Den Abend verbrachte Alexandra vor ihrem Laptop, um ihre ersten Eindrucke vom Klosterhotel festzuhalten. Dabei arbeitete sie die Checkliste ab, die sie schon vor einer Weile erstellt hatte, um wahrend einer Reise nichts Wichtiges zu vergessen. Kater Brown war seit dem Nachmittag nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Jetzt lag er zusammengerollt vor dem geschlossenen Fenster auf der Fensterbank und schlief fest, nachdem er zuvor noch etwas von den Katzenleckerli erbettelt hatte, die Alexandra aus dem Supermarkt mitgebracht hatte.

Das Gesprach mit Bruder Johannes war recht informativ gewesen, und seine Einstellung, mit der er auf den Ruin des Klosters reagiert hatte, wurde den Aufhanger fur ihren Artikel liefern. Um moglichen spateren Beschwerdebriefen ihrer Leser vorzubeugen, wurde sie darin auch vor dem Fehlen jeglicher Luxusausstattung »warnen«. Alexandra machte sich Notizen, was der Fotograf, der hochstwahrscheinlich Mitte der kommenden Woche das Klosterhotel besuchen wurde, alles ablichten sollte. Sie wollte vor allem eine Aufnahme haben, die das Kloster im ersten Licht des neuen Tages zeigte.

Nachdem sie die Datei gesichert hatte, beschloss sie, nach ihren Mails zu sehen. Alexandra offnete gerade die erste, als auf einmal das Licht im Zimmer ausging. Sie stutzte, stand auf und tappte zur Tur, betatigte ein paarmal den Schalter, aber nichts geschah. Hm, sie wurde sich wohl ins Foyer begeben und einen der Monche nach einer neuen Gluhbirne fragen mussen. Hoffentlich war der Empfangstresen noch besetzt!

Doch auch der Flur vor ihrem Zimmer lag im Dunkeln. Nur ein schwacher grunlicher Schein ging von den Notausgang-Schildern aus, die in Abstanden an der Wand befestigt waren. Auch in den anderen Gastezimmern schien es dunkel zu sein, jedenfalls drang kein Licht unter einem Turspalt auf den Gang hinaus. Alexandra sah auf die Leuchtanzeige ihrer Armbanduhr: 22:00 Uhr. Erst da stieg eine Ahnung in ihr auf. Ein Blick auf ihren Laptop bestatigte ihre Vermutung: Seine Anzeige verriet ihr, dass er nicht langer aus der Steckdose gespeist wurde, sondern auf Akkubetrieb umgeschaltet hatte. Von nun an wurde sie noch etwa zwei Stunden Zeit haben, um ihre Arbeit zu erledigen.

Seufzend blatterte sie durch den Prospekt, den die Klosterverwaltung ihr zugeschickt hatte, und nach einiger Suche entdeckte sie den sehr versteckt untergebrachten Hinweis, dass um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe begann und alle Aktivitaten bis zum nachsten Morgen eingestellt wurden. Ein wenig verargert uber dieses »Kleingedruckte«, erganzte sie ihren Artikelentwurf um einen Vermerk, dass sie auf diesen Punkt ausdrucklich hinweisen musste.

Wenigstens spendete der Monitor ihres Computers genugend Licht, damit sie sich ausziehen konnte. Eine Katzenwasche im kleinen »Bad« musste fur heute genugen. Als sie dann allerdings den Rechner herunterfuhr, sich ins Bett legte und auch die Taschenlampe im Handy ausschaltete, meinte Alexandra im ersten Moment, keine Luft mehr zu bekommen. Sie empfand die Finsternis, in die ihr Quartier getaucht war, als erdruckend. Doch dann schalt sie sich selbst eine Narrin. Das war ja albern! Was sollte ihr hier, mitten unter Monchen, schon passieren?

Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und nach einigen Minuten fuhlte sie sich etwas besser, zumal sich ihre Augen an die Schwarze gewohnt hatten und sie vage Konturen erkennen konnte. Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Mit ausgestreckten Armen tastete sie sich zum Fenster vor, weil sie einen Blick nach drau?en werfen wollte. Als sie dabei den schlafenden Kater Brown beruhrte, gab der ein leises Maunzen von sich, kummerte sich dann aber weiter nicht mehr um die Storung.

Alexandra beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, da sie Muhe hatte zu erkennen, wo der Hugel endete und wo die schwarze Nacht begann. Im Zuge ihrer Recherchen war sie schon relativ viel herumgekommen, aber noch nie war sie ihrem Zuhause so nahe gewesen und hatte sich zugleich wie auf einem anderen Planeten gefuhlt. Nur allmahlich konnte sie die Sterne ausmachen, die immer zahlreicher wurden, je langer Alexandra nach oben sah.

Es war ein faszinierendes Schauspiel, wie sie es so lange nicht mehr erlebt hatte und das sich nur in einer Umgebung wie dieser entfalten konnte, in der der Himmel noch relativ frei von Umweltverschmutzung war. Weil die Grenze zwischen Himmel und Erde sich in der Schwarze verlor, fuhlte Alexandra sich fast so, als schwebte sie im Weltraum.

