hatte ihn und Pascale von Resurgam aufs Schiff gebracht. Und der Anzug hatte an Stelle von Luft eine Flussigkeit in seine Lungen gepresst.

»Was ist los?«, artikulierte er stumm. Der Anzug konnte solche Au?erungen uber den einfachen, im Helm integrierten Sprachzentrums-Trawl interpretieren.

»Ich schalte zuruck«, teilte ihm der Anzug mit. »Schubumkehr am Mittelpunkt.«

»Wo, zum Teufel, sind wir?« Sich in seinen Erinnerungen zurechtzufinden war immer noch so muhsam wie die Suche nach dem Ende eines verwirrten Wollknauels. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte.

»Mehr als eine Million Kilometer vom Schiff und etwas weniger als das von Cerberus entfernt.«

»Wie sind wir in so kurzer Zeit so weit…?« Er hielt inne. »Nein, warte. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs sind.«

»Wir sind vor vierundsiebzig Minuten aufgebrochen.« Nicht viel mehr als eine Stunde, dachte Sylveste. Hatte der Anzug von einem Tag gesprochen, dann hatte er auch das widerspruchslos hingenommen. »Wir flogen mit einer durchschnittlichen Beschleunigung von zehn Ge. Triumvir Sajaki hatte Hochstgeschwindigkeit befohlen.«

Jetzt kam die Erinnerung. Sajakis nachtlicher Anruf, die wilde Jagd zu den Anzugen. Er erinnerte sich, Pascale eine Nachricht hinterlassen zu haben, aber keine genaueren Angaben. Das war sein einziges Zugestandnis gewesen; der einzige Luxus, den er sich gestattete. Doch selbst wenn er Tage Zeit gehabt hatte, um sich auf das Unternehmen vorzubereiten, er hatte kaum etwas anders gemacht. Eigene Dokumentations- oder Aufzeichnungsgerate brauchte er nicht, denn er hatte Zugriff auf die Datenbanken und die integrierten Sensoren des Anzugs. Die Anzuge waren auch bewaffnet und dafur ausgerustet, sich gegen Angriffe der Art, wie sie derzeit gegen Volyovas Waffe gefuhrt wurden, autonom zu verteidigen. Sie konnten Instrumente fur wissenschaftliche Analysen herstellen und in ihrem Innern Behaltnisse zur Aufbewahrung von Proben ausbilden. Davon abgesehen, waren sie so unabhangig wie jedes Raumschiff. Nein — die Erkenntnis kam wie ein Blitz —, das war falsch gedacht; die Anzuge waren Raumschiffe, sehr vielseitige Ein-Mann-Raumschiffe, die zu atmospharetauglichen Flugzeugen und — wenn notig — auch zu gelandegangigen Fahrzeugen umfunktioniert werden konnten. Bei vernunftiger Uberlegung gab es keine bessere Moglichkeit, nach Cerberus zu gelangen.

»Ich bin froh, dass ich die Beschleunigungsphase verschlafen habe«, sagte Sylveste.

»Sie hatten gar keine andere Wahl«, erklarte der Anzug ungeruhrt. »Ihr Bewusstsein wurde unterdruckt. Machen Sie sich jetzt bitte fur die Bremsphase bereit. Wenn Sie wieder aufwachen, befinden Sie sich in unmittelbarer Nahe des angegebenen Ziels.«

Sylveste begann in Gedanken eine Frage zu formulieren; er wollte wissen, warum sich Sajaki nicht zeigte, obwohl er doch versichert hatte, Sylveste begleiten zu wollen. Doch bevor er sein Anliegen noch in die vorsprachliche Form gebracht hatte, die fur den Trawl zu interpretieren war, versetzte ihn der Anzug abermals in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Khouri begab sich auf die Suche nach Pascale Sylveste, und Volyova kehrte auf die Brucke zuruck. Sie wagte nicht mehr, die Fahrstuhle zu benutzen, doch zum Gluck brauchte sie nicht mehr als zwanzig Decks zu uberwinden; anstrengend, aber nicht unmoglich. Au?erdem einigerma?en sicher: das Schiff konnte keine Drohnen in die Treppenhauser schicken; nicht einmal die Schweber, die auf supraleitenden Magnetfeldern durch die normalen Korridore flogen. Trotzdem behielt sie das Projektilgewehr im Anschlag, wahrend sie die endlose Wendeltreppe hinaufstieg, und bewegte den Lauf von einer Seite zur anderen. Gelegentlich blieb sie stehen, hielt den Atem an und lauschte, ob ihr jemand folgte oder weiter oben auf sie lauerte.

Unterwegs uberlegte sie, auf wie viele Arten die Sehnsucht nach Unendlichkeit sie toten konnte. Es war eine intellektuelle Herausforderung, die sie zwang, ihre Kenntnisse auf andere Weise einzusetzen als bisher. Vieles erschien ihr in einem neuen Licht. Vor gar nicht langer Zeit war sie in einer ganz ahnlichen Situation gewesen wie das Schiff jetzt. Damals wollte sie Nagorny toten oder zumindest verhindern, dass er fur sie zur Bedrohung wurde, was im Grunde auf das Gleiche hinauslief. Letzten Endes hatte sie ihn erst getotet, nachdem er versucht hatte, sie zu toten — aber was sie jetzt beschaftigte, war die Todesart, die sie gewahlt hatte. Sie hatte das Schiff so schnell beschleunigt und wieder abgebremst, dass er bei lebendigem Leib zu Brei zerquetscht wurde. Fruher oder spater — es gab kein stichhaltiges Argument, das dagegen sprache — wurde das Schiff auf die gleiche Idee kommen. Dann ware es besser, nicht mehr an Bord zu sein.

