Alexandra zu, die sich suchend umschaute.
»Wo ist denn das Modell oder das Stillleben, das sie malen sollen?«, fragte sie.
Der Monch schuttelte den Kopf. »Wir arbeiten in diesem Kurs nicht mit Modellen oder vorgegebenen Motiven. Die Teilnehmer sollen auf der Leinwand Gefuhle zum Ausdruck bringen oder malerisch bestimmte Themen umsetzen. Heute geht es um den Begriff ›Teamwork‹.« Er deutete auf die Leinwand einer Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die ein Spektrum aus verschiedenen Farben gemalt hatte. »Sehen Sie, wenn ich diese Arbeit richtig verstehe, ist hier folgender Aspekt von Teamwork dargestellt: Die Farben geben sich gegenseitig Halt und stutzen einander. Wurde eine der Farben sich an einer anderen Position befinden oder fehlen, ware das Spektrum fehlerhaft und damit unbrauchbar.«
»Aha«, sagte Alexandra nur und lie? sich von dem Monch aus dem Saal fuhren.
»Das ist ubrigens die Gruppe, mit der Herr Wilden hier ist«, erlauterte er, als sie weiter durch den Korridor gingen. »Sie belegen im Augenblick die meisten Zimmer, die ubrigen sind Gaste, die allein oder zu zweit hergekommen sind. Sie unternehmen ausgedehnte Wanderungen, wofur sich die Lage des Klosters naturlich hervorragend eignet. Oder sie nehmen am Schweigekreis teil.«
»Schweigekreis?«
»Ja, der trifft sich immer in Saal IV, den wir deshalb auch nicht betreten konnen. Die Teilnehmer sitzen dort ein bis zwei Stunden im Kreis und schweigen, um die innere Ruhe wiederzufinden, die ihnen im Alltag abhandengekommen ist.«
Alexandra nickte. »Wenn alle Gastezimmer belegt sind, kann man aber doch sagen, dass Ihr Klosterhotel gut ankommt, oder?«
»Das ja«, bestatigte Bruder Dietmar. »Wir haben regen Zulauf. Dennoch wird es noch Jahre dauern, bis wir wirklich rentabel arbeiten konnen.«
»Ja, ich habe davon gelesen, dass das Kloster kurz vor dem Ruin stand. Wie konnte es uberhaupt dazu kommen?«
»Das ist eine lange, unruhmliche Geschichte oder besser gesagt: Sie hat vor langer Zeit begonnen. Abt Bruno hat uber Jahre hinweg die Bucher gefalscht und Gelder beiseitegeschafft, die unter anderem aus Forderprogrammen der EU stammten. Solche Zahlungen hat er dann auf ein zweites Konto uberweisen lassen, weshalb das Geld bei uns nie angekommen ist. Die Verwendungsnachweise fur diese Gelder waren von vorn bis hinten gefalscht, einschlie?lich der Belege beispielsweise fur angebliche Umbauarbeiten. Unter anderem soll der komplette Dachstuhl erneuert worden sein, was Abt Bruno mit Scheinrechnungen belegt hat. In Wahrheit ist das Dach seit dem spaten neunzehnten Jahrhundert nicht mehr umfassend saniert worden. Und als auf einmal eine Betriebsprufung anstand, hat der Abt sich einfach abgesetzt. Er hat uns im Stich gelassen, uns wurde vom Finanzamt der Status der Gemeinnutzigkeit aberkannt. Die Bank ist heute im Grunde genommen der wahre Eigentumer der gesamten Anlage, weil sie uns auf Vermittlung des Erzbischofs einen Kredit uber mehrere Millionen bewilligt hat. Das sage ich selbstverstandlich ganz im Vertrauen, das wissen Sie doch, nicht wahr?«
»Ja, naturlich«, versicherte Alexandra ihm. »Ich schreibe ohnehin Reisereportagen. Falls Bruder Johannes damit einverstanden ist, kann ich solche Details eventuell mitaufnehmen – aber nur dann. Vielleicht wird der eine oder andere Gast eher dazu bereit sein, einen Aufenthalt im Klosterhotel zu buchen, wenn er wei?, mit welchem Ehrgeiz Sie alle ans Werk gegangen sind, um Ihr Zuhause zu retten.«
»Wissen Sie, wenn Sie von Ehrgeiz reden, dann hat Bruder Johannes jeden von uns ubertroffen. Ohne ihn hatten wir das niemals geschafft. Er ist ein wirklicher Visionar.«
