Darauf erwiderte Tobias nichts.

»Ach komm, er wird schon wieder auftauchen! Gibt es eigentlich noch Fruhstuck?« Alexandra konnte Tobias’ Sorge um diesen Choleriker beim besten Willen nicht teilen. Okay, sie wunschte ihm auch nicht, dass ihm etwas Ernstes zugesto?en war, aber sie hatte mit der Suche nach ihm wenigstens zwei Tage gewartet, um erst mal die Ruhe zu genie?en.

»Nein, das wird bis sieben Uhr serviert, und das ist schon ein gro?es Zugestandnis an die Gaste. Fruher lauteten die Glocken um funf Uhr, und bis um halb sechs hatten alle gegessen.«

»Oh, dann will ich mich naturlich nicht beschweren«, merkte sie mit einem schiefen Grinsen an, doch ihre anfangliche Begeisterung fur das Konzept des Klosterhotels erhielt einen weiteren Dampfer.

Sie hatten das Foyer erreicht. Durch das Fenster konnte Alexandra sehen, dass sich die anderen Gaste auf dem Platz vor dem Haupteingang versammelt hatten und mehr oder weniger lebhaft miteinander diskutierten. »Ein paar von ihnen machen aber keinen sehr besorgten Eindruck«, stellte sie fest.

»Jeder reagiert bei so etwas anders«, antwortete Tobias, dem es ganz offensichtlich nicht gefiel, dass sie das Ganze so lassig nahm.

Aber wie hatte sie es sonst nehmen sollen? Bei jeder ihrer Begegnungen hatte Wilden sich wie ein Ekel aufgefuhrt. Da machte es ihr nun nichts aus, eine Weile auf seine Gesellschaft zu verzichten.

»Ja, vermutlich konnen es ein paar von ihnen gar nicht erwarten, Wilden fur vermisst, verschollen und tot zu erklaren«, meinte sie.

Gemeinsam gingen sie nach drau?en. Kater Brown schlenderte hinter ihnen her, lie? sich aber Zeit, als wusste er, dass Alexandra sich nur zu der Gruppe der Hotelgaste begeben wollte, die am Rand des Platzes vor dem Haupteingang warteten.

»Hallo«, begru?te sie vier Frauen, die zusammenstanden und sich leise unterhielten. »Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Alexandra Berger, ich bin Journalistin.«

Die vier stellten sich vor, aber bis auf den Vornamen Yasmin der einen Frau und den Nachnamen Maximilian einer anderen konnte Alexandra sich auf die Schnelle keinen der Namen merken.

»Noch immer fehlt von Bernd Wilden jede Spur«, berichtete Frau Maximilian. Sie war zu stark geschminkt, und ihr Busen malte sich unter dem eng anliegenden T-Shirt deutlich ab. Offenbar trug sie absichtlich keinen BH, zumindest lie? das ihr etwas affektiertes Gehabe in Richtung eines sicher zwanzig Jahre alteren, grauhaarigen Mannes mit Schnauzbart und einem kleinen Kinnbart vermuten. Sein vertraumter Blick verriet, dass ihm gefiel, was er sah. »Egal, wer von uns versucht, ihn anzurufen, er meldet sich nicht«, berichtete die Frau weiter. »Und in seinem Zimmer ist er auch nicht.«

»Vielleicht mochte er im Augenblick einfach nur nicht gestort werden«, gab Alexandra zu bedenken und drehte sich zu Tobias um. »Oder was meinst du dazu?«

»Ich wei? nur, dass sein Bett letzte Nacht nicht benutzt worden ist und der teure Wagen unverschlossen auf dem Parkplatz steht. Und der Zundschlussel steckt. Warum steigt Wilden aus dem Auto aus, lasst den Schlussel stecken und kehrt dann nicht in sein Zimmer zuruck?«

Alexandra dachte kurz daruber nach. »Woher wissen wir denn, dass er auf den Parkplatz gefahren, ausgestiegen und dann zum Haus gegangen ist? Vielleicht hat er ja auch kurz vor dem allgemeinen Zubettgehen das Hotel verlassen, weil ihn jemand abholen wollte, ist zu seinem Wagen gegangen, hat irgendwas rausgenommen oder reingelegt, und als sein Bekannter oder seine Bekannte kam, um ihn abzuholen, hat er nicht mehr an den Schlussel gedacht und ist in den anderen Wagen eingestiegen und weggefahren.«

»Wer soll ihn denn abends noch abholen?«, wunderte sich Tobias.

Sie schnaubte frustriert. »Ich kenne den Mann so gut wie gar nicht. Woher soll ich das also wissen? Ich uberlege nur, was gestern Abend geschehen sein konnte.« Dann drehte sie sich um. »Was ist eigentlich mit Kater Brown los? Seit wir hier drau?en sind, meckert er am laufenden Band.« Sie winkte dem Kater zu, der sich auf den Rand des Ziehbrunnens gesetzt hatte und in regelma?igen Abstanden miaute. Dabei lie? er Alexandra nicht aus den Augen. »Man konnte fast meinen, dass er nach mir ruft.«

»Sieh an«, scherzte Tobias. »Es gibt ja doch Manner, auf die du horst, wenn sie dich rufen.«

»Wenigstens hat Kater Brown nicht standig einen bloden Anmacherspruch drauf«, rief sie uber die Schulter zuruck.

