Melcher streichelte ihn beruhigend.

»So etwas nennt man Nachtmahr, wenn man so schrecklich traumt, aber davor brauchst du keine Angst zu haben.«

»Gemeiner Mahr«, brummte Niklas, »er ist mir mitten ins Gesicht gesprungen.«

Aber unter Pelles Decke, von seinen Armen fest umklammert, lag der kleine Mahr und lauerte nur auf die nachste Gelegenheit, wieder herauszukommen und zu spuken.

Und als das ganze Haus schlief, kletterte Pelle wieder in die Nacht hinaus und setzte Jocke in seinen Kafig zuruck.

»Man kann dich einfach nicht mit im Bett haben«, sagte er. »Ich glaube, mit einem Petroleumkamin wurde es fast besser gehen.«

Und bald erwachte ein neuer Fruhlingstag uber Saltkrokan, ein Tag, den keiner je vergessen sollte. Denn es war der Tag, an dem Moses auf die Insel kam und eine ganze Kette von Ereignissen in Gang setzte. Dabei war Moses nur ein kleiner junger Seehund, den Kalle Vesterman drau?en auf der Schare, in ein Netz verstrickt, gefunden und mit nach Saltkrokan genommen hatte, weil er wu?te, da? die Seeadler mit verlassenen Seehunden hart umgehen.

»Vesterman ist der gro?te Storenfried, den wir hier auf der Insel haben«, sagte Marta Grankvist immer. Es kam wohl einmal vor, da? Streit entstand, wenn die Inselbewohner im Laden zusammenkamen, und es war immer das gleiche: Immer war es Vesterman, der ihn anzettelte. Ein unruhiger Geist war er. »Wie Wasser um die Steine«, sagte seine Frau. »Und eigentlich hat er uberhaupt keinen Verstand.« Und das erzahlte sie allen, die es horen wollten. Ein Fischer und ein Jager war er, alle andere Arbeit war ihm ein Greuel, obgleich er einen kleinen Bauernhof besa?; den mu?te aber zum gro?ten Teil seine Frau besorgen. Es war eine Plackerei, und manchmal murrte sie. Vesterman war auch in schlechten wirtschaftlichen Verhaltnissen, und wenn er in der Klemme sa?, ging er zu Nisse Grankvist. Aber in letzter Zeit hatte Nisse ihn abgewiesen. Er wollte jemandem, der nie seine Schulden bezahlte, kein Geld mehr leihen.

Tjorven stand auf dem Anleger, als Vesterman an diesem Morgen von der Schare heimkehrte. Und sie schrie auf, als er einen kleinen fauchenden Seehund vor sie hinlegte, der sie mit schwarzen, feuchten Augen anschaute und so niedlich war, wie sie noch nie etwas gesehen hatte.

»Oh, ist der aber niedlich«, rief Tjorven. »Darf ich ihn streicheln?«

»Meinetwegen gern«, sagte Vesterman. Und dann sagte er etwas Unglaubliches. »Du kannst ihn behalten, wenn du willst.«

Tjorven starrte ihn an.

»Was sagst du da?«

»Du kannst ihn haben. Naturlich nur, wenn deine Mama und dein Papa es erlauben. Ich bin froh, wenn ich ihn loswerde. Du kannst ihn ja aufziehen und behalten, bis er so gro? ist, da? man 'nen Nutzen von ihm hat.«

Tjorven schnappte nach Luft. Vesterman gehorte im allgemeinen nicht zu ihren Lieblingen, aber im Augenblick fuhlte sie, da? sie ihn anbetete. »Oh«, machte sie und dachte fieberhaft nach – wie konnte man sich fur ein so einzigartiges Geschenk nur bedanken? »Ich stick dir auch etwas in Kreuzstich! Mochtest du das?«

Vesterman verstand nicht, da? Tjorvens Angebot das Gewaltigste war, was sie zustande bringen konnte, und er sagte: »N-ja, ich will nicht behaupten, da? ich unbedingt Sehnsucht danach hab, aber – nimm du den Seehund, man traut sich ohnehin nicht, mit einem jungen Seehund zur Frau nach Haus zu kommen.« Dann ging Vesterman seiner Wege und lie? eine vollig verwirrte Tjorven zuruck.

»Bootsmann, das kann nicht wahr sein«, sagte sie. »Wir haben einen Seehund gekriegt!«

Bootsmann schnupperte an dem Seehund. Er hatte noch nie ein Wesen gesehen, das diesem ahnelte; wenn Tjorven es aber durchaus wollte, dann wurde er sich auch mit diesem komischen kleinen Vieh anfreunden, das hier lag und ihn anzischte.

