Aus der Projektionssphare sprach eine Stimme.
Volyova blickte auf und sah in Sonnendiebs Gesicht.
Sie hatte gewusst, wie er aussehen musste, seit ihr Pascale die Bedeutung des Namens erklart hatte. Es war genauso, wie sie gedacht hatte, und doch viel schlimmer. Denn sie sah das Alien nicht nur von au?en. Sie sah auch, wie es sich selbst sah — und sie sah, dass Sonnendieb unter einer massiven Geistesstorung litt. Nagorny fiel ihr ein. Sie verstand, was den Mann in den Wahnsinn getrieben hatte, und konnte ihm kaum noch bose sein — nicht, wenn er die ganze Zeit dieses Wesen im Kopf gehabt hatte, ohne zu ahnen, woher es kam oder was es von ihm wollte. Nein; jetzt hatte sie Mitleid mit dem toten Waffenoffizier. Der arme Teufel war zu bedauern. Vielleicht ware auch sie in eine Psychose gesturzt, wenn hinter jedem Traum, jedem wachen Gedanken dieses Gespenst gelauert hatte.
Sonnendieb mochte einst ein Amarantin gewesen sein. Aber er hatte sich verandert, vielleicht sogar gezielt, mit Hilfe der Gentechnik, die durch selektiven Druck aus ihm und seinen Stammesgenossen eine ganz neue Spezies gemacht hatte. Die Verbannten hatten ihre Anatomie fur den Flug in der Schwerelosigkeit umgestaltet und sich riesige Flugel wachsen lassen. Volyova sah sie hinter dem schmalen, gerundeten Kopf aufragen, der sich zu ihr herabneigte.
Es war ein Totenkopf. Die Augenhohlen waren nicht vollig leer und nicht vollig hohl, sondern bis zum Rand gefullt mit einer unendlich tiefen Schwarze, die so dunkel und zugleich ohne Tiefe war, wie sie sich die Membranen der Schleierweber vorstellte. Sonnendiebs Knochen verbreiteten ein fahles Licht.
»Entgegen meinen fruheren Au?erungen«, bemerkte sie, als sich der erste Schock gelegt oder zumindest auf ein ertragliches Ma? abgeschwacht hatte, »hattest du inzwischen wohl eine Moglichkeit finden konnen, mich zu toten. Wenn du das wolltest.«
»Woher willst du wissen, was ich will?«
Seine Sprache war ein wortloses Nichts, wie aus Stille geschnitten, das aber doch irgendwie Bedeutung vermittelte. Die mehrfach gegliederten Kieferknochen bewegten sich nicht. Volyova erinnerte sich, dass die Sprache fur die Amarantin nie das wichtigste Kommunikationsmittel gewesen war. Die gesellschaftlichen Beziehungen beruhten auf visuellen Verstandigungsformen. Ein so grundlegendes Charakteristikum war sicher auch dann erhalten geblieben, als Sonnendieb mit seinem Schwarm Resurgam verlassen und die Transformationen eingeleitet hatte; jene radikalen Transformationen, die dafur sorgten, dass er und seinesgleichen fur geflugelte Gotter gehalten wurden, als sie nach langer Zeit auf ihre Welt zuruckkehrten.
»Ich wei?, was du nicht willst«, sagte Volyova. »Du willst nicht, dass Sylveste daran gehindert wird, Cerberus zu erreichen. Deshalb mussen wir jetzt sterben; damit wir keinen Weg finden konnen, um ihn aufzuhalten.«
»Seine Mission ist von gro?er Bedeutung fur mich«, sagte Sonnendieb. Dann verbesserte er sich: »Fur uns. Die Uberlebenden.«
»Und was habt ihr uberlebt?« Vielleicht war dies ihre einzige Chance, die Verhaltnisse wenigstens in Ansatzen zu verstehen. »Nein; warte — was konnte es anders sein als der Untergang der Amarantin? Ist es das? Habt ihr irgendeinen Weg gefunden, dem Tod zu entrinnen?«
»Du wei?t inzwischen, wann ich in Sylveste eingedrungen bin.« Das war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. Volyova fragte sich, wie viel von ihren Gesprachen Sonnendieb wohl mit angehort hatte.
»Es muss vor Lascailles Schleier gewesen sein«, sagte sie. »Nur das ergibt einen Sinn — wenn auch nicht allzu viel, wie ich zugeben muss.«
»Wir hatten dort Zuflucht gefunden; neunhundertundneunzigtausend Jahre lang.«
Die Ubereinstimmung war zu gro?; das konnte kein Zufall sein. »Seit euer Leben auf Resurgam endete.«
»Ja.« Das Wort verklang. Die Stille schien zu brodeln. »Wir hatten die Schleier errichtet; die letzte Verzweiflungstat unseres Schwarms, nachdem alle, die auf dem Planeten zuruckblieben, zu Asche verbrannt waren.«
»Ich verstehe nicht. Was Lascaille sagte und Sylveste auch selbst herausfand…«
»Man zeigte ihnen nicht die Wahrheit. Lascaille sah eine Fiktion — wir ersetzten unsere Identitat durch die einer viel alteren Kultur, die keinerlei Ahnlichkeit mit uns hatte. Der wahre Zweck der Schleier wurde ihm nicht offenbart. Man zeigte ihm eine Luge, um andere Besucher anzulocken.«
Jetzt begriff Volyova auch die Wirkungsweise des Manovers. Lascaille hatte man erklart, die Schleier seien Horte gefahrlicher Technik — wahre Fundgruben fur vieles, wonach die Menschheit insgeheim gierte, wie etwa fur Methoden der Raumfahrt mit Uberlichtgeschwindigkeit. Lascaille hatte das Sylveste offenbart und damit dessen Verlangen, das Ratsel der Schleier zu luften, noch weiter angeheizt. Zugleich hatte er Sylveste auf diese Weise ein Argument an die Hand gegeben, mit dem er die gesamte Demarchisten-Gesellschaft um Yellowstone fur sein Unternehmen gewinnen konnte, denn wer die Geheimnisse der Aliens als Erster entschlusselte, konnte damit rechnen, mit geradezu marchenhaften Reichtumern belohnt zu werden.
