Nisse schaute ihn verstandnislos an. »So. Und wer hat die Schafe gejagt?«

»Horst du nicht, was ich sage? Bootsmann! Und bei mir zu Hause liegt Totti mit einem Bi? im Schenkel.«

»Man mu? sich viel anhoren, bis einem die Ohren abfallen«, sagte Marta. »Aber da? Bootsmann Schafe rei?t, das kannst du mir nicht einreden.«

Nisse schuttelte den Kopf. Auf eine so wahnsinnige Beschuldigung konnte man kaum etwas entgegnen. Bootsmann, der friedfertigste Hund der Welt, hatte bis jetzt noch nie jemand angeruhrt. Legt ihm kleine Kinder oder junge. Katzchen oder Lammchen vor seinen Rachen, so viele, wie ihr wollt, er ruhrt sie nicht an! Bootsmann sollte Schafe hetzen – nie im Leben!

Doch das behauptete Soderman. Malin kam, um Kartoffeln zu holen, und gleich nach ihr Vesterman. Er wollte eigentlich mit Nisse uber Moses sprechen, aber davon kam er ab.

»Es kann ja Cora genausogut gewesen sein«, sagte Nisse, als er Vesterman sah.

Auf Saltkrokan gab es nur zwei Hunde, Vestermans Cora und Tjorvens Bootsmann.

Aber Vesterman erklarte bose, im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten habe er seinen Hund an der Leine, und Malin konnte bezeugen, da? dies stimmte. Zum mindesten habe Cora wie gewohnlich neben ihrer Hundehutte gestanden und gebellt, als sie und Petter gestern abend gegen elf Uhr bei Vesterman vorbeigekommen seien.

»Und au?erdem«, sagte Malin zogernd, »ich hab Bootsmann gesehen, als er heute nacht herauskam, und auch, als er wieder zuruckkam. Und ich hab gehort, wie er bellte. Ja, tatsachlich, das hab ich gehort.«

Soderman guckte Nisse kummervoll an, es machte keine Freude, solche Unglucksbotschaften zu uberbringen.

»Bootsmann bellt sonst nie, das wei?t du, Nisse. Und du horst doch, was ich sage. Ich sah ihn mitten aus der Schafherde kommen.«

Nisse bi? die Zahne aufeinander.

»Wenn es so ist, wie du sagst, dann gibt es ja nur eins zu tun.«

Da fing Marta an zu weinen. Sie machte keinen Versuch, es zu verbergen, offen und verzweifelt weinte sie, und sie dachte mit Bangen an eine, die es noch viel schwerer nehmen wurde als sie selber. Wie sollten sie es Tjorven nur beibringen?

Tjorven war nicht im Haus. Sie rannte gerade uberall herum und suchte nach Jocke. Alle halfen sie Pelle, nach seinem verschwundenen Kaninchen zu suchen. Johann und Niklas selbstverstandlich, und Teddy und Freddy und Tjorven.

Uberall hatten sie gesucht, aber nirgendwo war Jocke zu finden. Pelle suchte und weinte und war wutend auf sich selber. Weshalb hatte er gestern abend nicht den Haken ordentlich ubergelegt, weshalb hatte er es so eilig gehabt? Das durfte man nicht, wenn man ein Kaninchen hatte. Pelle weinte. Armer Jocke, wenn er nun nie zuruckkam?

Zuletzt fanden sie Jocke. Teddy fand ihn. Und sie schrie auf, als sie das kleine Kaninchen sah, das nicht weit vom Schafpferch am Feldrain leblos und zerfleischt unter einem Wacholderstrauch lag.

»Nein!« schrie Teddy. »Nein!«

Hinter ihr kam jemand. Sie wandte den Kopf und sah, da? es Pelle war. Da schrie sie wie wild: »Pelle, nicht hierher kommen!«

Es war jedoch zu spat. Pelle hatte schon alles gesehen.

Er hatte sein Kaninchen gesehen.

Und dann standen sie alle hilflos im Kreis um ihn herum. Keiner von ihnen hatte bis jetzt bitteres Leid aus nachster Nahe mitangesehen, und sie wu?ten nicht, was man machen mu?te, wenn jemand im Gesicht so aussah wie Pelle jetzt.

Johann weinte.

»Ich mu? Papa holen«, murmelte er und lief davon, so rasch ihn seine Beine tragen konnten.

Melcher war ebenfalls den Tranen nahe, als er Pelle sah.

»Mein armer kleiner Junge.«

Er nahm ihn auf den Arm, hielt ihn ganz fest und trug ihn zum Schreinerhaus und zu Malin zuruck. Pelle weinte nicht, er kroch nur in sich zusammen und verbarg sein Gesicht an der Schulter seines Vaters, er hatte die Augen geschlossen und wollte nie mehr etwas sehen auf der Welt.

