Heringskutter, der seinen letzten Ankerplatz in der Bucht gefunden hatte. »Die Tote Bucht« nannten die Kinder sie. Und tot war sie, still und ausgestorben. Es lag ein eigentumliches Schweigen uber dem Platz, und dorthin ging Pelle manchmal auf seinen einsamen Wanderungen. Stundenlang konnte er hier sitzen, den Rucken gegen eine besonnte Schuppenwand gelehnt, und den Libellen zuschauen, wie sie zwischen den Stegen hin und her flatterten, und die Ringe im Wasser zahlen, wenn ein Barsch unter dem blanken Wasserspiegel hochzuckte.
Fur Pelle war die Tote Bucht ein Ort des Friedens und der Traume. Aber es gab Leute, die das Schweigen hier beangstigend fanden, beinahe gespenstisch. Man konnte sich einreden, da? sich in den dusteren Winkeln der verlassenen Bootsschuppen die schwarzesten Geheimnisse verbargen, und nur selten kam ein Mensch hierher. Hier wurde niemand nach Moses suchen. In einem Bootsschuppen an der Toten Bucht wurde er gut versteckt sein.
Tjorven hatte einen kleinen flachen Leiterwagen, in dem sie Moses beforderte, wenn sie weite Wege mit ihm zu machen hatte und wenn sie keine Geduld mit seinem Gekrabbel hatte. Jetzt hatten sie einen solchen weiten Weg vor sich. Daher wurde Moses mitsamt seiner Schlafkiste und so viel Stromlingen, wie Stina sich von ihrem Gro?vater hatte erbetteln konnen, auf das Wagelchen geladen.
Die vier Geheimen, die gerade hinter dem Schreinerhaus Fu?ball spielten, sahen sie losziehen, und Teddy rief Tjorven zu:
»Wo wollt ihr hin?«
»Wir gehen nur ein bi?chen spazieren«, rief Tjorven zuruck. »Nee, Bootsmann, bleib du lieber zu Hause«, sagte sie, als ihr Hund angetrottet kam und mitwollte. Spazierengehen bedeutete in der Regel lange Streifzuge durch Wald und Feld, und dem konnte Bootsmann nicht widerstehen.
Er blieb stehen, als Tjorven ihm das sagte. Lange stand er still und schaute ihr und Pelle und Stina und Moses im Wagelchen nach. Aber dann ging er zuruck und legte sich an seinen gewohnten Platz neben der Treppe. Sein Kopf sank zwischen die Pfoten, es sah aus, als ob er schliefe. Zur Toten Bucht fuhrte ein gewundener, uberwucherter alter Pfad. Ungefahr auf halbem Wege lag Vestermans Hof, und da man mit dem Wagelchen nicht quer durchs Gelande fahren konnte, mu?ten sie mit Moses dort voruber. Es war unheimlich, aber nicht zu vermeiden.
»Wenn er uns sieht, dann sind wir geliefert«, sagte Tjorven, als sie bis zu Vestermans Hoftor gelangt waren. »Dann nimmt er uns Moses gleich weg. Liebe Cora, kannst du nicht still sein?«
Das sagte sie zu Vestermans Jagdhund, der hinter dem Zaun stand und bellte. Das fehlte ja noch, da? Vesterman herauskam, um nachzusehen, wen Cora so anbellte!
»Ja, dann sind wir geliefert«, sagte Stina.
Vesterman war jedoch nicht zu sehen, nur seine Frau. Sie stand mit dem Rucken zu ihnen und hangte Wasche auf eine Leine an der Hausecke und hatte zum Gluck keine Augen im Hinterkopf.
Sie kamen auch an Vestermans Weide voruber, wo Stinas Gro?vater seine Schafe laufen hatte, und Stina rief nach Totti. Der kam sofort angesturmt und dachte, er wurde gefuttert.
»Nein, nein, ich wollte dir nur mal guten Tag sagen und nachsehen, ob es dir gutgeht«, sagte Stina.
Moses ging es auch gut. Er sa? den ganzen Weg bis zur Toten Bucht hochst vergnugt auf seinem Wagelchen und meinte augenscheinlich, sie machten einen Ausflug mit ihm. Aber als er plotzlich mit Schlafkiste und allem in einen ganz fremden Bootsschuppen geschoben wurde, da begriff er, da? man hier eine Schandtat an ihm veruben wollte, und das wollte er sich nicht gefallen lassen. Er stie? mehrmals seine wutendsten Schreie aus, und das klang unheimlich in dem tiefen Schweigen um die Tote Bucht.
»Moses, du machst einen Larm, da? man es auf der ganzen Insel hort«, sagte Pelle vorwurfsvoll.