Sie wusste nicht, wie lange sie so vorgebeugt am Fenster gestanden hatte, doch auf einmal spurte sie Mudigkeit in sich aufsteigen. Hochste Zeit, schlafen zu gehen!, sagte sie sich. Morgen wartet eine Menge Arbeit auf mich …

Ein hartnackiges, fur ihre Ohren viel zu lautes Glockenlauten riss Alexandra aus dem Schlaf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es erst sechs Uhr war.

Alexandra stohnte genervt. Eigentlich war dieses Klosterhotel allenfalls fur Masochisten zu empfehlen.

Sie hielt sich die Ohren zu und wollte sich auf die Seite drehen, doch auch das war nicht moglich. Kater Brown hatte sich offensichtlich irgendwann in der Nacht auf ihren Bauch gelegt und dort gemutlich zum Schlafen zusammengerollt. Und er schien nicht bereit zu sein, dieses warme Platzchen zu verlassen. Nur das leichte Zucken seiner Ohren verriet, dass auch er das drohnende Glockengelaut horte.

Nach endlosen zehn Minuten kehrte wieder Ruhe ein, und Alexandra kuschelte sich erneut ins Kissen. »Nur noch einen Moment«, murmelte sie, »nur den Traum zu Ende traumen …«

»Alexandra? Bist du da?«

Sie stohnte leise. Warum konnte man sie nicht in Ruhe lassen? Da hatten endlich die Glocken aufgehort zu lauten, und nun brullte Tobias den ganzen Flur zusammen! Wahrscheinlich wollte er sich und aller Welt beweisen, dass er im Gegensatz zu ihr, Alexandra, ein Fruhaufsteher war. Na ja, vielleicht ging er ja wieder weg, wenn sie nicht reagierte. Oder er kam zu der Uberzeugung, dass sie bereits ihr Zimmer verlassen hatte. Hauptsache, er horte mit dem Larm auf!

Aber er larmte weiter, und kurz darauf war auch noch eine zweite Stimme zu vernehmen. Eine tiefere Stimme, die sagte: »Wenn Sie sich Sorgen machen, werde ich jetzt die Tur offnen.«

Die Tur offnen? Hatte sie das richtig verstanden? Nur weil sie nicht gleich um sechs Uhr aufstand, wollte man die Tur offnen, um sie aus dem Bett zu zerren? War das wirklich ein Hotel, oder war sie versehentlich in ein Gefangnis geraten?

Ein Schlussel wurde ins Schloss geschoben. Sofort war Alexandra hellwach und sprang aus den Federn. Kater Brown wurde ein Stuck durch die Luft gewirbelt und landete mit einem protestierenden Miauen auf der Matratze.

Alexandra bekam die Turklinke zu fassen, gerade als jemand von au?en die Tur aufziehen wollte. »Hey, hey, hey, langsam!«, rief sie aufgebracht. »Was soll das?«

Sie offnete die Zimmertur einen Spaltbreit. Auf dem Flur standen Tobias und ein hunenhafter Monch.

»Du bist ja doch da«, sagte Tobias und klang sehr erleichtert.

»Naturlich bin ich da. Nur weil ich nach dem Sechsuhrlauten noch funf Minuten liegen bleibe, musst du nicht gleich den Schlusseldienst bestellen!«

»Funf Minuten?«, gab er zuruck. »Wir haben fast neun Uhr.«

»Was?« Sie sah auf die Armbanduhr. Tatsachlich. Es war drei Minuten vor neun. »Ich bin wohl noch mal eingeschlafen«, murmelte sie. »Augenblick, ich ziehe mich nur schnell an, dann bin ich sofort da. Ahm … ist irgendwas passiert? Warum die Aufregung?«

Tobias hob beschwichtigend die Hand. »Gleich«, erwiderte er. »Mach dich erst mal fertig.«

Als Alexandra zehn Minuten spater mit Kater Brown im Schlepptau ihr Zimmer verlie?, lehnte Tobias an der Wand neben seiner Unterkunft. Er stie? sich ab und ging Alexandra entgegen.

»Tut mir leid, dass ich dich eben so angefahren habe, aber ich dachte wirklich, es ware erst kurz nach sechs.« Als er lachelnd nickte, fragte sie: »Also, was gibt es?«

»Wir waren in Sorge um dich. Wir dachten namlich, du warst auch verschwunden.«

»Auch?«

»Ja, Wildens Mitarbeiter vermissen ihren Chef. Er ist weder zum Fruhstuck noch kurz darauf zum ersten Motivationskurs erschienen«, sagte Tobias.

»Der Chef des Sklaventreiberverbandes? Vermisst ihn tatsachlich irgendjemand? Und mochte ihn wirklich jemand wiederfinden?«

Tobias kratzte sich am Kopf. »Nein, im Ernst. Komisch ist das schon … Sein Cayenne steht unverschlossen auf dem Parkplatz, der Schlussel steckt noch, aber Wilden ist nirgends zu finden.«

»Wurde mich nicht wundern, wenn ihn jemand erschlagen und verscharrt hatte«, brummte sie und bemerkte Tobias’ missbilligenden Blick. »Was denn? Vielleicht hat er mit seiner unertraglichen Art irgendwem den letzten Nerv geraubt.«

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