eines weiteren und noch unglaublicher aussehenden Aliens zu werden.

„Das ist Prilicla“, erklarte Danalta knapp.

Prilicla war ein Insekt, ein riesiges, ungeheuer zerbrechlich wirkendes Fluginsekt, das jedoch im Verhaltnis zu den anderen Wesen im Saal klein war. An seinem rohrenformigen Korper mit Ektoskelett befanden sich sechs bleistiftdunne Beine, vier noch feiner gebaute Greiforgane und zwei breite, schimmernde Flugelpaare, mit denen er langsam schlagend zum Untersuchungstisch flog, uber dem er dann in der Luft schwebte. Plotzlich drehte er sich mit einem Ruck um, heftete seine mit Saugnapfen versehenen Fu?e an die Decke und bog seine ausstreckbaren Augen nach unten, um den Patienten genauer zu betrachten.

Aus irgendeiner Stelle seines Korper drang eine Folge von melodischen, rollenden Schnalzlauten hervor, die Cha Thrats Translator als „Freund Chiang, Sie sehen ganz so aus, als waren Sie im Krieg gewesen“ ubersetzte.

„Wir sind doch keine Wilden!“ protestierte Cha Thrat wutend. „Auf Sommaradva hat es seit acht Generationen keinen Krieg mehr gegeben.“

Sie brach abrupt ab, da die langen, au?erst dunnen Beine und die zum Teil gefalteten Flugel des Insekts zu zittern begannen. Es war, als wurde durch den Saal ein starker Wind wehen. Alles auf und um den Untersuchungstisch herum starrte auf den kleinen Alien, drehte sich dann geschlossen um und blickte zur Zuschauergalerie hinauf — auf sie.

„Prilicla ist ein echter Empath“, fuhr Danalta sie in scharfem Ton an. „Er empfindet genau das, was Sie empfinden. Also beherrschen Sie bitte Ihre Gefuhle!“

Cha Thrat fiel es allerdings sehr schwer, ihre Gefuhle zu beherrschen: Das lag nicht nur an ihrem Zorn uber die angedeutete Beleidigung ihrer seit langem friedliebenden Spezies, sondern auch an ihrem grundsatzlichen Zweifel, da? solch eine Beherrschung uberhaupt notwendig war. Zwar war sie schon oft gezwungen gewesen, Ihre Gefuhle vor Vorgesetzten oder Patienten zu verbergen, aber der Versuch, Emotionen zu beherrschen, war eine vollkommen neue Erfahrung. Nur mit gro?er Anstrengung — die seltsamerweise eine Art bewu?ter Verneinung von Anstrengung zu sein schien — gelang es ihr schlie?lich, sich zu beruhigen.

„Ich danke Ihnen, meine neue Freundin“, trillerte der Empath, und als er sich wieder Chiang zuwandte, zitterte er nicht mehr.

„Werte Doktoren, Ihr Anliegen mag ja ehrenhaft sein, aber Sie vergeuden mit mir nur Ihre kostbare Zeit“, rief der Terrestrier. „Ehrlich, ich fuhle mich gro?artig.“

Prilicla stie? sich von der Decke ab, schwebte uber der Stelle, an der sich Chiangs Verletzungen befanden, die er sich erst kurzlich auf Sommaradva zugezogen hatte, und beruhrte die Narben mit seinen federleichten Tastorganen. „Ich wei?, wie Sie sich fuhlen, Freund Chiang, aber unsere Zeit vergeuden wir keineswegs“, entgegnete er. „Oder wollen Sie uns, einem Melfaner und einem Cinrussker, die beide darauf erpicht sind, ihre Fachkenntnisse uber andere Spezies standig zu erweitern, allen Ernstes die Moglichkeit nehmen, ein wenig an einem Terrestrier herumzudoktern, selbst wenn dieser kerngesund ist?“

„Eigentlich nicht“, antwortete Chiang und fugte leise bellend hinzu: „Aber es ware fur Sie bestimmt interessanter gewesen, wenn Sie mich direkt nach dem Absturz gesehen hatten.“

Wahrend der Empath wieder an die Decke zuruckkehrte, fragte er den Melfaner: „Wie lautet Ihre Beurteilung, Freund Edanelt?“

„Die chirurgischen Arbeiten sind zwar nicht so, wie ich sie ausgefuhrt hatte“, erwiderte der Melfaner, „sie sind aber. nun, ich wurde mal sagen, ausreichend.“

„Mein lieber Freund Edanelt“, entgegnete der Empath freundlich mit einem kurzen Seitenblick zur Galerie, „bis auf das neueste Mitglied unseres Stabs wissen wir alle, da? die operativen Eingriffe, die Sie lediglich als ausreichend erachten, von Conway hochstpersonlich als vorbildlich bezeichnet werden wurden. Wenigstens ware es hochst interessant, mehr uber die pra- und postoperative Krankengeschichte zu erfahren.“

„Das habe ich auch gerade gedacht“, pflichtete ihm der Melfaner bei. Seine sechs knochigen Fu?e erzeugten ein rasches, unregelma?iges Klackern, wahrend er sich der Zuschauergalerie zuwandte. „Wurden Sie bitte zu uns herunterkommen?“

Cha Thrat befreite sich rasch aus dem Alienstuhl, und in dem Bewu?tsein, da? jetzt sie an der Reihe war, sich einer noch eingehenderen Untersuchung zu unterziehen, einer, die wahrscheinlich eher ihre berufliche als ihre korperliche Tauglichkeit fur den Dienst im Orbit Hospital unter Beweis stellen sollte, folgte sie Danalta nach unten in den Saal zu den anderen am Tisch.

