Aber es war naturlich gut, da? Melcher wie ein Hirsch laufen konnte. Denn an diesem Tag mu?te er noch viel laufen.
Es dauert eine geraume Zeit, bis man nach Norrtalje kommt, wenn man auf Saltkrokan wohnt. Zuerst nimmt man den Dampfer bis zu einer Anlegestelle auf dem Festland, und an diesem Anleger sitzt man ungefahr eine Stunde und wartet. Dann kommt endlich ein Bus, und dieser Bus fahrt nach Norrtalje. Er halt unterwegs an vielen Haltestellen und hat keine ubertriebene Eile, aber seinen Fahrplan halt er ein. Um ein Uhr soll er in Norrtalje sein, und das ist er.
Und bis dahin hat man graue Haare gekriegt, dachte Melcher, als er aus dem Bus stieg. Ubrigens, weshalb auch nicht? Er hatte ja schon welche gehabt, als er einstieg, fiel ihm plotzlich ein, na ja, nur ein bi?chen an den Schlafen naturlich. Wie dem auch sei, auf einer so langen Fahrt hat man Zeit, sich viele angstliche Gedanken zu machen. Man sitzt da und wird immer aufgeregter, und man ermahnt sich selber wieder und wieder: Bilde dir nichts ein, das Schreinerhaus bekommst du nicht, bilde dir das um Himmels willen nicht ein!
Den Versuch aber wollte er machen, wahrhaftig, das wollte er! Er lief, und die Kinder in einer Reihe hinter ihm her, so rasch er nur konnte, zu Mattssons Hausmakler-und Vermietungsburo. Dort war kein Mattsson nur eine kleine, rundliche Buroangestellte, die freundlich aussah, aber nichts wu?te.
»Wo ist Herr Mattsson?« fragte Melcher.
Sie sah ihn mit einem frommen Blick an. »Wie soll ich das wissen?«
»Wann kommt er denn wieder?«
»Wie soll ich das wissen?«
Ihre Augen waren gro? und einfaltig, und es war ganz offenkundig, da? sie uberhaupt von nichts etwas wu?te. Aber plotzlich nahm sie einen kleinen Spiegel hervor und musterte ihr rundliches Gesicht genau, und das belebte sie so, da? sie richtig gesprachig wurde.
»Er ist dauernd unterwegs. Mir ist so, als hatte er gesagt, er wollte Rhabarber einkaufen gehen. Vielleicht ist er aber auch bei seinem Neubau. Manchmal sitzt er im Stadthotel und sauft.«
Mehr kriegten sie aus ihr nicht heraus, und sie sturmten ebenso schnell wieder hinaus, wie sie gekommen waren.
Melcher schaute auf seine Uhr. Sie zeigte etwas uber zwei. Wo war nur dieser Mattsson? Wo in dieser hubschen kleinen Stadt war der elende Mattsson? Sie mu?ten ihn erwischen, und zwar schleunigst. Rhabarber kaufen, das tat man wohl auf dem Markt? Aber hier handelt es sich nicht um Rhabarber, Herr Mattsson, sondern um das Schreinerhaus!
Melcher war so nervos, da? er zitterte, und es war ihm lastig, Pelle und Tjorven immer mitzuschleifen. In den engen Stra?en war es hinderlich, so viele zu sein. Man konnte nicht wie eine ganze Schwadron ankommen. Melcher entschlo? sich zu einer List.
»Wollt ihr Eis haben, Kinder?« fragte er.
Das wollten sie. Melcher kaufte in einer Eisbude Eis, und mit je einer Eistute in jeder Hand lockte er Pelle und Tjorven zu einer kleinen Grunanlage, wo eine Bank stand.
»Ihr setzt euch hierher«, sagte Melcher, »und e?t euer Eis, bis wir zuruck sind.«
»Wenn das Eis aber alle ist?« fragte Tjorven.
»Dann bleibt ihr trotzdem hier sitzen.«
»Wie lange denn?« fragte Tjorven.
»Bis ihr Moos angesetzt habt«, sagte Melcher unbarmherzig, und dann lief er davon. Johann und Niklas liefen hinterdrein. Pelle und Tjorven blieben auf der Bank sitzen und a?en Eis.
Im Traum lauft man manchmal und sucht. Man mu? unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man lauft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich. Genauso erlebten Melcher und seine Jungen die Stunden, wahrend sie nach Mattsson suchten.
Auf dem Markt war er nicht. Doch, er sei dort gewesen, sagte eine der Marktfrauen, das sei aber lange her. Und sein Neubau? Wo lag der? Am anderen Ende der Stadt. Auch dort kein Mattsson! Sitzt er wirklich im Stadthotel und trinkt? Nein, das ist schandliche Verleumdung, das tut er bestimmt nicht. Dort war nicht einmal ein Schimmer von einem Mattsson zu erblicken.
