»Nee, Lovisabetchen«, sagte Stina streng und hob die Puppe schnell wieder hoch. »Kleine Kinder durfen nicht auf Stegen sitzen, das wei?t du doch!«
Aber Tjorven beruhigte sie.
»Doch, wenn ihre Mama dabei ist. Und Tante Tjorven. Dann durfen sie.«
Das Seltsame am Sommer ist, da? er so schnell vergeht, schrieb Malin in ihr Tagebuch.
Bevor Melchersons sich so recht besinnen konnten, war ihr erster Sommer auf Saltkrokan schon vorbei, und es war Zeit, wieder in die Stadt zuruckzukehren.
»Etwas Bloderes kann ich mir wirklich nicht vorstellen«, sagte Niklas. »Weshalb mussen die Schulen mitten in den Sommerferien anfangen? Kannst du nicht an die Schulbehorde schreiben, Papa, und ihnen sagen, sie mochten diese Dummheiten doch endlich einmal lassen?«
Melcher schuttelte den Kopf. Die Schulbehorde sei eisern, sagte er, man musse sich fugen.
Ganz kurzlich sind wir erst hergekommen, schrieb Malin ins Tagebuch, und nun sollen wir schon wieder alles verlassen. Es fallt einem schwer. Pelle mu? sein Kaninchen verlassen und seine Walderdbeeren, Johann und Niklas ihre Hutten und Angelruten und Badefelsen und Wracks, Papa seinen morgenlichten Sund, seinen Kahn und sein Schreinerhaus. Und ich, was mu? ich verlassen? Meine Sommerwaldchen, meine Apfelbaume und meine Pfifferlingsstellen. Meine kleinen einsamen Waldpfade. Die abendliche Stille. Nicht mehr auf der Treppe sitzen zu konnen und die Mondstra?e uber dem dunklen Fjord zu sehen, keine nachtlichen Schwimmausfluge machen zu konnen unter einem Himmel, der von Sternen gluht, nicht mehr in einer kleinen Bodenkammer zu schlafen mit dem Wiegenlied der Dunung im Ohr, das wird mir schwerfallen. Und dann die Menschen hier, die unsere Freunde geworden sind, die mussen wir auch verlassen. Oh, wie werde ich sie vermissen!
Aber wir wollen ein gebuhrendes Abschiedsmahl richten, das hat Papa bestimmt, und ich brute schon uber der Speisenfolge. Gedampfter Barsch nach Melchers Art, wie ware das? Und dann Stromlingsauflauf und Pfifferlingsomelett und vielleicht ein paar kleine gute Fleischklo?e. Zum Kaffee Sahnetorte …
Melcher freute sich sehr auf sein Festmahl. Er hatte es gern mit einem Feuerwerk beendet, das wurde der Hohepunkt des Sommers werden, behauptete er. Aber dagegen straubte sich Malin, denn ihr fiel ein Krebsessen ein, bei dem Melcher aus Versehen das ganze Feuerwerk auf einmal abgebrannt hatte.
»Der Hohepunkt des Sommers, o ja, das glaub ich gern«, sagte Malin. »Aber hier gibt's kein neues Feuerwerk, bis die Narben vom vorigen nicht mehr zu sehen sind.«
Sahnetorte war ein ruhigerer Abschlu?, fand sie, und die wurde drau?en im Garten gereicht, an einem warmen Sonntag im August, als der Fjord wie ein Spiegel dalag und alles »sommeriger war als je zuvor«, wie Niklas behauptete.
Pelle und Tjorven und Stina sa?en auf der Vortreppe des Schreinerhauses, und Malin tat ihnen so viel Sahnetorte auf die Teller, wie sie nur in sich hineinbekamen. Pelle a?, aber er war genau wie Melcher der Meinung, Feuerwerk hatte mehr Spa? gemacht.
»Ja, aber stell dir vor, du hattest zusehen mussen, wie Papa explodiert und mit lodernden Haaren uber Harskar davongeflogen ware«, sagte Malin. »War die Torte ubrigens nicht gut?«
»Malin, wei?t du was«, sagte Tjorven, »die ist so infernalisch gut, da? man schmatzen mu?, wenn man sie i?t.«
»Oh, oh, oh«, sagte Malin, »ich bin schon zufrieden, wenn du nur sagst, sie ist gut.«
»Nee, das wurde sich ja anhoren, als ob ich von Knackebrot rede«, sagte Tjorven.
Soderman trank drei Tassen Kaffee, obgleich er wu?te, da? das seinem Magenknurren nicht gut bekam, aber er musse etwas zum Trost haben, behauptete er, da Malin ihn jetzt verlassen wolle.
»Ja, wenn das etwas nutzt, dann mochte ich bitte eine ganze Wanne voll haben«, sagte Bjorn und hielt Malin seine Tasse hin. Sein Blick war duster, und sie vermied es, ihn anzusehen.
