keine Antwort. Die Stunden verrannen, Tjorven lag im Bett, stumm und reglos. Ab und zu machte Marta die Tur zu ihrem Zimmer einen Spalt weit auf und horte manchmal ein leises Wimmern, sonst war alles still.
»Jetzt halte ich es nicht mehr aus«, sagte Marta schlie?lich. »Komm, Nisse, wir mussen es noch einmal versuchen.«
Und sie versuchten es. Sie versuchten es auf jegliche Weise, die Liebe und Verzweiflung ihnen eingab.
»Kleine Tjorven«, sagte Marta, »hor mal, hast du nicht Lust, in die Stadt zu fahren und Gro?mama zu besuchen, mochtest du das?«
Sie bekamen keine Antwort, nur ein kurzes, trockenes Aufschluchzen. »Oder sollen wir dir ein Fahrrad kaufen?« fragte Nisse. »Mochtest du das?«
Abermals ein Aufschluchzen und weiter nichts.
»Tjorven, gibt es denn
»Doch«, murmelte Tjorven, »ich mochte tot sein.«
Sie setzte sich mit einem Ruck im Bett hoch, und plotzlich kamen die Worte in einem Schwall aus ihr heraus.
»Es ist alles meine Schuld. Ich hab mich nicht so viel um Bootsmann gekummert, wie ich hatte mussen. Ich hab mich blo? immer mit Moses abgegeben.«
Sie hatte alles durchdacht, oh, wie viel hatte sie gedacht und mit welcher Verzweiflung! So mu?te es sein. Es war ihre Schuld. Bootsmann hatte noch nie etwas Boses getan, und wenn es wirklich stimmte, da? er Totti und Jocke gerissen hatte, dann war es deshalb, weil es ihm selber schlechtgegangen war und weil es ihm einerlei war, was er tat.
»Doch, es ist meine Schuld«, schluchzte Tjorven. »Es ist besser, wenn ihr mich totschie?t und nicht Bootsmann.«
Dann sank sie wieder aufs Kopfkissen zuruck. Einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an Moses, der weit weg war in der Toten Bucht. Aber er gehorte zu einer anderen Welt, an die sie nicht denken konnte. Nur einen gab es, aus dem sie sich etwas machte. Sie sehnte sich nach Bootsmann, so sehr, da? es ihr weh tat. Er stand drau?en an der Treppe angeleint. Bald wurde Papa das Gewehr nehmen und mit ihm in den Wald hinaufgehen …
»Holt Bootsmann her«, murmelte sie, den Kopf im Kissen. Nisse machte ein ungluckliches Gesicht.
»Kleine Tjorven, ist es nicht besser, du siehst Bootsmann nicht gerade jetzt?«
Da brullte Tjorven: »Holt Bootsmann her!«
Teddy brachte ihn, und Tjorven jagte sie alle aus dem Zimmer. »Ich will allein mit ihm sein.«
Und dann war sie allein mit ihrem Hund. Sie warf sich ihm um den Hals und wimmerte: »Verzeih mir, Bootsmann, verzeih mir, verzeih mir!«
Er sah sie an mit Augen, die nichts enthielten als eine ewige Treue, und er mochte denken: »Kleines Hummelchen, ich versteh von all dem gar nichts, aber ich will nicht, da? du so traurig bist.«
Sie nahm seinen riesigen Kopf zwischen ihre beiden Hande und sah ihm in die Augen, um nach einer Antwort auf all dies Unerklarliche und Schreckliche zu suchen.
»Es
Ja, wenn Bootsmann blo? hatte reden konnen! Wenn er doch hatte reden konnen!
Und der arme Moses, der in einem Bootsschuppen weit weg an der Toten Bucht eingeschlossen war – wer dachte an ihn? Das tat Stina. Auch sie hatte geweint, wegen Totti und wegen Jocke und wegen Bootsmann. Heute weinten alle auf Saltkrokan. Aber Totti sei bald wieder gesund, sagte Gro?vater, und wenn auch alles ein einziges gro?es Elend war, so konnte Moses deswegen doch nicht verhungern.
»Pelle und Tjorven, die liegen nur da und weinen und weinen. Dann mu? ich eben an Moses denken«, sagte sie. »Gib mir Stromlinge, Gro?vater!« Sie bekam ihre Stromlinge in einem Korb und ging los. Und Soderman fuhr in seiner Arbeit fort. Da kam Vesterman. Er war au?er sich vor Wut uber Nisse Grankvist, weil der sich unterstanden hatte, das uber Cora zu sagen.
»Einfach meinem Hund die Schuld zuschieben«, sagte er aufgebracht zu Soderman.