Kaum da? man lebt, so mu? man sterben … Aber Jocke, sein geliebtes Kaninchen, das einzige Tier, das er besa? – weshalb durfte es nicht am Leben bleiben? Pelle lag auf dem Bauch auf seinem Bett, den Kopf im Kissen vergraben, und jetzt weinte er endlich, ein leises, wimmerndes Weinen, das Malin ins Herz schnitt. Sie sa? neben ihm, und auch sie fuhlte sich ganz hilflos. Niemanden auf der Welt hatte sie so lieb wie dieses weinende arme Kerlchen, das dalag, schmal und klein, viel zu klein war fur ein so gro?es Leid. Es war grausam, da? man nichts tun konnte, da? man ihm nicht wenigstens einen kleinen Teil von dem abnehmen konnte, was so weh tat. Sie strich ihm ubers Haar und sagte ihm, weshalb sie das nicht konnte.

»So ist es im Leben, siehst du. Manchmal ist es schwer. Sogar kleine Kinder, sogar ein kleiner Junge wie du mu? so etwas durchmachen, was weh tut, und da mu? man ganz allein hindurch.«

Da richtete sich Pelle im Bett auf, wei? im Gesicht und na? von Tranen. Er schlang die Arme um Malin, er klammerte sich an sie und sagte mit rauher Stimme:

»Malin, versprich mir, da? du am Leben bleibst, bis ich gro? bin!«

Und Malin versprach es, hoch und heilig versprach sie, da? sie es versuchen wollte. Und dann sagte sie, um ihn zu trosten: »Wir konnen dir ja ein neues Kaninchen kaufen, Pelle.«

Aber Pelle schuttelte den Kopf.

»Ich will nie ein anderes Kaninchen haben als Jocke.«

Da war noch jemand, der weinte, nicht stumm und still wie Pelle, sondern laut und wild, so da? man es weithin horte. »Es ist nicht wahr«, schrie Tjorven, »es ist nicht wahr!« Sie schlug ihren Vater, weil er das gesagt hatte. Er durfte nicht, er durfte einfach nicht so schreckliche Sachen erzahlen – da? Bootsmann … Nein, nie im Leben! Totti gerissen und Jocke totgebissen, sagte Papa. Nie, nie, nie im Leben! Ach, der arme Bootsmann, sie wollte ihn nehmen und mit ihm weglaufen, weit, weit weg, und niemals wiederkommen. Aber zuerst wollte sie jedem einzelnen eins auf den Schadel hauen, jedem, der daherkam und sagte, da? … Wie rasend stie? sie sich die Schuhe von den Fu?en und sah sich mit wilden Augen nach jemandem um, dem sie sie an den Kopf knallen konnte. Nicht Papa – jemand anderem, ganz gleich, wem, sie wu?te aber nicht, wem, und darum hob sie die Schuhe mit einem Schrei auf und schleuderte sie gegen die Wand.

»Ihr konnt was erleben! Ihr konnt was erleben!« brullte sie.

Vollig au?er sich stand sie da. Jetzt sah sie, da? Papa Bootsmann an der Treppe festgebunden hatte, und da schnappte sie nach Luft. »Meinst du etwa, er soll jetzt immer angebunden bleiben?«

Nisse seufzte.

»Tjorven, mein armes Kind«, sagte er und hockte sich vor ihr nieder, was er immer tat, wenn er wollte, da? sie ihm ordentlich zuhorte. »Tjorven, ich mu? dir jetzt etwas sagen, woruber du ganz furchtbar traurig wirst.« Tjorven schluchzte nur noch heftiger.

»Ich bin schon traurig.«

Nisse seufzte von neuem.

»Ich wei?, und dies ist fur mich auch schwer. Aber siehst du, Tjorven, ein Hund, der Schafe rei?t und Kaninchen totbei?t, der darf nicht am Leben bleiben.«

Tjorven stand still vor ihm und sah ihn an. Es war, als horte oder begriffe sie nicht, was er sagte, aber schlie?lich rannte sie mit einem jammernden Aufschrei fort.

Sie floh in ihr Bett, und hier verbrachte sie, den Kopf im Kissen versteckt, den langsten und bittersten Tag ihres Lebens.

Teddy und Freddy hatten vom Weinen geschwollene Augen, sie trauerten ebenso sehr wie Tjorven. Als sie sie aber dort liegen sahen, tat es ihnen weh vor Mitleid. Arme Tjorven, fur sie war es auf alle Falle am schlimmsten! Sie setzten sich zu ihr und versuchten, mit ihr zu reden, versuchten etwas zu sagen, wodurch es weniger schwer sein wurde, aber es war, als horte sie nichts, und sie bekamen nur ein einziges Wort aus ihr heraus: »Geht!«

Da gingen sie weinend fort. Marta und Nisse versuchten ebenfalls, mit ihr zu reden, aber sie bekamen auch

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