»Es ist, wie ich sagte: eine Warnung. Hier steht, wir sollten nicht weitergehen.«

»Was vermutlich bedeutet, dass wir von unserem Ziel nicht mehr weit entfernt sind.«

Den Eindruck hatte auch Sylveste, ohne ihn begrunden zu konnen. »Die Warnung besagt, dass sich da unten etwas befindet, was wir nicht sehen sollen«, sagte er.

»Sehen? Steht das wortlich so da?«

»Das Denken der Amarantin ist stark visuell gepragt, Sajaki. Was immer es ist, sie wollen, dass wir ihm nicht zu nahe kommen.«

»Was den Schluss zulasst, dass es wertvoll ist — meinen Sie nicht auch?«

»Und wenn die Warnung nun aufrichtig gemeint ware?«, fragte Calvin. »Keine Drohung; sondern eine echte, von Herzen kommende Bitte, sich fern zu halten. Kannst du aus dem Kontext erschlie?en, ob das der Fall ist?«

»Wenn es die mir vertraute Amarantin-Schrift ware, vielleicht.« Sylveste verschwieg, dass er die Botschaft genau so interpretierte wie Calvin, aber diesen Eindruck nicht rational beweisen konnte. Doch das schreckte ihn nicht ab. Er fragte sich vielmehr, was die Amarantin dazu bewogen haben konnte; was so schlimm war, dass es in einer kunstlichen Welt eingeschlossen und mit den starksten Waffen verteidigt werden musste, die je eine Zivilisation gekannt hatte. Was war so unsagbar schrecklich, dass man es nicht einfach zerstoren konnte? Was fur ein Monstrum hatten sie geschaffen?

Oder gefunden?

Der Gedanke traf ihn wie ein Geschoss und fand in seinem Bewusstsein ein Loch, das wie fur ihn geschaffen war. Als gehorte er dorthin. Sonnendiebs Schwarm hat etwas gefunden. Weit drau?en am Rand des Systems hat er eine Entdeckung gemacht.

Wahrend er noch mit dieser Erkenntnis kampfte, losten sich die entzifferten Schriftzeichen aus dem Schacht und lie?en Hohlraume zuruck. Andere folgten; ganze Worter, Phrasen, Satze schalten sich ab und umkreisten Sajaki und Sylveste lauernd wie riesige Gebaude. Sie schwebten frei, gehalten von einem unbekannten Mechanismus, der weder mit gravitationellen noch mit magnetischen Schwankungen arbeitete und daher fur die Sensoren des Anzugs nicht wahrnehmbar waren. Sylveste war von der absoluten Fremdheit dieser Objekte zunachst wie betaubt, doch dann begriff er, dass hier eine Logik am Werk war, gegen die es keinen Widerspruch gab. Was ware wirkungsvoller als eine Warnung, die sich, wenn sie missachtet wurde, selbst in die Tat umsetzte?

Plotzlich blieb fur derart abstrakte Uberlegungen keine Zeit mehr.

»Anzugverteidigung auf Automatik.« Die Stimme des sonst so unerschutterlichen Sajaki kletterte eine volle Oktave hoher. »Mir scheint, diese Gebilde wollen uns zermalmen.«

Als hatte Sylveste das nicht schon selbst gemerkt!

Die schwebenden Worte hatten sich um sie herum zu einer Kugel geordnet und ruckten bedrohlich naher. Sylveste uberlie? seinem Anzug die Initiative. Sichtschilde wurden aktiviert, um die Retina vor der zerstorerischen Helligkeit der Plasma-Explosionen zu schutzen. Alle manuellen Steuerungen wurden vorubergehend au?er Kraft gesetzt. Das hatte gute Grunde: das Letzte, was der Anzug jetzt brauchte, war ein Mensch, der glaubte, die anstehenden Aufgaben besser erledigen zu konnen. Trotz der schweren Abschirmung tanzte ein Feuerwerk vor Sylvestes Augen. Photonenereignisse reizten seine Schaltkreise. Gleich au?erhalb der Anzughulle tobten multispektrale Strahlungen von todlicher Intensitat. Er spurte heftige Bewegungen; Schubsto?e vermutlich, die so stark waren, dass er immer wieder das Bewusstsein verlor. Er kam sich vor wie ein Zug, der durch eine ganze Serie von Gebirgstunneln fuhr. Vermutlich wollte sein Anzug weglaufen und wurde immer wieder radikal abgebremst. Irgendwann fiel er in eine tiefe, lange Ohnmacht.

Volyova fuhr den Schub der Melancholie bis auf fast vier Ge Dauerbeschleunigung hoch und baute zusatzlich willkurliche Schwenks ein, fur den Fall, dass das Lichtschiff mit kinetischen Waffen schie?en sollte. Mehr Druck konnten sie ohne Schutzanzuge mit Brust- und Ruckenschilden nicht ertragen und auch dieser Wert war unangenehm, besonders fur Pascale, die an solche Belastungen noch weniger gewohnt war als Khouri. Sie konnten ihre Sitze nicht verlassen, und alle Armbewegungen mussten auf ein Minimum reduziert werden. Immerhin konnten sie ein mehr oder weniger zusammenhangendes Gesprach miteinander fuhren.