Sie erreichte unbehelligt die Brucke, aber das hinderte sie nicht, jeden Schatten auf lauernde Maschinen oder — jetzt noch gefahrlicher — auf Ratten zu untersuchen. Sie wusste nicht, was ihr die Ratten antun konnten, aber sie war auch nicht scharf darauf, es herauszufinden.

Die Brucke war so leer, wie Volyova sie verlassen hatte. Die Schaden, die Khouri angerichtet hatte, waren nicht beseitigt worden; der Boden des gro?en, kugelformigen Versammlungsraums war noch mit Sajakis Blut befleckt. Die Projektionssphare hing leuchtend uber ihr und zeigte immer neue Berichte uber den Zustand des Cerberus-Bruckenkopfs. Einen Moment lang beobachtete sie unwillkurlich mit gewissem Stolz, wie wacker sich ihr Geschopf noch immer gegen die lebensbedrohenden Waffen der Alien-Welt verteidigte. Doch bevor die Genugtuung noch richtig zum Tragen kam, wurde sie durch den Wunsch verdrangt, der Bruckenkopf moge versagen und Sylveste den Zugang versperren. Vorausgesetzt, er war noch nicht eingetroffen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte eine Stimme.

Sie fuhr herum. Von einer der umlaufenden Sitzreihen schaute eine Gestalt auf sie herab, die sie nicht kannte. Ein Mann in dunklem Mantel mit gefalteten Handen und eingefallenem Gesicht. Sie schoss auf ihn, aber er verschwand nicht. Die Kugeln der Projektilwaffe rasten durch ihn hindurch und hinterlie?en ionisierte Streifen, die wie Fahnen in der Luft hingen.

Daneben erschien eine zweite Gestalt in anderer Kleidung. »Sie haben Ihr Bleiberecht verwirkt«, sagte sie in einer uralten Norte-Variante, die Volyova nicht sofort verstand und erst muhsam ubersetzen musste.

»Sie mussen einsehen, Triumvir, dass dieses Reich nicht langer das Ihre ist«, meldete sich eine dritte Stimme. Gegenuber war eine weitere Gestalt zum Leben erwacht. Sie trug einen uralten Raumanzug ohne Helm, der uber und uber mit Kuhlleitungen und kastenformigen Zusatzgeraten bepflastert war, und sprach das alteste Russisch, das Volyova noch umsetzen konnte.

»Was wollen Sie hier erreichen?«, fragte die erste Gestalt. Daneben manifestierte eine neue Erscheinung, die auf Volyova einredete, und so ging es weiter, bis sie vollig von den Schatten der Vergangenheit umzingelt war. »Das ist unerhort…« Doch schon wurde die Stimme von einem weiteren Gespenst auf der rechten Seite ubertont.

»…dazu keine Vollmacht, Triumvir. Ich muss Ihnen sagen…«

»…Ihre Befugnisse erheblich uberschritten und mussen sich nun…«

»…bitter enttauscht, Ilia, und muss dich hoflich bitten, dass du…«

»…Privilegien… entziehen…«

»…in keiner Weise akzeptabel…«

Die Stimmen vermischten sich und steigerten sich zu einem unartikulierten Gebrull. Volyova begann zu schreien. Die Toten fullten jetzt den ganzen Raum. Wohin sie auch schaute, sie sah nur noch uralte Gesichter, und jedes bewegte die Lippen, als ware es allein und wahnte sich im Besitz ihrer vollen Aufmerksamkeit. Sie flehten zu ihr wie zu einer allwissenden Gottheit, doch das Flehen war zugleich eine Klage. Zunachst klangen die Stimmen norgelig und enttauscht, doch alsbald wurde der Ton von Sekunde zu Sekunde gehassiger und verachtlicher, als hatte Volyova die ganze Gesellschaft nicht nur aufs Schandlichste im Stich gelassen, sondern obendrein ein so grausiges Verbrechen begangen, dass es nicht mit Worten auszudrucken war, sondern nur mit angewidert hochgezogenen Lippen und zutiefst beschamten Blicken angedeutet werden konnte.

Sie wog das Gewehr in den Handen. Die Versuchung, einen ganzen Patronengurt in die Gespensterschar zu jagen, war fast ubermachtig. Toten konnte sie die Erscheinungen naturlich nicht, aber sie konnte ihre Projektionssysteme schwer beschadigen. Doch seit die Waffenkammer nicht mehr in Betrieb war, musste sie Munition sparen.

»Haut ab!«, schrie sie. »Lasst mich in Frieden!«

Ein Toter nach dem anderen verstummte und verschwand mit enttauschtem Kopfschutteln, als ertrage er es nicht, noch langer in einem Raum mit ihr zu verweilen. Endlich war sie wieder allein. Rasselnd strich ihr der Atem durch die Kehle. Um sich zu beruhigen, zundete sich noch eine Zigarette an und rauchte sie langsam. Sie musste ein paar Minuten abschalten. Liebevoll streichelte sie das Gewehr. Gut, dass sie die Patronen nicht verschwendet hatte, auch wenn sie es in diesem Moment genossen hatte, die Brucke zu zerstoren. Khouri hatte eine gute Wahl getroffen.

Die Seiten der Waffe waren mit silbernen und goldenen Drachenmotiven in chinesischem Stil verziert.

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