Ein behabiger Mann in den Sechzigern mit einer gestarkten wei?en Tunika kam heraus, um ihn zu begru?en. Quer uber der Tunika war das goldene Band eingestickt.

»Brose Cashdan«, stellte sich der Fremde vor. Seine Stimme war tief und achtunggebietend. Quellen konnte sich vorstellen, da? der Mann eine Entscheidung nach der anderen mit fester Stimme vorbrachte und sich kaum um die Empfehlung eines Regierungsbeamten kummerte.

»Joseph Quellen. Ich …«

»Ich wei?. Sie wurden von Judith da Silva eingeladen. Naturlich. Judith ist drinnen. Seien Sie herzlich willkommen, Mister Quellen. Es freut uns, da? Sie sich uns anschlie?en wollen. Kommen Sie doch herein.«

Cashdan gelang es, seiner Stimme zugleich etwas Schmeichelndes und Befehlendes zu geben. Er schob Quellen in einen Raum, der mindestens sechs mal zehn Meter hatte und von Wand zu Wand mit einem grauen, schaumartigen Stoff ausgelegt war. An diesem Saal war nichts Nuchternes oder Puritanisches.

Acht oder neun Leute hatten sich in der Mitte des Raumes auf dem Boden niedergelassen. Judith war unter ihnen. Zu Quellens gro?er Uberraschung hatte sie kein dunkles Kleid gewahlt, wie es bei den meisten Versammlungen dieser Art ublich war. Offensichtlich galten fur ein Treffen auf hoherer Ebene andere Richtlinien. Sie trug ein Aufspruh-Kleid mit blauen und grunen Grundtonen. Ein Stoffstreifen hielt die Bruste hoch und wand sich uber ihre Huften. Ihr Korper war mehr oder weniger bedeckt, aber da es sich lediglich um eine Farbschicht handelte, hatte sie ebensogut nackt kommen konnen. Quellen wu?te, da? solche Extravaganzen der Mode nur in Kreisen ab Klasse Funf vorkamen, und so erschien es ihm etwas gewagt, da? Judith sich derartig zurechtmachte. Quellen hatte das Gefuhl, da? sie beide die einzigen Klasse-Sieben-Angehorigen in diesem Saal waren. Er lachelte Judith zu. Sie hatte eine schlanke Figur, wie sie der augenblicklichen Mode entsprach, und sie betonte sie, indem sie ihre Bruste bemalte.

Neben ihr sa? ein dicker Mann, dessen Hals praktisch in Speckfalten verschwand. Er hatte einen kurzen, blaugetonten Bart, feuchte Lippen und einen friedlichen Gesichtsausdruck. Er wurde von einer zweiten Frau flankiert, die etwas alter als Judith wirkte und ein ahnlich schamloses Kleid trug. Bei Judith sah es gut aus. Aber die Fremde hatte einen hervorquellenden Busen und viel zu dicke Huften. Sie sah Quellen mit schmachtenden Augen an, aber er warf ihr nur einen spottischen Blick zu.

Die ubrigen wirkten wohlhabend und intellektuell. Es waren vor allem Manner, alle gut gekleidet und offensichtlich gut genahrt. Bei manchen hatte man sogar den Eindruck, sie seien ein wenig weibisch. Judith stand auf und stellte ihn vor. Die Namen glitten an Quellen vorbei, ohne in sein Bewu?tsein einzudringen. Der Mann mit dem blauen Bart war Dr. Richard Galuber, Judiths Arzt. Und die schwammige Person neben ihm war seine Frau. Interessant. Quellen hatte nicht gewu?t, da? der Arzt verheiratet war. Er hatte insgeheim den Verdacht gehegt, da? Judith seine Freundin war. Vielleicht stimmte es. Aber wurde Dr. Galuber seine Geliebte und seine Frau bei so einer Sitzung zusammenbringen? Quellen konnte es sich nicht vorstellen. Aber Arzte hatten oft verruckte Ansichten, und Quellen hatte erfahren, da? der Arzt seine Frau aus irgendeinem therapeutischen Beweggrund mitgenommen hatte.

Judith entfernte sich mit ihm ein Stuckchen von der Gruppe und sagte: »Ich bin so froh, da? du gekommen bist, Joe. Ich dachte schon, du wurdest dich wieder drucken.«

»Ich hatte es dir doch versprochen, oder?«

»Ja, ich wei?. Aber du hast die Tendenz, dich von potentiell feindlichen gesellschaftlichen Ereignissen fernzuhalten.«

Quellen war verargert. »Schon wieder dieses therapeutische Gerede! Hor doch endlich auf damit, Judith. Ich bin ja gekommen.«

»Naturlich.« Ihr Lacheln wurde plotzlich herzlich. »Und ich freue mich daruber. Ich wollte nicht mit dir streiten. Komm, ich stelle dir Dr. Galuber vor.«

»Mu? das sein?«

Sie lachte. »Du hast doch die Tendenz …«

»Schon gut, schon gut. Bringe mich zu diesem Dr. Galuber.«

Sie durchquerten den Saal. Quellen war durch Judiths Nacktheit irritiert. Ein Pigmentspray ist keine Kleidung. Er konnte ihre Figur unter der dunkelblauen Deckfarbe genau erkennen. Es war provozierend und beunruhigend.