»Sonst ist es mit Sommergasten immer so«, sagte Nisse, »da? man es nett findet, wenn sie kommen, und auch, wenn sie wegfahren, besonders wenn sie wegfahren. Aber das Schreinerhaus ohne Melchersons, das wird wirklich leer werden!«
»Ihr kommt ja zum Gluck im nachsten Sommer wieder«, sagte Marta. In dem Augenblick hatte Melcher eine glanzende Idee. »Weshalb sollten wir nicht Weihnachten im Schreinerhaus feiern? Haha, wer ist der Umsichtigste auf der ganzen Welt? Melcher Melcherson! Ich habe vorsichtshalber fur ein ganzes Jahr gemietet.«
Alle Kinder brachen in ein Freudengeschrei aus, und Malin wandte sich eifrig an Marta und Nisse.
»Kann man das? Kann man im bitterkalten Winter im Schreinerhaus wohnen?«
»Wenn wir Mitte Oktober anfangen, fur euch zu heizen, vielleicht«, sagte Nisse.
Melcher erklarte, man konne nicht ein ganzes gro?es Schreinerhaus, fur das man Miete gezahlt habe, ohne jeden Zweck leer stehen lassen. Wollte man fur sein Geld etwas haben, dann musse man Weihnachten dort feiern, und wenn einem die Ohren abfroren. Er packte Tjorven und tanzte mit ihr herum.
»Hei?a und hopsa und fallerallera, Heiligabend sind wir frohlich und alle wieder da«, schrie er. Und ubrigens nicht nur Heiligabend, sondern auch jetzt in der Stunde des Abschieds, sagte Melcher, da sie sich ja schon in wenigen Monaten wiedersehen wurden. »Nur frohe Gesichter mochte ich um mich sehen! Horst du, was ich sage, Bootsmann?« fragte er streng, denn Bootsmann lag da und sah betrubter aus als je zuvor. »Malin, gib ihm den Rest von der Torte, wir wollen mal sehen, ob es etwas nutzt«, sagte Melcher.
Und Bootsmann fra? die Sahnetorte, aber mit unerschutterlich trauriger Miene.
»Und trotzdem findet er sie so infernalisch gut, das wei? ich«, sagte Tjorven.
Pelle sa? auf der Treppe, den Kopf auf die Hande gestutzt. Er fuhlte sich genauso duster, wie Bootsmann aussah. Alles hatte immer ein Ende, Sahnetorten und Sommer und vielleicht das ganze Leben, was wu?te er! Aber ein kleines Stuck Sahnetorte war merkwurdigerweise ubriggeblieben, und als das Festmahl voruber war, stand die Tortenplatte zur Freude aller Wespen noch immer an der Giebelseite auf dem Gartentisch.
Gluckliche Wespen, die durfen im Schreinerhaus bleiben, denn kleine Wespenkinder brauchen nicht in die Stadt zu reisen und in die Schule zu gehen, was haben die es gut, dachte Pelle.
Sie wurden indessen um das Stuck Torte gebracht. Tjorven hatte es bemerkt, und sie verscheuchte die Wespen. Drei Stuck Torte hatte sie vorher schon verputzt, dieses hier aber sah besser aus als irgendein anderes mit seiner kleinen hellrosa Marzipanrose obendrauf, und Tjorven wollte es haben. Sie sah sich nach Malin um, denn sie war es nicht gewohnt, Sachen ohne Erlaubnis zu nehmen. Aber Malin war mit Bjorn verschwunden, und Herr Melcher war ebenfalls nirgendwo zu sehen. Es war ganz einfach keiner da, den sie fragen konnte, und jeden Augenblick konnte jemand anders kommen und das Stuck Torte entdecken, jemand, der es vielleicht auch haben wollte. Daher war es eilig. Und daher faltete Tjorven die Hande und betete:
»Lieber Gott, darf ich das Stuck Torte nehmen?«
Und sie antwortete sich selbst mit der tiefsten Ba?stimme, die sie zustande bringen konnte: »Ja, gewi? darfst du das.«
Und dann war die Torte zu Ende. Das Mahl war zu Ende. Der Sommer war zu Ende – oder nicht?
Nein, der Sommer war noch nicht zu Ende, nur weil Melchersons die Insel verlie?en. Es kamen warme Septembertage mit Hummelgesumm und Schmetterlingsflattern, es kamen Oktobertage, so still und klar wie Kristall, die Bootsschuppen am Anlegesteg spiegelten sich klar im Wasser, da? man kaum wu?te, was Spiegelbild war und was Wirklichkeit. Tjorven aber wu?te es, und sie erklarte es Bootsmann.
»Was da auf dem Kopf steht, das sind auch Bootsschuppen, allerdings nur fur Meerjungfrauen, verstehst du. Sie schwimmen rein und raus und spielen den ganzen Tag.«
Und in den Bootsschuppen, die nicht auf dem Kopf standen, spielte Tjorven mit Bootsmann Versteck. Ohne ihn ware sie ziemlich verlassen gewesen, Teddy und Freddy waren jetzt jeden Tag in der Schule und Pelle und Stina weit weg in einem fernen Stockholm, in das sie selbst noch nie ihren Fu? gesetzt hatte und von dem sie nichts wu?te. Aber sie hatte Bootsmann, und au?erdem fullte sie ihre Tage mit den seltsamen und wunderbaren Spielen des Einzelkindes aus. Sie entbehrte nichts.
Und langsam senkte sich das herbstliche Dunkel auf Saltkrokan und die Menschen, die dort lebten. Abends leuchtete es sparlich aus den Fenstern, kleine, einsame Lichter in all dem Kohlschwarz. Hier drau?en auf den