»Aber wenn das eine Luge war«, sagte sie, »was war dann der wahre Zweck der Schleier?«
»Wir haben sie errichtet, um uns dahinter zu verstecken, Triumvir Volyova.« Jetzt spielte er mit ihr, weidete sich an ihrer Verwirrung. »Es waren Zufluchtsorte. Umstrukturierte Raumzeit-Spharen, die uns Schutz boten.«
»Schutz vor wem?«
»Vor den Uberlebenden des Morgenkrieges. Sie sind auch als Unterdrucker bekannt.«
Sie nickte. Vieles verstand sie immer noch nicht, aber eines war ihr jetzt klar. Was Khouri ihr erzahlt hatte — die Fragmente jenes seltsamen Traums im Leitstand —, war tatsachlich die Wahrheit. Khouri hatte nicht alles in Erinnerung behalten, und sie hatte Muhe gehabt, die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge darzustellen, aber jetzt begriff Volyova, woran das lag. Man hatte Khouri etwas gezeigt, das zu gewaltig, zu fremd — zu apokalyptisch war, als dass ihr Verstand es hatte fassen konnen. Sie hatte ihr Bestes getan, aber das hatte nicht gereicht. Jetzt wurden Volyova Teile desselben Bildes aus einer ganz anderen Perspektive offenbart.
Khouri hatte die Geschichte des Morgenkrieges von der Mademoiselle gehort, und die hatte gewollt, dass Sylvestes Unternehmen scheiterte. Sonnendieb dagegen wunschte sich mit aller Inbrunst, dass Sylveste Erfolg haben moge.
»Was willst du?«, fragte Volyova. »Ich wei?, warum du hier bist: du willst mich festnageln, du haltst mich hin, weil du wei?t, dass ich alles tun wurde, um eine Erklarung von dir zu bekommen. Und irgendwie hast du Recht. Ich muss es erfahren. Ich muss alles erfahren.«
Sonnendieb wartete schweigend, bis sie alle ihre Fragen gestellt hatte, dann beantwortete er sie.
Als Volyova fertig war, beschloss sie, eine der Kugeln in ihrem Patronengurt sinnvoll zu verwenden. Sie schoss auf die Projektionssphare. Die gro?e Glaskugel zersprang in unzahlige Scherben und bei der Explosion wurde auch Sonnendiebs Gesicht zerstort.
Khouri und Pascale steuerten auf Umwegen die Krankenstation an. Sie mieden alle Fahrstuhle und alle gut erhaltenen Korridore, die fur Drohnen leicht zuganglich waren. Sie hielten die Waffen standig im Anschlag und schossen auf alles, was ihnen auch nur im geringsten verdachtig vorkam, auch wenn es sich hinterher als Schatten oder als merkwurdig geformter Rostfleck an einer Wand oder einem Schott herausstellte.
»Hat er eigentlich vorher angedeutet, dass er schon fruher aufbrechen wollte?«, fragte Khouri.
»Nein, jedenfalls nicht so fruh. Ich meine, ich dachte mir schon, dass er es irgendwann versuchen wurde, aber ich habe mich bemuht, es ihm auszureden.«
»Was empfindest du jetzt?«
»Was soll ich darauf sagen? Er war mein Mann. Wir haben uns geliebt.« Pascale drohte zusammenzubrechen; Khouri streckte den Arm aus und fing sie auf. Pascale rieb sich die nassen Augen, bis sie rot waren. »Ich hasse ihn, weil er sich so verhalt… das wurdest du auch tun. Und ich kann ihn nicht verstehen. Aber ich liebe ihn immer noch. Ich denke standig… vielleicht ist er schon tot. Es ware doch moglich? Und selbst wenn nicht, es gibt keine Garantie, dass ich ihn jemals wiedersehe.«
»Sein Ziel ist wirklich nicht gerade der sicherste Ort«, bestatigte Khouri. Doch insgeheim fragte sie sich, ob Cerberus gefahrlicher sein konnte als das Schiff.
»Nein, ich wei?. Ich glaube, er ahnt gar nicht, in welcher Gefahr er schwebt — und wir mit ihm.«
»Andererseits reden wir hier von Sylveste, und er ist kein gewohnlicher Mensch«, gab Khouri zu bedenken. Er habe, erinnerte sie Pascale, sein Leben lang auffallend viel Gluck gehabt, es ware doch seltsam, wenn ihn das