Sie hockten im Dunkel des Schuppens alle drei um den Seehund herum und streichelten ihn und versuchten, ihm verstandlich zu machen, da? dies alles zu seinem eigenen Besten sei. »Sieh mal, es ist ja nur fur kurze Zeit«, sagte Tjorven. »Es regelt sich schon noch alles, und dann darfst du wieder nach Hause kommen.«
»In einem so feinen Schuppen hast du noch nie gewohnt«, sagte Tjorven. »Hier geht es dir nicht schlecht.« »Aber unheimlich ist es hier doch«, sagte Stina mit einem Schaudern. »Ich glaube fast, hier spukt es.«
Im Schuppen herrschte ein seltsames, schummeriges Licht, das sie nicht mochte. Nur durch die Ritzen in der Wand schien die Sonne in schragen Strahlen herein, und drau?en horte sie das Wasser gluckern.
»Ich geh ein bi?chen raus«, sagte sie und schob die schwere Tur auf, die in ihren Angeln kreischte.
Und weg war sie.
Was Stina unheimlich fand, das fand Pelle nur gemutlich, er geno? es so sehr, da? er es am ganzen Korper spurte.
»Hier wurde ich gern selber wohnen«, sagte er und sah sich unter dem Gerumpel um, das der letzte Besitzer in seinem Bootsschuppen zuruckgelassen hatte. Dort gab es zerrissene Fischnetze und Reusen, einen ubel zugerichteten altersgrauen Fischkasten und ein paar Lockenten fur die Vogeljagd, Eispickel und Eimer und Riemen, Waschtroge und einen verrosteten Anker, einen altmodischen Schlitten mit holzernen Kufen und ganz hinten in einer Ecke eine alte Wiege, an deren Fu?ende ein Name und eine Jahreszahl eingeschnitzt waren. Pelle buchstabierte. »Klein-Anna« stand auf der Wiege. Die Jahreszahl konnte er nicht entziffern.
»Aber es ist sicher lange her, seit Klein-Anna in der Wiege gelegen hat«, sagte er.
»Wo mag Klein-Anna jetzt wohl sein, was meinst du?« fragte Tjorven. Pelle uberlegte. Lange Zeit stand er da und betrachtete die alte Wiege und dachte an Klein-Anna.
»Sie ist jetzt wohl tot«, sagte er leise.
»Nee, das will ich nicht, das ist so traurig«, sagte Tjorven.
»Achach, jaja.« Und dann sang sie:
»Die Welt, sie ist ein Jammertal,
kaum, da? man lebt, so mu? man sterben
und wieder Erde werden.«
Pelle ri? die Tur auf und sturmte in den Sonnenschein hinaus. Tjorven lief hinterher, sowie sie sich von Moses verabschiedet und ihm hoch und heilig versprochen hatte, ihm taglich Stromlinge zu bringen.
Dort drau?en lag die Tote Bucht schweigend und vertraumt in der Nachmittagssonne. Pelle holte tief Luft. Und dann war es, als sei er vom Wahnsinn befallen. Er stie? ein Geheul aus und lief los. Hinein in die Schuppen und Bootshauser rannte er und wieder hinaus, als ob er gejagt wurde. Er sprang auf morschen Stegen und glitschigen Pfahlen herum, so da? Tjorven Angst bekam; trotzdem folgte sie ihm und lief ebenso waghalsig uber die schwankenden Planken im Dunkel der Bootshauser, wo das Wasser schwarz gegen die Grundpfahle schwappte. Pelle sprang sozusagen in schweigender Raserei herum und gab keinen Laut von sich. Auch Tjorven schwieg, denn sie hatte Angst, folgte ihm aber trotzdem ohne Besinnen. Hinterher sa?en sie keuchend auf einem Bootssteg im
Sonnenschein, und da sagte Pelle: »Wo ist Stina?«
Ihnen fiel ein, da? sie sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatten, und sie riefen nach ihr. Aber es kam keine Antwort. Da fingen sie an zu suchen. Sie riefen und suchten, und ihre Rufe hallten rings um die Tote Bucht wider und verstummten dann. Erschreckend still wurde es.
Pelle war wei? um die Nase. Was war mit Stina geschehen? Wenn sie nun von einem Bootssteg ins Wasser gefallen war? Wenn sie nun ertrunken war? Klein-Stina und Klein-Anna – alle konnten sterben, das wu?te er. »Oh, weshalb habe ich Bootsmann nicht mitgenommen?« sagte Tjorven mit Tranen in den Augen.
Da standen sie nun, von Weh und Angst erfullt. Plotzlich horten sie Stinas Stimme.
»Ratet, wo ich bin!«
Sie brauchten nicht zu raten, sie sahen sie jetzt. Hoch oben im Mastkorb des alten Kutters sa? sie. Wie war sie nur da hinaufgekommen? Tjorven wurde wutend und wischte sich zornig die Tranen ab.
»Elendes Gor!« schrie sie. »Was machst du da oben?«
»Ich versuch, wieder runterzukommen«, sagte Stina klaglich.
»Bist du deshalb da raufgeklettert?« fragte Pelle.
»Nee, wegen der Aussicht«, sagte Stina.
»Ja, dann guck sie dir jetzt an«, sagte Tjorven.
Man stelle sich blo? so ein Kind vor, da kletterte sie herum und sah sich Aussichten an, statt im Wasser zu liegen. Na ja, es war naturlich ein Gluck, da? sie nicht im Wasser lag, aber sie brauchte einem doch nicht solche