logisch noch vernunftig — aber es musste sein. Sie stieg die Treppe zum Captainsdeck hinunter. Die Kalte war so durchdringend, dass ihr der Atem in der Kehle zu gefrieren schien. Ratten gab es hier unten nicht: zu kalt. Und Servomaten durften ihm nicht zu nahe kommen, wollten sie nicht riskieren, dass sie von der Seuche erfasst und zu einem Teil von ihm gemacht wurden.

»Konnen Sie mich horen, Dreckskerl?« Sie befahl ihrem Armband, ihn so weit zu erwarmen, dass bewusste Denkprozesse moglich wurden. »Wenn ja, dann geben Sie Acht. Jemand hat das Schiff ubernommen.«

»Kreisen wir noch um Bloater?«

»Nein… nein, wir kreisen nicht mehr um Bloater. Das ist schon lange her.«

Augenblicke spater fragte der Captain: »Ubernommen, sagen Sie? Wer?«

»Ein Alien mit ziemlich unerfreulichen Zielsetzungen. Die meisten von uns sind bereits tot — Sajaki, Hegazi, auch die anderen Besatzungsmitglieder, die Sie noch kannten — und wer noch ubrig ist, sieht zu, dass er das Schiff verlasst, so lange er noch kann. Ich rechne nicht damit, wieder an Bord zuruckzukehren, und deshalb werde ich jetzt etwas tun, das Ihnen ziemlich drastisch vorkommen mag.«

Sie zielte mit dem Nadler auf den aufgeplatzten, verformten Kalteschlaftank, der den Captain nicht mehr hatte halten konnen.

»Ich werde Sie erwarmen, verstehen Sie? Jahrzehntelang konnten wir nicht mehr fur Sie tun, als Sie moglichst kuhl zu halten — aber das hat nicht funktioniert, vielleicht war es von vornherein falsch. Vielleicht konnen wir nur noch zusehen, wie Sie das verdammte Schiff ubernehmen — auf Ihre Weise.«

»Ich glaube nicht…«

»Was Sie glauben, ist mir egal, Captain. Ich tue es trotzdem.«

Der Finger auf dem Ausloser spannte sich, wahrend sie im Geiste berechnete, wie viel schneller er sich ausbreiten wurde, wenn er sich erwarmte. Sie kam auf ziemlich unwahrscheinliche Ergebnisse… aber schlie?lich hatten sie diese Ma?nahme auch noch nie erwogen.

»Ilia, bitte.«

»Horen Sie zu, Svinoi«, sagte sie barsch. »Vielleicht funktioniert es ja, vielleicht auch nicht. Aber wenn ich Ihnen jemals Loyalitat bewiesen habe — wenn Sie sich uberhaupt noch an mich erinnern —, dann verlange ich dafur nur eines: tun Sie fur uns, was Sie konnen.«

Sie wollte schie?en; wollte die Nadlergeschosse in den Tank jagen, doch sie zogerte noch.

»Eins muss ich Ihnen doch noch sagen. Ich glaube zu wissen, wer, zum Teufel, Sie sind, oder vielmehr, wer, zum Teufel, Sie geworden sind.«

Sie spurte deutlich, wie ihr der Mund trocken wurde. Sie wusste, dass sie kostbare Zeit verschwendete, aber etwas drangte sie fortzufahren.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Sie sind mit Sajaki zu den Musterschiebern gereist, nicht wahr? Ich wei? es. Es wurde an Bord oft genug erwahnt — sogar von Sajaki selbst. Aber niemand hat je erzahlt, was dort geschehen ist: was die Schieber mit Ihnen beiden angestellt haben. Oh, ich wei?, es gab Geruchte — aber mehr auch nicht; sie waren von Sajaki lanciert, um mich von der Fahrte abzubringen.«

»Nichts ist geschehen.«

»Nein; nur eines. Sie haben Sajaki schon damals getotet, vor all den Jahren.«

Seine Antwort klang belustigt, als habe er sie missverstanden. »Ich soll Sajaki getotet haben?«

»Die Schieber haben das fur Sie erledigt; Sie haben sie beauftragt, seine Neuralstrukturen zu loschen und seinem Bewusstsein Ihre Strukturen aufzupragen. Damit wurden Sie zu ihm.«

Sie war fast fertig, aber sie holte noch einmal tief Luft.

»Sie hatten mit einer Existenz nicht genug — und vielleicht ahnten Sie schon damals, dass Ihr Korper nicht mehr lange durchhalten wurde; zu viele Viren waren in ihm. Also bemachtigten Sie sich Ihres Adjutanten. Die Schieber taten, was Sie von ihnen verlangten, weil sie uns so fremd sind, dass sie mit dem Begriff Mord nichts anzufangen wussten. So war es doch, nicht wahr?«

»Nein…«

»Schweigen Sie. Deshalb wollte Sajaki nicht, dass Sie geheilt wurden — er war ja bereits Sie und brauchte keine Heilung. Und deshalb konnte Sajaki auch mein Gegenmittel abschwachen — weil er uber Ihre Fachkenntnisse verfugte. Schon dafur sollte ich Sie umbringen, Svinoi — aber leider sind Sie schon tot, denn was von Sajaki noch ubrig ist, klebt an den Wanden der Krankenstation.«

»Sajaki — tot?« Er hatte offenbar nicht mitbekommen, was sie ihm uber die Todesfalle erzahlt hatte.