Der Arzt sah Quellen mit berufsma?iger Liebenswurdigkeit an. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Quellen. Ich habe schon viel von Ihnen gehort.«

»Oh, tatsachlich?« fragte Quellen nervos. Er war enttauscht, da? Galuber nicht den rituellen mitteleuropaischen Akzent nachahmte, den die meisten anderen Arzte benutzten. »Ich wu?te gar nicht, da? Manner Ihres Berufsstandes Kultgemeinden dieser Art angehorten.«

»Wir stehen geistigen Ubungen dieser Art positiv gegenuber«, sagte Galuber. »Weshalb sollten wir sie auch ablehnen?«

»Da haben Sie auch wieder recht.«

Der Arzt deutete auf seine Frau. »Jennifer und ich gehoren jetzt seit mehr als einem Jahr dem Erbrechens- Kult an. Er hat uns zu mancher bemerkenswerten Einsicht verholfen, nicht wahr, Liebes?«

Mrs. Galuber schmachtete wieder. Sie sah Quellen so unverhohlen sinnlich an, da? er sich erschrocken zuruckzog. »Es war eine gro?e Erleuchtung fur uns«, sagte sie. Sie hatte einen warmen, dunklen Alt. »Jede Art menschlichen Kontakts ist wohltuend, finden Sie nicht auch? Wir erlangen die Erfullung, die unseren Noten am meisten entgegenkommt.« Jennifer Galubers Fleisch schwabbelte, als sie herzlich lachte. Quellen sah verlegen weg. Er mu?te gegen Ubelkeit ankampfen. Die Galubers fuhrten wohl eine merkwurdige Ehe. Aber diese fette Hexe wird mich nicht dazu bringen, in menschlichen Kontakt mit ihr zu treten, dachte er.

Judith mischte sich wieder ein. »Ich rede Dr. Galuber seit Monaten zu, eines unserer Treffen zu besuchen. Aber bis jetzt hat er immer abgelehnt. Er fand, wir mu?ten warten, bis ich die richtige Stufe seiner Therapie erreicht hatte. Vorher wollte er mit einer Patientin nicht zu vertraulich verkehren.«

»Das ist naturlich nicht der einzige Grund«, meinte der Arzt wohlwollend. »In diesem Fall ging es noch darum, da? ich der Gruppe das Handikap meiner Frau zumuten mu?te, was besondere Vorbereitungen erfordert. Sie mussen wissen, Jennifer ist eine Mutantin mit einer Galaktoseabwehr. Sie mu? galaktosefreie Kost zu sich nehmen.«

»Ich verstehe«, sagte Quellen hoflich.

»Es ist ein Erbfehler«, fuhr Galuber fort. »Sie kann Galaktose uberhaupt nicht verdauen. Ein Enzymmangel. Es wurden sich Galaktosevorlaufer aufbauen und die Zellen zerstoren. So lebt sie von Geburt an mit galaktosefreier Diat. Das fuhrt selbstverstandlich noch zu anderen Problemen. Da es sich um einen Enzymmangel handelt, kann sie Galaktose auch nicht aus endogenen Karbohydraten vertragen, denn das wurde zu einem teilweisen Austausch der Galaktopiliden durch Glukopiliden im Hirn fuhren, ein au?erst schadliches Blutgruppenspektrum, weiterhin zu Absto?ungsprozessen bei Transplantationen und einer abnormalen Gehirnentwicklung — oh, die Folgen waren nicht auszudenken.«

»Ist die Krankheit heilbar?« fragte Quellen.

»Nicht im Sinne einer volligen pathologischen Wiederherstellung. Aber man kann sie behandeln. Erbliche Galaktoseverdauungsstorungen konnen durch eine Enzymsynthese kontrolliert werden. Dennoch mu? sie Diat halten und gewisse Substanzen meiden, darunter auch diejenige, die einen wesentlichen Bestandteil der heutigen Zeremonie bildet. Also mu?ten wir unser eigenes, besonders prapariertes Material mitbringen. Eine Zumutung dem Gastgeber gegenuber.«

»Aber wo denken Sie hin!« horte man den drohnenden Ba? von Brose Cashdan. »Eine Kleinigkeit! Wir freuen uns, da? Sie heute unser Gast sind, Mrs. Galuber.«

Quellen, den Galubers medizinischer Vortrag verwirrt hatte, war froh, als der Beginn der Zeremonie angekundigt wurde. Der Arzt hatte das Zeug sicher nur von sich gegeben, um seine uberlegene Intelligenz herauszustreichen. Quellen war verargert. Er verfluchte insgeheim Jennifer Galubers Enzymmangel, ihre Blicke und ihre Anhaufung von Galaktopiliden. Er loste sich aus ihrer Gesellschaft und folgte Judith zum Teppich im Mittelpunkt des Saales, wo die Zeremonie stattfinden sollte.

»Joe«, sagte Judith warnend, »zieh dich nicht wie das letzte Mal zuruck. Du mu?t dich von den Massenreaktionen losen. Sieh die Dinge doch objektiv an. Was ist denn schon an einem bi?chen Spucke?«

»Vermutlich nichts«, sagte er.

»Und dann an Verdauungssaften? Sie konnen dir nicht schaden. Es ist doch nur wegen der geistigen Gemeinschaft. Du darfst nicht so veraltet denken.«

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