Und plotzlich wurde es Melcher klar, da? er ein Rindvieh war. Er schlug sich gegen die Stirn.
»Naturlich bin ich ein Rindvieh«, rief er. »Weshalb sitzen wir nicht in Mattssons Buro und warten dort, anstatt hier herumzurennen und uns die Fu?e wundzulaufen?«
In diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick machte er eine entsetzliche Entdeckung.
Ich habe dich gewarnt, Melcher. Du solltest dir blo? nichts einbilden. Wie solltest du das Schreinerhaus kaufen konnen, wo du nicht einmal aufpassen kannst, wieviel Uhr es ist? Es ist jetzt zu spat, lieber Melcher! Gerade jetzt sitzt Direktor Karlberg mit der Zigarre im Mund in Mattssons Buro und gluckst vor Zufriedenheit.
Melcher sah alles so deutlich vor sich, da? er stohnte. Er tat Johann und Niklas leid, aber gleichzeitig waren sie wutend. War es denn wirklich notig, da? alles so ungerecht und falsch und unmoglich und jammervoll war? Johann knirschte mit den Zahnen.
»Der kann auch zu spat kommen. Wir nehmen ein Taxi, Papa!« Und sie nahmen ein Taxi. Zehn Minuten nach vier waren sie bei Mattsson.
Aber Direktor Karlberg war kein Mann, der zu spat kam. Seine Uhr ging richtig. Es war genauso, wie Melcher es sich vorgestellt hatte. Er sa? dort mit der Zigarre im Mund und sah zufrieden aus, und Melcher geriet vollig au?er sich.
»Halt«, brullte er. »Halt, ich biete jetzt auch auf das Haus.«
Da lachelte Direktor Karlberg richtig freundlich.
»Das haben Sie sich ein bi?chen zu spat uberlegt, furchte ich.«
Melcher wandte sich verzweifelt an Mattsson.
»Aber, Herr Mattsson, Sie haben hoffentlich ein Herz im Leibe. Wir lieben das Schreinerhaus doch, meine Kinder und ich. Sie konnen nicht so herzlos sein.«
Mattsson war nicht herzlos. Er war lediglich ganz gleichgultig und ganz geschaftsma?ig.
»Warum sind Sie dann nicht eher gekommen? Bei solchen Geschaften mu? man sich sofort entscheiden. Hier wird keinem was an die Hand gegeben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sie sind zu spat dran, Herr Melcherson.«
Sie sind zu spat dran, Herr Melcherson – diese Worte werde ich sicher im Ohr behalten, solange ich lebe, dachte Melcher. Und in seiner Verzweiflung wandte er sich auch bittend an Herrn Karlberg. »Um meiner Kinder willen – konnen Sie nicht bitte darauf verzichten?«
Da war Herr Karlberg beleidigt.
»Ich habe auch ein Kind, Herr Melcherson, ich habe
Frau Sjoblom? Die frohliche Schreinersfrau – falls sie es war? Vielleicht konnte man die mit Bitten besturmen, Mattsson hatte doch wohl nicht alles zu entscheiden! Melcher bi? die Zahne aufeinander. Er mu?te es bei Frau Sjoblom versuchen. Nicht, weil er glaubte, es wurde etwas helfen, aber er durfte nichts unversucht lassen. Spater, wenn alle Hoffnung umsonst war, dann war noch immer Zeit, auf diesen Worten herumzukauen: »Sie sind zu spat dran, Herr Melcherson!«
»Kommt, Jungen«, flusterte er, »wir gehen mit zu Frau Sjoblom.«
Bis ihr Moos angesetzt habt – so lange sollten sie auf der Bank sitzen bleiben, hatte Herr Melcher gesagt. Das gefiel Tjorven nicht. Pelle auch nicht. Ein Eis ist so schnell alle, und Moos wachst langsam. Jetzt hatten sie hier so lange gesessen, Hunger hatten sie bekommen, und Pelle war so aufgeregt, da? er nicht stillsitzen konnte. Weshalb kam Papa gar nicht zuruck? Er hatte ein Gefuhl, als hatte er Ameisen im Leib, und Bauchweh bekam er auch.
Tjorven hatte schlechte Laune. Und dabei war Norrtalje so unterhaltsam, sie war mehrmals mit den Eltern hier gewesen, sie wu?te, wieviel Aufregendes und Interessantes es hier zu sehen gab. Und dann sollte man hier wie angenagelt auf einer Bank sitzen und au?erdem noch Hunger haben.
»Soll das hei?en, da? wir hier sitzen bleiben sollen, bis wir vor Hunger gestorben sind?« fragte sie