machen, weil sie sich mit Kater Brown »unterhielt«.

Auf dem Platz rings um den Ziehbrunnen herrschte betroffene Stille. Alle schienen auf das Nahen des Notarztwagens zu lauschen. Und tatsachlich ertonte auf einmal in einiger Entfernung eine Sirene, und kurz darauf kam ein Rettungswagen in Sichtweite. Er hielt mit hoher Geschwindigkeit auf den Feldweg zu, bremste scharf ab und holperte uber den Weg an der Zufahrt zum Parkplatz vorbei. In wenigen Metern Entfernung zum Brunnen hielt er schlie?lich an. Zwei Rettungssanitater stiegen aus und gingen zu Bruder Johannes, der sie aufgeregt zu sich winkte.

Alexandra stand auf und kehrte zum Brunnen zuruck, gerade als die Sanitater einen Blick in den Schacht warfen. »Hm, wie sollen wir ihn denn da rauskriegen?«, fragte der bartige Sanitater, auf dessen Jacke ein Namensschild mit dem Schriftzug Buchner befestigt war.

Der andere, sein Name war Kersting, schuttelte ratlos den Kopf. »Frag mich was Leichteres! Da musste eigentlich die Feuerwehr ran, aber die ist bei der Demo in Trier …«

Nachdem die beiden bestimmt eine halbe Minute unschlussig in den Brunnen gestarrt hatten, beschloss Alexandra, sich einzumischen: »Ich bin keine Expertin, was die Rettung von Verletzten angeht, aber ich nehme an, dass sich einer von Ihnen schnellstmoglich nach unten begeben muss, um das Opfer zu bergen. Der Mann liegt schon viel zu lange da unten.«

»Immer langsam, Kleine«, meinte Kersting, der seinen Kollegen um fast einen Kopf uberragte. »Wir konnen hier nichts ubersturzen.«

»›Kleine‹?«, wiederholte sie unglaubig.

Bevor sie weiter aufbegehren konnte, spurte sie Tobias’ Hand beschwichtigend auf ihrem Arm. »Komm, lass die Leute ihre Arbeit machen, das bringt doch nichts.«

»Dann sollten sie auch ihre Arbeit machen, anstatt nur dazustehen«, fauchte sie. Alexandra machte sich aus seinem Griff frei. Es wurde hochste Zeit, dass Wilden aus dem Schacht geborgen wurde. Sollte er doch noch leben, kam es auf jede Sekunde an. »Wollen Sie dem Mann nicht helfen?«, drangte sie die beiden Sanitater.

»Doch, doch, naturlich«, sagte Buchner. »Aber wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, sind mein Kollege und ich nicht unbedingt die Schlanksten, und wenn einer von uns da runterklettert, hat er uberhaupt keinen Platz, um sich da unten zu bewegen -ganz zu schweigen davon, den Mann irgendwie zu fassen zu bekommen, um ihn rauszuziehen.«

»Ganz genau«, stimmte Kersting ihm zu. »Da muss jemand runter, der schlank und zierlich ist, zum Beispiel …«

Als der Sanitater abrupt verstummte, stutzte Alexandra. Im ersten Moment glaubte sie, er wolle sich einen Scherz erlauben, doch darauf deutete nichts weiter hin – im Gegenteil. Kerstings Blick war auffordernd auf sie gerichtet. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, gab sie kopfschuttelnd zuruck. »Sie wollen tatsachlich mich da runterschicken?«

Alexandra drehte sich zu Tobias um, der sich mit einem Mal verdachtig ruhig verhielt. »Wolltest du dich gerade freiwillig melden?«, fragte sie spitz.

»Sorry, in dieses Loch kriegst du mich nicht rein«, sagte er. »Um dich da unten bewegen zu konnen, musst du kopfuber runter. Das hei?t, du musst dich mit zusammengeschnurten Beinen abseilen lassen.«

»Ich mach’s«, erklarte da ein Monch mit dunklem, lockigem Haar, der Alexandra bislang noch nicht aufgefallen war. Er trug eine altmodisch anmutende Hornbrille und war mindestens einen halben Kopf kleiner als die anderen Monche, die nach wie vor die Gaste auf Abstand hielten. Einige der Leute waren inzwischen ins Kloster zuruckgekehrt, die anderen standen da und beobachteten das Treiben. Ein paar von ihnen hatten eine Kamera oder ein Handy gezuckt, um die Ereignisse im Bild festzuhalten.

»Ich bin Bruder Antonius«, stellte der dunkelhaarige Monch sich Alexandra, Tobias und den Rettungssanitatern vor. »Ich werde mich nur schnell umziehen, dann stehe ich zur Verfugung. Jemand soll in der Zwischenzeit ein stabiles Seil beschaffen, an dem ich runtergelassen werden kann.« Mit diesen Worten drehte er sich um und eilte in Richtung Kloster davon.

»Bruder Antonius ist immer sehr hilfsbereit und umsichtig«, erklarte Bruder Johannes, als ware das sein Verdienst, dann schaute er sich suchend um und wandte sich schlie?lich an die Rettungssanitater: »Wo bleibt denn eigentlich Doktor Randerich?«

»Der kommt … dahinten.« Kersting deutete auf einen grellrot lackierten Wagen, der sich mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit naherte.

