conway dachte kurz nach, dann sagte er: „Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum bei einem Projekt, bei dem es in erster Linie um die Erforschung der Hygiene- und Lebensgewohnheiten einer Spezies geht, ein Schiff wie die Vespasian eingesetzt wird. Glauben Sie, da? die Situation, die wir dort vorfinden werden. ehm. gefahrlicher ist, als zunachst angenommen wurde?“
„Ja“, antwortete der Captain knapp.
Im selben Augenblick verschwand das riesige Doppelsternsystem auf dem gro?en Monitor und wurde durch das Bild eines normalen Sterns des G-Typs ersetzt, auf dem auch der winzige, sichelformige Umri? eines Planeten zu erkennen war, der sich in etwa funfzehn Millionen Kilometern Entfernung zu seiner Sonne befand. Bevor Conway auch nur eine der vielen Fragen stellen konnte, die ihn plotzlich qualten, informierte ihn der Captain, da? die Vorbereitungen fur die letzte Etappe der Reise nun abgeschlossen seien und er von nun an bis zur Landung alle Hande voll zu tun habe. Mit dem Ratschlag, er solle sich bis zur Ankunft auf Etla soviel Schlaf wie moglich gonnen, komplimentierte der Captain Conway aus dem Kontrollraum heraus.
In seiner Kabine zog sich Conway gedankenverloren und, wie er zu seiner Zufriedenheit feststellte, fast automatisch aus. Sowohl Stillman als auch er selbst hatten namlich wahrend der vergangenen Tage ausschlie?lich etlanische Kleidung getragen — eine Bluse, einen Kilt, eine mit Taschen besetzte Bauchscharpe, eine Baskenmutze und einen theatralisch wirkenden Umhang, der bis zu den Waden reichte und eigentlich nur im Freien angelegt wurde. Mittlerweile fuhlte er sich in dieser Verkleidung regelrecht wohl, und das selbst wahrend der gemeinsamen Essenspausen mit den Offizieren der Vespasian. Dennoch hatten die abschlie?enden Bemerkungen des Captains bei ihm ein unbehagliches Gefuhl hinterlassen.
Williamson hielt die Situation auf Etla immerhin fur so gefahrlich, da? sie nach seinem Dafurhalten den Einsatz des gro?ten Polizeischiffs rechtfertigte, das dem Monitorkorps derzeit zur Verfugung stand. Aber warum? Wo lag die Gefahr?
Um eine militarische Bedrohung konnte es sich auf Etla nicht handeln. Das Schlimmste, was die Etlaner anrichten konnten, war das, was sie Lonvellins Schiff angetan hatten, und dabei hatten sie allenfalls die Gefuhle des EPLH verletzt, sonst aber nichts erreicht. Folglich mu?te die Gefahr irgendwoher von drau?en kommen.
Plotzlich glaubte Conway zu wissen, was dem Captain Kopfschmerzen bereitete. Das Imperium…
In einigen der Berichte war das Imperium erwahnt worden. Bislang war es die gro?e Unbekannte. Die Beobachtungsschiffe des Monitorkorps hatten mit dem Imperium noch keinen Kontakt aufgenommen, was allerdings nicht weiter verwunderlich war, da dieser Sektor erst in etwa funfzig Jahren vermessen werden sollte — und wenn Lonvellin an seinem Vorhaben nicht vorzeitig gescheitert ware, hatte man diese Gegend niemals aufgesucht. Man wu?te nur, da? Etla ein Bestandteil dieses Imperiums war und der Planet von ihm in regelma?igen, wenn auch nur relativ gro?en Abstanden mit Medikamenten versorgt wurde.
Nach Conways Auffassung sagten die Qualitat dieser Arzneimittel und der lange Zeitraum zwischen den einzelnen Lieferungen eine Menge uber die Wesen aus, die fur diese Hilfssendungen verantwortlich waren. Auf medizinischem Gebiet konnten sie nicht sehr weit fortgeschritten sein, sonst hatten die Medikamente wenigstens einige der derzeit auf Etla grassierenden Epidemien eingedammt, und sei es nur vorubergehend. Au?erdem waren diese Wesen hochstwahrscheinlich arm, sonst waren die Schiffe sicherlich in kurzeren Zeitabstanden gekommen. Conway wurde sich nicht wundern, wenn sich dieses mysteriose Imperium lediglich als ein Mutterplanet mit einigen daniederliegenden Kolonien entpuppen wurde. Am wichtigsten fur ihn aber war, da? ein Imperium — sei es nun gro? oder klein —, das seine heruntergewirtschafteten Kolonien regelma?ig mit Medikamenten versorgte, alles andere als eine Gefahr oder Bedrohung darstellen konnte. Ganz im Gegenteil, denn nach den ihm zur Verfugung stehenden Informationen mu?te er die Vorgehensweise dieses Imperiums sogar guthei?en.
Wahrend er sich ins Bett legte, sagte er sich, da? Captain Williamson offenbar dazu neigte, sich um alles zuviel Sorgen zu machen.
9. Kapitel
Die Vespasian landete. Auf dem Hauptbildschirm im Kommunikationsraum erkannte Conway eine rissige, wei?e Betonpiste, die sich bis zum einen Kilometer entfernten Rand des Flugfelds erstreckte. Dahinter gingen die feineren Einzelheiten der Vegetation und der Architektur, durch die die Landschaft ansonsten fremd gewirkt hatte, im Hitzefimmern unter. Der Beton war von Staub und vertrockneten Blattern ubersat, und der sehr erdahnliche Himmel war stellenweise von bizarren, kleinen Wolkenhaufen verhangen. Das einzige weitere Schiff auf dem Flugfeld war ein Kurierschiff des Monitorkorps. Es befand sich in der Nahe des leerstehenden Verwaltungsgebaudes, das von den etlanischen Behorden den Besuchern zur Nutzung als Bodenstutzpunkt zur Verfugung gestellt worden war.
Der Captain, der hinter Conway stand, sagte: „Doktor, Sie verstehen bestimmt, da? Lonvellin sein Schiff unmoglich verlassen kann. Au?erdem wurden wir unsere momentan guten Beziehungen zu den Einheimischen aufs Spiel setzen, wenn wir uns zum gegenwartigen Zeitpunkt mit ihm treffen. Aber dafur haben wir ja hier diesen Gro?bildschirm. Entschuldigen Sie bitte.“
Es knackte, und plotzlich blickte Conway in den Kontrollraum von Lonvellins Schiff. Uber den gro?ten Teil des Schirms breitete sich eine lebensgro?e Darstellung von Lonvellin selbst aus, der sich im Vordergrund des Raums befand.