»Du hattest Kontakt mit ihm?«, fragte Khouri. »Mit Sonnendieb, meine ich. Ich habe es dir angesehen, als du kamst, um uns vor den Ratten in der Krankenstation zu retten. Es stimmt doch, nicht wahr?«

Volyovas Stimme klang leicht gepresst, als wurde sie gerade langsam stranguliert.

»Wenn ich an deiner Geschichte noch Zweifel hatte, so verschwanden sie in dem Moment, als ich in sein Gesicht sah. Ich hatte ein Alien vor mir, soviel war sicher. Und ich begriff allmahlich, was Boris Nagorny durchgemacht haben musste.«

»Du meinst, was ihn in den Wahnsinn trieb.«

»Glaube mir, wenn dieses Wesen sich in meinem Kopf eingenistet hatte, ware es mir nicht anders ergangen. Au?erdem befurchte ich, dass etwas von Boris in Sonnendieb eingedrungen sein konnte.«

»Was glaubst du denn, wie mir zumute ist?«, fragte Khouri. »Ich habe das Ding in meinem Kopf.«

»Das ist nicht wahr.«

Volyova schuttelte den Kopf, was bei vier Ge schon an Verwegenheit grenzte. »Er hatte dein Bewusstsein fur eine Weile besetzt, Khouri — so lange, bis er die Reste der Mademoiselle unterdruckt hatte. Aber dann hat er dich verlassen.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Als Sajaki dich trawlen wollte. Vermutlich war es mein Fehler. Ich hatte nicht zulassen durfen, dass er das Gerat uberhaupt einschaltete.« Fur ein Schuldbekenntnis klang das bemerkenswert wenig zerknirscht. Vielleicht genugte Volyova schon das Eingestandnis allein. »Als der Scanner auf deine Neuralmuster zugriff, bettete sich Sonnendieb darin ein und gelangte mit den verschlusselten Daten in den Trawl. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung in alle anderen Schiffssysteme.«

Die drei dachten schweigend nach, bis Khouri endlich sagte: »Sajaki gewahren zu lassen war nicht gerade deine klugste Entscheidung, Ilia.«

»Nein«, gab Volyova zu, als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen. »Das muss man wohl so sehen.«

Als er — zehn Sekunden oder zehn Minuten spater — wieder zu sich kam, waren die Sichtschilde abgeschaltet, und er fiel ungebremst durch den Schacht. Er schaute nach oben. Kilometerweit uber ihm leuchtete die Reststrahlung des kurzen Gefechts. Die Schachtwande waren von den Energiestrahlen zerschrammt. Einige der Worte schwebten immer noch im Kreis herum, aber Teile davon waren abgesplittert, so dass sie nicht mehr viel Sinn ergaben. Und sie hatten aufgehort, sich als Waffen zu gebarden, als hatten sie eingesehen, dass ihre Warnung nicht mehr verstandlich war. Wahrend er noch hinaufsah, kehrten sie auf ihre Platze zuruck wie Krahen, die sich verdrossen in ihre Nester zuruckzogen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Wo war Sajaki?

»Was, zum Teufel, ist passiert?«, fragte Sylveste. Er konnte nur hoffen, dass sein Anzug die Frage auch richtig interpretierte. »Wohin ist er verschwunden?«

»Es gab einen Zusammensto? mit einem autonomen Verteidigungssystem«, teilte ihm der Anzug so gleichgultig mit, als sprachen sie uber das Wetter.

»Danke, das habe ich mitbekommen, aber wo ist Sajaki?«

»Sein Anzug wurde bei einem der Ausweichmanover schwer getroffen. Verschlusselte Telemetriesignale lassen umfangreiche und moglicherweise irreparable Schaden an primaren und sekundaren Antriebsaggregaten vermuten.«

»Ich habe gefragt, wo er ist?«

»Sein Anzug konnte weder die Fallgeschwindigkeit bremsen, noch dem Coriolis-Effekt entgegenwirken, der ihn gegen die Wande trieb. Die Telemetriesignale zeigen an, dass er sich funfzehn Kilometer unter Ihnen befindet und immer noch weiter sturzt. Die Blauverschiebung relativ zu Ihrer Position betragt eins Komma eins Kilometer pro Sekunde, Tendenz steigend.«

»Er fallt noch immer?«

»Da seine Antriebsaggregate ausgefallen sind und bei seiner derzeitigen Geschwindigkeit keine Monofil- Bremsleine ausgefahren werden kann, wird er wahrscheinlich so lange weiter sturzen, bis er am Schachtende

Вы читаете Unendlichkeit
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату