In einer Mischung aus Kurzstreckensprint und langsamem Walzer kam Conway im Kielwasser des AMSL mit raschen Zickzackbewegungen relativ hurtig voran. Seinen Vorgesetzten rief er ein „Entschuldigen Sie bitte“ zu, Kollegen und Untergebene brullte er einfach mit „Platz da!“ an. Schon bald begann er, den AMSL einzuholen — was wieder einmal bewies, da? man sich auf zwei Beinen weit schneller fortbewegen konnte als auf acht Gliedma?en —, und er war mit dem Oktopoden bereits fast auf gleicher Hohe, als dieser auf einmal in einen Lagerraum fur Wasche verschwand und somit hubsch in der Falle sa?. Conway blieb vor der noch geoffneten Tur stehen, ging durch sie hindurch und zog sie fest hinter sich zu.
Noch vollig au?er Atem fragte er so ruhig er konnte: „Warum sind Sie eigentlich weggerannt?“
Plotzlich sprudelten die Worte aus dem AMSL nur so heraus. Wie ublich filterte der Translator samtliche Untertone mit emotionalem Gehalt heraus, aber allein an der ungeheuren Geschwindigkeit seiner Worte erkannte Conway, da? der Creppelianer etwas Ahnliches wie einen hysterischen Anfall haben mu?te. Wahrend er dem AMSL zuhorte, wurde ihm klar, da? Prilicla die Empfindungen des Oktopoden richtig gedeutet hatte: Vor ihm stand ein xenophober Neurotiker, das stand nun einwandfrei fest!
Wenn du nicht ganz gehorig aufpa?t, Freundchen, wird dich O’Mara furchtbar in die Mangel nehmen, fluchte er in Gedanken.
Selbst wenn man au?erste Toleranz und gegenseitigen Respekt beim Personal voraussetzte, gab es im Orbit Hospital doch noch Anlasse genug zu Reibereien. Potentiell gefahrliche Situationen entstanden in erster Linie durch Unwissenheit und Mi?verstandnisse, aber auch dann, wenn ein Wesen eine neurotische Xenophobie entwickelte, die seine geistige Stabilitat oder Leistungsfahigkeit oder beides zusammen beeintrachtigte. Ein Arzt von der Erde zum Beispiel, der eine unbewu?te Angst vor Spinnen hatte, wurde einem cinrusskischen oder illensanischen Patienten niemals eine angemessene klinische Versorgung zuteil werden lassen konnen, die zu seiner Behandlung notwendig ware. Und wenn umgekehrt ein Cinrussker wie Prilicla einen solchen terrestrischen Patienten behandeln wurde, dann.
Als Chefpsychologe war es O’Maras Aufgabe, solche Probleme rechtzeitig zu erkennen und moglichst noch im Keime zu ersticken oder — falls alles nichts nutzte — das potentiell gefahrlichere Individuum aus dem Orbit Hospital zu entfernen, bevor sich aus einer solchen Auseinandersetzung ein offener Konflikt entwickeln konnte. Conway vermochte sich nicht einmal vage vorstellen, wie O’Mara auf so einen gewaltigen AMSL-Riesen reagieren wurde, der vor einer solch zerbrechlichen Kreatur wie Dr. Prilicla vor Angst geflohen war.
Als der Wortschwall des Creppelianers allmahlich abflaute, hob Conway beruhigend die Hand und sagte: „Soweit ich Sie bislang verstanden hab, hat Doktor Prilicla also eine gewisse au?ere Ahnlichkeit mit einem kleinen amphibischen Raubtier auf Ihrem Heimatplaneten, und Sie haben in Ihrer Jugend ein au?erst grauenhaftes Erlebnis mit einem dieser Tiere gehabt. Aber Doktor Prilicla ist kein Tier, und die Ahnlichkeit ist rein au?erlich. Zudem durfte er fur Sie alles andere als eine Bedrohung darstellen, da Sie ihn mit einer einzigen unnachsichtigen Bewegung bereits toten konnten.“
Er hielt kurz inne und schlo? mit ernstem Ton: „Wurden Sie, nachdem Sie das jetzt wissen, bei einer erneuten Begegnung mit diesem Wesen wieder vor lauter Angst davonrennen?“
„Ich. ich wei? nicht. aber mag sein“, antwortete der AMSL nur zogernd.
Conway seufzte. Er mu?te sich unwillkurlich an seine eigenen ersten Wochen im Orbit Hospital erinnern und an die furchteinflo?enden, alptraumhaften Kreaturen, die ihn noch im Schlaf verfolgt hatten. Was die Alptraume damals ganz besonders schrecklich gemacht hatte, war die Tatsache, da? es sich dabei nicht um Hirngespinste, sondern um fa?bare Realitaten gehandelt hatte, die in vielen Fallen nur ein paar Kabinen neben seiner untergebracht waren.
Aber nie war er vor einer dieser alptraumhaften Kreaturen gefluchtet, die spater zu seinen Lehrern, Kollegen und schlie?lich sogar besten Freunden geworden waren. Wenn er sich selbst gegenuber allerdings ehrlich sein wollte, hatte dies weniger etwas mit vorsatzlicher Kuhnheit zu tun gehabt als vielmehr mit der Tatsache, da? er bei extremer Angst eher dazu neigte, wie gelahmt stehenzubleiben, anstatt davonzulaufen.