Gerade als sie den Kater erreicht hatte, balancierte er uber die gro?en, unregelma?ig geformten Steine des Randes auf die andere Seite des Brunnens und miaute weiter. Sobald Alexandra ihm folgte, verlie? er seinen Platz und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt auf der gegenuberliegenden Seite zuruck. Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male.

»Wenn du so weitermachst, kommst du nie mehr zu den Streicheleinheiten. Ich musste mich schon uber den Brunnen beugen, und ich habe keine Lust, dass ich …« Sie verstummte, als sie sich tatsachlich ein Stuck uber den Brunnenrand lehnte und ihr Blick nach unten in den dunklen Schacht fiel. Fur einen Moment meinte Alexandra, auf dem Grund des Brunnens schemenhaft eine Gestalt zu sehen, und sie wurde von einem so eigenartigen Gefuhl gepackt, dass sie nach ihrem Handy griff, den Zoom betatigte und auf gut Gluck in die Tiefe fotografierte.

Schlie?lich sah sie sich das Foto an und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Stimmt was nicht?«, rief Tobias ihr zu und kam naher.

»Ich glaube, ich wei?, wo Herr Wilden geblieben ist«, sagte sie leise und zeigte in den Brunnenschacht.

6. Kapitel

Nachdem ein paar starke Taschenlampen herbeigeschafft worden waren, standen Alexandra und Tobias Seite an Seite am Rand des Brunnens und schauten gemeinsam mit Bruder Johannes in den Schacht. Zwei andere Monche hielten je zwei Lampen nach unten gerichtet, damit die Lichtkegel fur genugend Helligkeit sorgten.

»Herr Wilden?«, rief Bruder Johannes zunachst so leise, als hatte er Angst, einen Schlafenden zu wecken, wurde dann aber lauter und lauter. Als Wilden keine Reaktion zeigte, schuttelte der Monch besorgt den Kopf und sah zu Alexandra. »Er ist wohl tot, nicht wahr?«

Sie atmete tief durch, dann nickte sie. »So sieht es aus … oder … oder was meinst du, Tobias?«

»Ich glaube nicht, dass man den Kopf so sehr anwinkeln kann«, antwortete er, »es sei denn, das Genick ist gebrochen.«

»Ich auch nicht«, stimmte sie ihm bedruckt zu. »Doch falls er noch lebt, kann er von Gluck reden, dass der Brunnen nicht mehr in Betrieb ist, sonst ware er da unten langst ertrunken. Mochte wissen, wie Wilden da reingeraten ist.«

»Vielleicht war der Brunnen ja das Einzige, wo er seine Nase noch nicht reingesteckt hatte, und das wollte er unbedingt nachholen«, sagte Tobias und lie? im nachsten Moment ein verdutztes »Autsch!« folgen, da Alexandra ihm mit der Faust gegen den Oberarm geschlagen hatte. »Was soll denn das?«

»Da unten ist wahrscheinlich kurzlich ein Mensch zu Tode gekommen, und du hast nichts Besseres zu tun, als deine damlichen Witze zu rei?en!« Sie drehte sich wieder zu Bruder Johannes um, der Tobias auch vorwurfsvoll betrachtete. Dabei bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass die anderen Monche eine Art Menschenkette gebildet hatten, um die ubrigen Gaste daran zu hindern, ebenfalls einen Blick in den Brunnen zu werfen. Dass sie und Tobias aus erster Hand das Geschehen mitverfolgen durften, war Bruder Johannes’ Entscheidung zu verdanken, ihnen freien Zugang zu gewahren.

»Der Notarzt ist alarmiert?«, fragte sie den Monch.

Er nickte.

»Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes ubrig, als zu warten«, meinte Tobias. »Falls Wilden noch lebt, aber schwer verletzt ist, wurden wir ihm unter Umstanden mehr schaden als helfen, wenn wir selbst versuchten, ihn da rauszuholen. Da mussen Fachleute ran.«

Es verstrichen noch einmal zehn Minuten. Inzwischen war eine halbe Stunde vergangen, seit der Notruf gewahlt worden war. Alexandra hatte sich vom Brunnen zuruckgezogen und auf eine Holzbank gesetzt, auf der Kater Brown hockte und das Treiben aufmerksam verfolgte. Nachdem es ihm gelungen war, Alexandra auf seinen Fund aufmerksam zu machen, hatte er sich auf der Bank niedergelassen, als ware seine Arbeit erledigt. »Das hast du gut gemacht«, raunte Alexandra ihm zu, damit Tobias sie nicht horte. Er wurde sich nur wieder uber sie lustig

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