Diese Aussicht mu?te sie mehr geangstigt haben, als ihr bewu?t war,

denn der Empath begann erneut zu zittern. Zudem war es beunruhigend, ja sogar erschreckend, dem Cinrussker plotzlich so nah zu sein. Auf Sommaradva mu? man gro?en Insekten aus dem Weg gehen, weil sie ausnahmslos todliche Stacheln besitzen. Ihre Instinkte drangten sie, dieses Insekt entweder totzuschlagen oder vor ihm zu fliehen. Insekten hatte sie noch nie ausstehen konnen und es deshalb immer vermieden, sie aus der Nahe zu betrachten. Jetzt aber blieb ihr keine andere Wahl.

Doch von der komplizierten Symmetrie der zitternden Glieder und des au?ergewohnlich zerbrechlich wirkenden Korpers, dessen dunkler Schimmer Farben widerzuspiegeln schien, die im Raum gar nicht vorhanden waren, ging eine unaufdringliche optische Anziehungskraft aus. Der Kopf war — bildlich gesprochen — eine fremdartige, spiralformig gewundene Eierschale von einem derart feinen Bau, als mu?ten die an ihm sitzenden Fuhler und Greiforgane bei der ersten heftigen Bewegung abfallen. Aber es war die komplexe Struktur und Farbung der teilweise gefalteten Flugel, scheinbar aus einem hauchdunnen, schillernden, auf ein Gerust aus unvorstellbar dunnen Zweigen gespannten Stoff bestehend, durch die ihr bewu?t wurde, da? dieses Insekt, ob nun Alien oder nicht, eins der schonsten Geschopfe war, das sie je gesehen hatte — zudem konnte sie es jetzt sehr deutlich erkennen, weil Priliclas Gliedma?en nicht mehr zitterten.

„Nochmals vielen Dank, Cha Thrat“, sagte der Empath. „Sie lernen schnell. Und keine Sorge, wir sind Ihre Freunde und wunschen Ihnen alles Gute.“

Edanelts Fu?e klackerten erneut unregelma?ig auf dem Boden; womoglich war dieses Gerausch ein Zeichen von Ungeduld. „Fuhren Sie uns bitte Ihren Patienten vor“, forderte er Cha Thrat auf.

Einen Moment lang blickte sie auf den Terrestrier hinunter, auf den rosafarbenen, eigenartig geformten Alienkorper, der ihr durch den Unfall so vertraut geworden war. Sie erinnerte sich, wie er ausgesehen hatte, als er ihr zum erstenmal vor Augen gekommen war: die blutenden, offenen Wunden und die gebrochenen, heraustretenden Knochen; der allgemeine Zustand, der die sofortige Verabreichung von Beruhigungsmitteln bis zum Exitus stark angebracht erschienen lie?. Selbst jetzt fand sie noch immer nicht die passenden Worte, um zu erklaren, warum sie das Leben dieses Terrestriers nicht beendet hatte. Abermals blickte sie an die Decke zum Cinrussker hinauf.

Obwohl Prilicla nichts sagte, hatte Cha Thrat dennoch das Gefuhl, als ginge von dem kleinen Empathen eine beruhigende und aufmunternde Ausstrahlung aus. Das war naturlich eine alberne Vorstellung, die wahrscheinlich ebenso absurdem wie torichtem Wunschdenken entsprang, aber trotzdem beruhigend auf sie wirkte.

„Dieser Patient ist einer von drei Insassen eines Flugzeugs gewesen, das in einen Bergsee sturzte“, berichtete Cha Thrat mit ruhiger Stimme. „Bevor das Wrack gesunken ist, wurden noch ein sommaradvanischer Pilot und ein weiterer Terrestrier daraus geborgen, die aber bereits beide tot waren. Der Uberlebende wurde an Land gebracht und von einem Heiler untersucht, der nicht ausreichend qualifiziert war und mich kommen lie?, da er wu?te, da? ich in der betreffenden Gegend gerade einen Erholungsurlaub verbrachte.

Der Patient hatte sich durch gewaltsamen Kontakt mit dem Metall des Flugzeugs an den Gliedma?en und am Rumpf zahlreiche Schnitt- und Ri?wunden zugezogen und fortgesetzt Blut verloren. Unterschiede im Aussehen der Glieder auf der rechten und der linken Seite lie?en auf mehrfache Frakturen schlie?en, von denen eine sofort an dem durch die Haut gesto?enen Knochen am linken Bein zu erkennen war. Da es keine Anzeichen fur Blutungen aus den Atem- und Sprechoffnungen des Patienten gab, konnte man davon ausgehen, da? in der Lunge und im Bauchbereich keine ernsthaften Verletzungen vorlagen. Naturlich mu?te ich das ganze Fur und Wider dieses Falls genau erwagen, bevor ich mich bereit erklarte, den Patienten zu ubernehmen.“

„Naturlich“, stimmte Edanelt zu. „Sie haben vor dem Problem gestanden, einen Angehorigen einer au?erplanetarischen Spezies mit einer Physiologie und einem Metabolismus zu behandeln, mit denen Sie vorher keine praktischen Erfahrungen machen konnten. Oder besitzen Sie womoglich doch irgendwelche Vorkenntnisse? Haben Sie nicht mit dem Gedanken gespielt, einen Arzt derselben Spezies zu rufen?“

„Ich hatte ja bis dahin noch nie einen Terrestrier gesehen“, antwortete Cha Thrat. „Ich wu?te nur, da? sich eins ihrer Schiffe im Orbit uber Sommaradva befand und der freundschaftliche Kontakt weitgehend hergestellt

Вы читаете Notfall Code Blau
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×