„Vielleicht brauchen Sie psychiatrische Hilfe, Doktor“, sagte er bewu?t freundlich. „Und der Chefpsychologe des Hospitals wird Ihnen bestimmt helfen konnen. Ich rate Ihnen aber, ihn nicht sofort aufzusuchen. Verbringen Sie hier erst einmal etwa eine Woche und versuchen Sie, sich ein wenig an die Situation im Hospital zu gewohnen, ehe Sie sich an ihn wenden. Sie werden feststellen, da? er dann mehr von Ihnen halten wird.“
… au?erdem ist es dann weniger wahrscheinlich, fugte er in Gedanken hinzu, da? er Sie fur untauglich halt, in diesem Hospital mit seiner multikulturellen Gesellschaftsform zu arbeiten, und Sie umgehend nach Hause schickt.
Nachdem Conway dem Creppelianer wiederholt versichert hatte, da? Prilicla zur Zeit der einzige GLNO im Hospital sei und es ausgesprochen unwahrscheinlich sei, da? sich ihre Wege am selben Tag gleich zweimal kreuzen wurden, folgte der AMSL Conway aus dem Wascheraum, wobei der Oktopode allerdings nicht sonderlich uberzeugt wirkte. Zehn Minuten spater hatte er den AMSL endlich im Speisesaal fur Wasseratmer — der eher als „Speiseaquarium“ zu bezeichnen war — untergebracht, und er begab sich auf dem kurzesten Weg zur Kantine fur Sauerstoffatmer.
7. Kapitel
In dem fur Chefarzte reservierten Abschnitt der Kantine entdeckte Conway durch einen glucklichen Zufall Dr. Mannon, der an einem ansonsten freien Tisch sa?. Mannon war ein Terrestrier, der fruher einmal Conways Vorgesetzter gewesen war und mittlerweile auf dem besten Weg war, demnachst den Rang eines Diagnostikers zu bekleiden. Gegenwartig durfte er hochstens drei Schulungsbander gleichzeitig im Gehirn gespeichert haben — das eines tralthanischen Spezialisten fur Mikrochirurgie, und zwei, die von Chirurgen der LSVO- und MSVK-Spezies hergestellt worden waren —, aber trotzdem fielen seine Reaktionen recht menschlich aus. Im Augenblick stocherte er lustlos in einem Salat herum, wobei sein Blick gegen die Decke gerichtet war, um nicht sehen zu mussen, was er gerade a?. Conway setzte sich ihm gegenuber und blickte ihn verstandnisvoll und fragend zugleich an.
„Ich mu?te heute nachmittag zwei langwierige Eingriffe bei einem Tralthaner und einem LSVO vornehmen“, murmelte Mannon murrisch. „Sie wissen ja, wie das ist — ich hab mich wieder mal zu sehr in deren Rolle versetzt. Wenn diese verdammten Tralthaner doch nur keine Vegetarier waren und sich diese LSVOs blo? nicht vor allem ekeln wurden, was nicht gleich wie Vogelfutter aussieht. Sind Sie heute auch jemand anders?“
Conway schuttelte den Kopf. „Ich bin heute nur ich selbst. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir ein Steak bestelle?“
„Nein, aber bitte reden Sie einfach nicht mehr daruber.“
„Einverstanden.“
Conway wu?te nur zu gut, welche Verwirrungen und seelische Storungen es bei einem auslosen konnte, wenn man in Gedanken doppelt zu sehen begann, besonders dann, wenn man sich ein Schulungsband und die damit zusammenhangende Personlichkeit eines Extraterrestriers zu gewissenhaft ins Gehirn eingepragt hatte. Erst vor drei Monaten hatte er sich hoffnungslos in eine Arztin vom Planeten Melf IV verliebt, die zusammen mit anderen Spezialisten im Orbit Hospital zu Besuch gewesen war. Ein wahrhaft hoffnungsloser Fall also. Die Melfaner waren ELNTs — sechsbeinige, amphibische Wesen, die an Riesenkrabben erinnerten —, und wahrend die eine Halfte seines Verstands die ganze Geschichte fur vollig lacherlich hielt, dachte die andere voller Verzuckung an den hinrei?end gemusterten Ruckenpanzer, und er hatte am liebsten seine — nicht vorhandenen — Fuhler nach dem Wesen ausgestreckt.
Physiologiebander waren fur ihren Benutzer sicherlich ein zweifelhaftes Vergnugen, aber ihre Anwendung war unverzichtbar, weil man von keinem der Arzte erwarten konnte, sich in einem Hospital, in dem Wesen der verschiedenartigsten Spezies behandelt wurden, alle notwendigen physiologischen Daten der Patienten zu merken. Diese fast unvorstellbare Datenmenge, die fur eine angemessene Behandlung erforderlich war, wurde mittels Schulungsbandern weitergegeben, die nichts anderes waren als die Aufzeichnung der Gehirnstrome von medizinischen Kapazitaten der jeweils betreffenden Spezies. Wenn zum Beispiel ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschlu? der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbander im Gehirn und lie? es anschlie?end wieder loschen. Chefarzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehorte, mu?ten diese Bander haufig uber einen langeren Zeitraum im Kopf behalten, was alles andere als ein Vergnugen fur sie war.