»Nein, erschreck ihn nicht«, sagte Tjorven und jagte Bootsmann weg. Dann schrie sie, so laut sie nur konnte: »Kommt mal her! Kommt mal alle her! Das kann ja nicht wahr sein – ich habe einen Seehund gekriegt!«

Pelle kam als erster angelaufen, und er freute sich so sehr, da? er anfing zu zittern, als er den Seehund sah und das Unfa?bare erfuhr: Tjorven hatte dieses phantastische, graugesprenkelte kleine Knauel geschenkt bekommen, das zischte und schrie und mit knubbeligen, seltsamen kurzen Vorderpfoten auf der Brucke herumkrabbelte. War es wirklich moglich, da? jemand einfach einen Seehund geschenkt bekam?

»Oh, hast du aber Gluck«, sagte Pelle aus tiefstem Herzen. Und Tjorven gab ihm recht.

»Ja, es ist nicht zu glauben, ich hab doch andauernd so'n Gluck.«

Aber jetzt blieb nichts anderes ubrig, als Mama und Papa davon zu uberzeugen, wie schon es war, einen Seehund zu haben.

Nach und nach hatten sich alle auf dem Anlegesteg versammelt und betrachteten erstaunt den Seehund.

»Wir konnen bald einen Tierpark auf Saltkrokan aufmachen«, sagte Melcher. »Ich mu? nur mal sehen, ob ich nicht irgendwo noch ein paar billige kleine Flu?pferde auftreiben kann.«

Aber Marta hob abwehrend die Hande. Sie wollte keinen Seehund im Haus haben, unter gar keinen Umstanden. Nisse hatte ebenfalls Bedenken. Er versuchte Tjorven klarzumachen, welche Muhe sie haben werde, ihn aufzuziehen. Er brauche soviel Milch wie ein Kalb und kiloweise Stromlinge, wenn er erst etwas gro?er wurde.

»Stromlinge kann er von uns kriegen«, sagte Stina. »Nicht wahr, Gro?vater?«

Tjorven guckte ihre Eltern vorwurfsvoll an.

»Ich habe ihn doch bekommen«, sagte sie. »Es ist genau, wie wenn man ein Kind bekommt, versteht ihr das nicht?«

Teddy und Freddy gaben ihr recht.

»Und wenn man ein Kind bekommt, dann redet man doch nicht gleich davon, wieviel Milch es braucht und wie schwer es ist, es gro?zuziehen«, sagte Teddy.

Sie besturmten Marta mit Bitten. Johann und Niklas und Pelle halfen mit. Sie versprachen, einen Teich fur das Seehundjunge zu machen, wo es sich tagsuber aufhalten konnte. In der Felsboschung hinter dem Bootsschuppen war ein tiefer Einschnitt, wenn man den mit frischem Salzwasser fullte, hatte der Seehund das feinste Schwimmbassin, das er sich nur wunschen konnte. Und nachts konne er im Bootsschuppen sein, meinte Freddy. Er werde uberhaupt keine Muhe machen, versicherten sie alle hoch und heilig.

Der junge Seehund stie? hin und wieder kleine hilflose Schreie aus, und Stina sagte triumphierend: »Hort ihr, er ruft ›Mama‹!«

»Und das bin ich«, sagte Tjorven und nahm den Seehund auf den Arm. Es sah so aus, als fuhlte er sich da wohl. Er schnupperte in ihrem Gesicht herum, und seine Barthaare kitzelten sie, so da? sie lachen mu?te.

»Ich wei?, wie er hei?en soll«, sagte Tjorven. »Moses! Vesterman hat ihn genauso gefunden wie die, die Moses im Schilf fand – das wei?t du doch noch, Freddy?«

»Ich hatte mir Pharaos Tochter nicht ganz so vorgestellt wie Vesterman«, sagte Melcher. »Aber Moses ist ja ein schoner Name.«

Da alle es fur selbstverstandlich hielten, da? Moses bleiben durfte, willigte Marta schlie?lich ein.

»Du darfst ihn dann behalten, bis er so gro? ist, da? er allein zurechtkommt«, sagte sie. Und alle Kinder jubelten.

»Wi?t ihr, was ich glaube?« fragte Stina. »Ich glaube, Moses ist ein verwunschener Prinz, der aus dem Meer raufgestiegen ist.«

»Du mit deinen verwunschenen Prinzen«, sagte Pelle. »Prinz Moses, was?«

Tjorven sa? auf dem Anleger, und Moses lag auf ihrem Scho?. Sie streichelte ihn, und er schnupperte an ihren Handen, so da? sie seine Barthaare spurte, und da lachte sie von neuem, da? sie nur so quietschte. Bootsmann stand daneben und sah zu. Lange stand er still und sah Tjorven mit seinen traurigen Augen an. Plotzlich aber machte er kehrt und trottete davon.

Tjorven bekam in diesem Fruhjahr alle Hande voll zu tun, denn sie mu?te sich ja um Jocke und Moses kummern. Pelle schrieb aus der Stadt einen Brief nach dem anderen und ermahnte sie, ordentlich nach seinem Kaninchen zu schauen.

»GIB IHM VIL LOWENZANBLATTER«, schrieb er, und Tjorven klagte Stina ihr Leid.

»Viele Lowenzahnblatter, der hat gut reden! Ich hab noch nie ein Kaninchen gesehen, das andauernd so'n

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