Er hatte die Lust verloren, mit Nisse uber den Seehund zu verhandeln und daruber, wem er gehorte. Jetzt gab es nur eines zu tun, und zwar, entschlossen den Seehund an sich zu nehmen und in sicherem Gewahrsam zu halten, bis er diesen Grunschnabel erwischt hatte, der Seehunde aufkaufte. Wo aber war dieser elende Seehund? Der Teich war leer, und woanders war er, soweit Vesterman sehen konnte, auch nicht, obgleich er den ganzen Morgen gesucht hatte.
»Wei?t du, wo die Goren den Seehund haben?« fragte er Soderman. Soderman schuttelte den Kopf. »Verschwunden kann er nicht sein. Stina war erst vor kurzem hier und hat Stromlinge fur ihn geholt.«
Sobald er das gesagt hatte, fuhr ihm etwas durch den Sinn, was Stina erzahlt hatte. Da? Vesterman den Kindern Moses wegnehmen und ihn verkaufen wollte.
»Der Seehund geht dich ubrigens nichts an«, sagte Soderman. »So viel Scham solltest du doch wohl am Leibe haben.«
Vesterman stie? einen Fluch aus und ging. Er war wutend und enttauscht, wutend auf die Kinder und auf Nisse Grankvist und auf Soderman und auf jeden Menschen dieser Insel. Ganz Saltkrokan moge zum Kuckuck gehen, meinte Vesterman.
Er stapfte heimwarts. Da sah er Stina ein Stuck weiter vorn auf dem Weg mit dem Stromlingskorb am Arm, und nun beschleunigte er seinen Gang. Mit langen Schritten holte er sie ein.
»Wo willst du denn hin, kleine Stina?« fragte er schmeichlerisch, denn jetzt hie? es, schlau zu sein.
Stina lachelte zu ihm auf, ein freundliches und zahnloses Lacheln. »Haha, du sagst dasselbe wie der Wolf.«
Das verstand Vesterman nicht.
»Der Wolf? Welcher Wolf?«
»Rotkappchen und der Wolf, das mu?t du doch kennen! Soll ich dir das Marchen erzahlen?«
Vesterman wollte das Marchen nicht horen und auch kein anderes, doch es half ihm nichts. Stina war die beharrlichste Marchenerzahlerin von Saltkrokan, und Vesterman mu?te die Geschichte von Rotkappchen ganz bis zu Ende anhoren. Nun erst kam er zu Wort.
»Wer soll die Stromlinge haben?«
»Die? Na, Mo …«, begann Stina, aber dann schwieg sie hastig, denn jetzt fiel ihr ein, mit wem sie redete.
Vesterman gab nicht auf.
»Was sagst du, wer soll sie haben?«
»Gro?mutter soll sie haben«, sagte Stina fest. Dann grinste sie. »›Warum hast du so ein gro?es Maul, Gro?mutter?‹ fragte Rotkappchen. ›Damit ich besser Stromlinge essen kann‹, sagte die Gro?mutter. Haha, was sagst du nun, Vesterman?«
Sie lachelte Vesterman zahnlos und niedertrachtig an, und dann rannte sie davon.
Aber sie war genauso arglos wie Rotkappchen, als es dem Wolf den Weg zu Gro?mutters Hauschen zeigte. Stina ging sorglos geradewegs zur Toten Bucht, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Hatte sie das getan, dann hatte sie vielleicht einen Schimmer von Vesterman gesehen, der hinter ihr herschlich. Er hatte wahrlich nicht zu schleichen brauchen. Niemand war so wenig auf der Hut wie Stina, und jetzt hatte sie es eilig. Sie mu?te zu Moses.
Moses schrie und zischte sie an, kaum da? sie zur Tur hereingekommen war, verstummte aber, sobald er seine Stromlinge bekam. Stina sa? neben ihm und streichelte ihn, wahrend er fra?. »Du wunderst dich sicher, da? ich allein komme«, sagte sie. »Aber ich erzahl's dir nicht, dann wirst du blo? traurig.«
Traurig – wer war nicht langst traurig? Moses gefiel dieser Bootsschuppen nicht, und er wollte nicht allein sein. Aber jetzt war Stina gekommen, die wollte er dabehalten. Er wu?te schon, wie er es anstellen mu?te, damit sie bleibe, er brauchte sich nur einfach auf sie zu setzen. Sobald er fertiggefressen hatte, krabbelte er entschlossen auf ihren Scho?. Hier machte er sich's gemutlich, und wenn sie versuchte, ihn hinunterzuschubsen, zischte er sie an. Das sollte sie ja nicht versuchen! Wenn er in diesem Bootsschuppen bleiben mu?te, dann sollte sie wahrhaftig auch dableiben! Stina merkte, wie ihre Beine einzuschlafen begannen, und sie wurde unruhig. Wer wei?, wie lange Moses hier zu sitzen gedachte? Vielleicht bis Mittsommer? Dann wurden beide verhungern, sie und