In diesem Moment kehrte auch Bruder Antonius zu ihnen zuruck. »Alles bereit?« Er schaute erwartungsvoll in die Runde. Der Monch hatte die Kutte gegen einen Arbeitsoverall getauscht, und nun wurde auch klar, warum Bruder Antonius fur die Aufgabe die beste Wahl war: Er hatte die Statur eines Jockeys. So schmal, wie er war, konnte er sich an Wilden vorbeizwangen und sich den Mann genauer ansehen, bevor sie ihn aus dem Schacht holten. Und er war ein ausgesprochenes Leichtgewicht, was es umso einfacher machte, ihn an einem Seil nach unten zu lassen.

»Bin schon da«, rief Buchner und brachte das Seil aus dem Rettungswagen mit. Er kniete sich vor Bruder Antonius hin, der sich auf den Brunnenrand gesetzt hatte. Mit geschickten Handgriffen band er die Knochel des Mannes zusammen, zurrte den Doppelknoten zu und gab mit einem Nicken zu verstehen, dass alles bereit war. Er bat seinen Kollegen und Tobias, ihm dabei zu helfen, das Seil festzuhalten, wahrend sie den Monch in den Brunnenschacht hinablie?en.

Der glitt bauchlings uber die innere Kante der Mauer, dann verschwand er Stuck fur Stuck im Brunnen. »Weiter, weiter, noch ein Stuck«, rief Bruder Antonius laut. Und schlie?lich: »Halt!« Er war nun bei Wilden angelangt. Die beiden anderen Monche hatten wieder den Lichtkegel ihrer Taschenlampen in die Tiefe gerichtet, und Alexandra und Bruder Johannes verfolgten vom Brunnenrand aus mit, wie Antonius sich, kopfuber am Seil baumelnd, um Wilden kummerte. Nach einer Weile sah er nach oben, machte eine ernste Miene und schuttelte den Kopf. »Kein Puls. Keine Atmung. Wir haben ihn zu spat gefunden«, rief er. »Lassen Sie mich noch ein Stuck runter, dann lose ich das Seil und lege es ihm um, damit Sie ihn raufziehen konnen.«

Keine zehn Minuten spater war die Arbeit erledigt, und Bernd Wilden lag neben dem Brunnen auf dem Boden – zweifellos tot. Der Kopf lag seltsam verdreht da. Die Haare waren von getrocknetem Blut verklebt. Gesicht und Hande wiesen unzahlige Schrammen auf, die wahrscheinlich vom Sturz in die Tiefe herruhrten. Die Kleidung war offenbar mit einigen scharfen Steinkanten an der Schachtmauer in Beruhrung gekommen und aufgerissen.

Dr. Randerich, der Notarzt, kniete neben Wilden nieder und fuhlte noch einmal dessen Puls. Dann sah er mit ernster Miene zu Tobias, Bruder Johannes und Alexandra hinuber, die um den Toten herum auf dem Boden vor dem Brunnen kauerten, und schuttelte den Kopf.

»Das habe ich ihm nicht gewunscht, ehrlich nicht. Und fur uns ist es eine Katastrophe«, murmelte der Monch. »Wenn sich das herumspricht, dann sind wir ruiniert!«

»Ach was, Bruder Johannes«, gab Tobias zuruck. »Unfalle passieren nun mal, dagegen ist niemand gefeit.«

»Tut mir leid«, sagte Bruder Antonius, der inzwischen von den Sanitatern aus dem Brunnen gezogen worden war. »Aber da war nichts mehr zu machen.«

»Leider nicht«, stimmte Alexandra ihm zu und lachelte ihn aufmunternd an. »Aber Sie haben dennoch mehr geleistet, als irgendjemand von Ihnen hatte verlangen konnen.«

»Na ja«, erwiderte er. »Wir konnten ihn doch nicht da unten liegen lassen. Auch jemand wie er hat es verdient, respektvoll behandelt zu werden, zu Lebzeiten genauso wie im Tod.«

Jemand wie er?, wiederholte Alexandra in Gedanken. Aus unerfindlichem Grund war ihr kriminalistischer Spursinn erwacht, von dessen Existenz sie bislang nichts gewusst hatte.

Nachdenklich betrachtete sie den Leichnam. Zugegeben, es mochte eine ganz banale Erklarung dafur geben, wieso Wilden am Grund des Brunnens tot aufgefunden worden war, aber vielleicht …

Sie hatte selbst erlebt, wie respektlos und verachtlich Bernd Wilden sich seinen Mitmenschen gegenuber verhalten hatte. Mit Sicherheit hatte er sich viele Feinde gemacht.

Einer der Monche kam zu ihnen und reichte Bruder Johannes eine Decke. Er stand auf und breitete sie uber dem Toten aus.

»Der Kollege fordert den Leichenwagen an«, sagte der Sanitater namens Buchner. »Mit den Leuten regeln Sie die weiteren Formalitaten. Wir sind fur Tote halt nicht zustandig.«

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