»Ausgleichende Gerechtigkeit, finden Sie nicht? Jetzt sind Sie allein. Ganz auf sich gestellt. Sie konnen nur noch eines tun, um Ihre Existenz gegen Sonnendieb zu behaupten: Sie konnen wachsen. Der Seuche ihren Lauf lassen.«

»Nein… bitte.«

»Haben Sie Sajaki getotet, Captain?«

»Das ist… so lange her…« Aber er leugnete nicht mehr so entschieden. Volyova jagte die Nadlergeschosse in den Tank und wartete, bis die wenigen Anzeigen auf der Au?enhulle flackernd erloschen. Die Kalte lie? von Sekunde zu Sekunde nach, das Eis auf dem Tank begann feucht zu glanzen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Ich wollte nur die Wahrheit wissen. Ich wunsche Ihnen viel Gluck, Captain.«

Dann rannte sie davon, um nicht sehen zu mussen, was hinter ihr geschah.

Sie schwebten in den Trichter und machten sich an den Abstieg. Sajakis Anzug blieb immer dicht vor Sylveste. Der Bruckenkopf, ein umgedrehter Kegel, steckte zur Halfte in der Kruste. Vor wenigen Minuten war er noch winzig klein gewesen, jetzt sah Sylveste nur noch ihn, die steilen, grauen Wande versperrten nach allen Seiten den Blick auf den Horizont. Gelegentlich erzitterten sie, dann wurde Sylveste wieder daran erinnert, dass der Bruckenkopf immer noch gegen die Verteidigungsanlagen in der Kruste kampfte und man sich besser nicht blind auf seinen Schutz verlassen sollte. Wenn er unterlag, wurde er binnen weniger Stunden aufgezehrt; dann wurde sich die Wunde in der Kruste schlie?en, und Sylveste ware der Fluchtweg versperrt.

»Reaktionsmasse muss erganzt werden«, verkundete der Anzug.

»Wie bitte?«

Sajaki meldete sich zum ersten Mal, seit sie das Schiff verlassen hatten. »Wir haben auf dem Weg hierher viel Masse verbraucht, Dan. Wir mussen nachtanken, bevor wir uns auf feindliches Territorium begeben.«

»Und wo?«

»Sehen Sie sich um. Hier gibt es jede Menge Reaktionsmasse, die nur auf uns gewartet hat.«

Naturlich. Nichts konnte sie hindern, dem Bruckenkopf selbst neue Ressourcen zu entnehmen. Sylveste war einverstanden. Sajaki ubernahm die Kontrolle uber seinen Anzug. Eine der steilen, gekrummten, mit verschnorkelten Auswuchsen und Trauben von Geraten ubersaten Wande kam naher. Ihre Gro?e war uberwaltigend, wie eine Deichmauer, die so weit zum Kreis gebogen worden war, bis ihre Enden sich trafen. Irgendwo in dieser Mauer steckten die Leichen Alicias und der anderen Meuterer…

Es herrschte genugend Schwerkraft, um starke Hohenangste zu erzeugen, die noch dadurch verstarkt wurden, dass sich der Bruckenkopf nach unten verjungte und wie ein unendlich tiefer Schacht wirkte. Fast einen Kilometer unterhalb von Sylveste hatte Sajakis Anzug, ein sternformiger Fleck, die gegenuberliegende Wand beruhrt. Augenblicke spater erreichte auch Sylveste ein schmales Sims, das nicht mehr als einen Meter aus der Wand ragte, und landete weich auf den Fu?en. Ein Schritt nach ruckwarts — und er konnte jederzeit weiter ins Nichts sturzen.

»Was muss ich tun?«

»Nichts«, sagte Sajaki. »Ihr Anzug wei?, was notig ist. Ich kann Ihnen nur raten, ihm allmahlich etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen: nur er erhalt Sie schlie?lich am Leben.«

»Soll mir das Geborgenheit geben?«

»Halten Sie Geborgenheitsgefuhle in dieser Situation fur angemessen? Sie stehen im Begriff, in die fremdeste Welt einzudringen, die je ein Mensch betreten hat. Sich hier geborgen zu fuhlen ware wohl nicht ganz das Richtige.«

Sylveste sah, wie sich ein Schlauch aus der Brust seines Anzugs schob und an der Bruckenkopfwand

Вы читаете Unendlichkeit
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату