Tjorven weinend auf dem Hang hinter Sodermans Hutte. Sie weinte sonst nur vor Zorn, aber dies waren Tranen des Leides und ruhrten von Frost in Fingern und Zehen her und von einem Gefuhl der Verlassenheit, das einen uberkommt, wenn man stundenlang im Schnee herumgestiefelt ist und plotzlich merkt, wie furchterlich man friert und da? bei Soderman alles abgeschlossen ist und bei ihr selbst niemand zu Haus und auch im Schreinerhaus keiner, und wenn Teddy und Freddy vergessen haben, da? sie versprochen hatten, nach einem zu sehen, wahrend Mama und Papa in Norrtalje sind.
Wenn man dann plotzlich Malin sieht, dann kommen einem die Tranen, die man bis jetzt nur als einen Klumpen im Hals gehabt hat, plotzlich aus den Augen gesturzt. Wie kann das Leben fur ein kleines Kind blo? so kalt und schrecklich und einsam sein – oh, da? aber Malin trotzdem gekommen ist!
Und Malin nahm sie auf den Arm und trug sie zum Schreinerhaus und sang ihr etwas vor, wahrend sie dahinging:
»A-B-C, die Tjorven lief im Schnee.
Der Schnee ist kalt, die Tjorven weint,
weil leider keine Sonne scheint.
A-B-C, das Frieren tut so weh.«
Als sie dann in die Kuche vom Schreinerhaus kamen, da machte Malin etwas Seltsames, etwas uberaus Seltsames, fand Tjorven.
»Man kann sich doch nicht mitten am Tag ausziehen und ins Bett legen«, sagte Tjorven.
»Doch, wenn man kleinen Kindern die Zehen aufwarmen will, dann ist dies das beste Mittel«, versicherte Malin.
Sie kuschelten sich beide auf Malins Kuchensofa zusammen, und da war es warm, es war das Himmelreich fur ein Kind, das vier Stunden lang im Schnee herumgestapft war. Tjorvens Augen begannen zu glanzen. »Fuhlst du meine Zehen?« fragte sie. Malin versicherte ihr mit einem Schauder, das tue sie, denn so kalte Kinderzehen waren wohl noch nie auf diesem Kuchensofa aufgetaut worden.
Tjorven konnte sich uber Malins seltsame Einfalle gar nicht genug wundern. Ab und zu lachte sie auf. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt.
»Man kann sich doch nicht mitten am Tag ins Bett legen«, sagte sie von neuem.
»Doch, wenn ›das Frieren so weh tut, da? die Tjorven weint‹, dann mu? man«, sagte Malin.
Tjorven gahnte.
»Ach was, sing doch nicht dies traurige Lied«, murmelte sie. »Sing eins, von dem einem die Zehen warm werden.«
Malin lachte.
»Eins, von dem einem die Zehen warm werden?«
Von dort, wo sie lag, konnte sie die Eisblumen am Fenster sehen und die fahle Wintersonne, die so kalt durch die Aste des Mehlbeerbaumes schien und so bald wieder unterging und Saltkrokan in Dunkel und klirrendem Frost zurucklie?. Wahrlich, hier brauchte man ein Lied, von dem einem die Zehen warm wurden!
»Drau?en wehn die Sommerwinde,
Kuckuck ruft in hoher Linde«,
sang Malin. Aber da befiel sie eine so heftige Sehnsucht nach dem Sommer, da? sie nicht weitersingen konnte. Und das war auch nicht notig. Denn jetzt war Tjorven eingeschlafen.
An einem Fruhlingstag fiel Tjorven vom Anlegesteg ins Wasser. Sie hatte in dem Glauben gelebt, sie konne mindestens funf Schwimmzuge, aber jetzt merkte sie, da? das ein Irrtum war. Trotzdem bekam sie keine Angst, denn bevor es dazu kam, war Bootsmann da und zog sie heraus, und als Nisse angelaufen kam, stand sie schon auf dem Anleger und druckte das Wasser aus ihren Haaren.
»Wo ist deine Schwimmweste?« fragte Nisse streng.
»Papa, wei?t du was«, sagte Tjorven, »wenn ich Bootsmann habe, brauch ich fast keine Schwimmweste.« Sie legte die Arme um Bootsmann und lehnte ihren nassen Kopf an seinen. »Du, Bootsmann«, sagte sie zartlich, »du bist mein lieber kleiner Nodelhund.«
Bootsmann sah sie ernsthaft an, und wenn es stimmte, da? er denken konnte wie ein Mensch, dann dachte er vielleicht: Kleines Hummelchen, fur dich geh ich in den Tod, wenn du es willst, brauchst nur ein Wort zu sagen.
Tjorven streichelte ihn. Dann lachte sie zufrieden.
»Papa, wei?t du was«, sagte sie, aber Nisse unterbrach sie.
»Nein, Tjorven, keine weiteren ›wei?t du was‹, erst gehst du nach Haus und ziehst dich um.«
»Ja, ich wollte aber nur eben sagen, da? ich jetzt dreimal ins Wasser gefallen bin – haha, und Stina blo? zweimal.«
Und Tjorven zog los, stolz und na? und froh, um sich vor Stina zu zeigen. Soderman stand auf der Uferboschung unterhalb seiner Hutte und war dabei, seinen Kahn zu teeren. Der sollte jetzt ins Wasser gelassen werden. Ganz Saltkrokan war mitten im gro?en Fruhlingstaumel. Das Wasser stromte offen dahin, alle Boote mu?ten hergerichtet werden, die Insel lag standig unter einem Dunst von Teer und Farbe und standig in einem Qualm von brennenden Laubhaufen, denn auch die Grundstucke wurden gro?reingemacht. Uber allen anderen Geruchen lag der Geruch des Meeres. Soderman spurte ihn in der Nase, und die Fruhlingssonne warmte ihm den Rucken. Der Kahn schien schon zu werden, Soderman war ganz zufrieden. Aber sein Kopf wurde allmahlich mude. Stina sa? auf einem Stein neben ihm und erzahlte ihm Marchen, Marchen, die nie zu Ende gingen. Der arme Soderman, er konnte nicht auseinanderhalten, welcher Prinz in ein Wildschwein verwandelt wurde und welcher in einen Adler. Aber Stina horte ihn regelma?ig ab und duldete keinen Fehler.
»Rat mal, wer sonst noch verwunschen wurde«, sagte Stina. Da aber stand plotzlich Tjorven vor ihr, na? wie eine Meerjungfrau. »Rat mal, wer ins Wasser gefallen ist.«
Stina guckte sie schweigend an. Sie wu?te nicht, da? man sich damit brusten konnte, ins Wasser gefallen zu sein. Jetzt aber sah sie Tjorvens siegessichere Miene, und sie sagte unsicher:
»Rat mal, wer – Sonntag ins Wasser fallt.«
»Du jedenfalls nicht«, sagte Soderman. »Sonst schick ich dich namlich in die Stadt zuruck, wenn Melchersons abfahren.«
Melchersons hatten Stina mitgebracht, als sie kamen. Sie waren fur einen kurzen Fruhjahrsbesuch herausgekommen, denn Melcher war noch immer der Ansicht, da? man nicht ein ganzes gro?es Schreinerhaus, fur das man Miete gezahlt hatte, leer stehen lassen konnte. Und au?erdem – nie war Saltkrokan schoner als um diese Jahreszeit, wenn die Birken ihre ersten zarten Blatter bekamen und die ganze Insel ein Meer von wei?en Buschwindroschen war.
»Du lieber Himmel, der schwedische Fruhling!« sagte Melcher immer. »Kalt und armselig ist er, aber so schon, da? es einem das Herz aus der Brust rei?t!«
Da? der Fruhling kalt war, fuhlte Tjorven auch. Jetzt fror sie und wollte nach Hause und sich trockene Kleider anziehen. Aber als sie am Bootssteg des Schreinerhauses vorbeikam, sa? Herr Melcher hier im Ruderboot und muhte sich mit seinem alten Au?enbordmotor ab. Tjorven blieb stehen, so eilig hatte sie es auch wieder nicht.
Melcher unterhielt sich gern mit Tjorven. »Ich kann mir nichts Vergnuglicheres denken«, hatte er Malin anvertraut. »Und es ist schade, da? du uns nicht horen kannst, denn unsere Gesprache sind wirklich interessant. Wir unterhalten uns aber am besten, wenn wir allein sind.«
Jetzt hatten sie auch so ein kleines Gesprach unter vier Augen, wahrend Melcher an seinem Motor herumbastelte, und es war wirklich schade, da? Malin nicht horen konnte, wie lustig und interessant es klang. »Herr Melcher, ich bin ins Wasser gefallen«, sagte Tjorven, aber sie erhielt nur ein Brummen zur Antwort. Melcher zog und zerrte an der Startleine. Das schien er schon ziemlich lange getan zu haben, denn sein Gesicht war ganz rot angelaufen, und die Haare standen ihm nach allen Richtungen vom Kopf ab.
»Du hast nicht den richtigen Ruck, Herr Melcher«, sagte Tjorven. Melcher schaute zu ihr auf und lachelte nachsichtig. »Soo? Nicht?«