»Dann ist das hier alles seine Idee?«
»Ohne jeden Zweifel. Als er sah, was unser Abt angerichtet hatte, verlor er nicht den Mut, sondern uberlegte, was wir tun konnen, um unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt zusehen zu mussen, wie uns unser Zuhause genommen wird. Er schloss sich eine Woche lang in seinem Zimmer ein, niemand durfte ihn storen, und dann … dann hatte er das alles hier ausgearbeitet. Er hatte genau uberlegt, was so bleiben konnte, wie es war, und was umgebaut werden musste. Dann fuhrte er endlose Verhandlungen mit unserem Orden. Sie konnen sich denken, dass die Ordensleitung zunachst von seinen Planen nicht begeistert war. Doch schlie?lich stimmte sie zu. Vielleicht hat vor allem die Tatsache, dass wir zumindest teilweise und in einer Art Rotationsverfahren, wenn Sie so wollen, das monastische Leben weiterfuhlen, dazu beigetragen, sie umzustimmen.« Bruder Dietmar fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Als Nachstes holte Bruder Johannes dann unzahlige Angebote von Handwerksbetrieben ein, mit denen er sich an die Bank wandte. Dort war man zum Gluck von seiner peniblen Art so angetan, dass man uns die notigen Gelder zur Verfugung stellte.« Bruder Dietmar lachte. »Als dann die Bauarbeiten begannen, trieb Bruder Johannes die Handwerker mit seiner Art fast in den Wahnsinn. Er hatte mit ihnen einen verbindlichen Zeitplan vereinbart und wachte mit Argusaugen daruber, dass sie diesen Plan auch einhielten. Sobald es irgendwo eine Verzogerung gab, machte er dem betreffenden Betrieb die Holle hei? und drohte mit Konventionalstrafen, sollte sich die Eroffnung des Hotels dadurch verschieben.«
»Ein sehr engagierter Bauherr, wurde ich sagen.«
»Und sehr uberzeugend«, erganzte Bruder Dietmar schmunzelnd. »Alle Arbeiten waren fruher als geplant abgeschlossen, und insgesamt konnten wir so fast hunderttausend Euro einsparen.«
»Beachtlich. So sollte woanders auch vorgegangen werden.«
Der Monch stimmte Alexandra zu, und sie gelangten zu einer Wendeltreppe. Kater Brown, der vorgelaufen war, sprang zielstrebig die Stufen nach unten.
Durch einen Seiteneingang verlie?en sie das Hauptgebaude und gelangten auf einen schmalen gepflasterten Pfad, der an der kleinen Kapelle entlang in beide Richtungen verlief. Der Monch bog nach links ab. Alexandra folgte ihm bis zu einer Steintreppe, die auf einer Rasenflache endete. Als Alexandra nach oben sah, entdeckte sie ihr Zimmerfenster und den Mauervorsprung, auf dem der Kater balanciert sein musste, um in ihre Unterkunft »einsteigen« zu konnen.
Sie bogen abermals links ab. Alexandras Blick fiel auf mehrere gesondert stehende, kleinere Gebaude. »Was ist das da druben?«, wollte sie wissen.
»Das linke ist das ehemalige Gastehaus, die anderen wurden einmal als Wirtschaftsgebaude genutzt«, erklarte der Monch. »Der Stall, der Getreidespeicher, die Brauerei. Fruher verlief um das Ganze herum noch eine Mauer, aber die wurde vor bestimmt zwanzig Jahren komplett abgerissen, um das Kloster fur die Welt zu offnen. Die Anlage sollte auf Au?enstehende nicht so sehr wie ein Gefangnis wirken. Diese Gebaude benotigen wir derzeit nicht, trotzdem hat Bruder Johannes sie bereits in seine Planung einbezogen. Sie sollen nach und nach zu Unterkunften umgebaut werden, wenn das Hotel langfristig so ausgelastet ist, dass wir mehr Gaste unterbringen mussen.«
»Bruder Johannes hat offenbar an alles gedacht.«
»Oh ja«, entgegnete Bruder Dietmar stolz. »Er ist fur uns alle ein Vorbild.«
Als sie um das lang gestreckte Gebaude herumkamen, zeigte der Monch in Richtung des Krautergartens. »Da ist ja Bruder Johannes. Vielleicht wollen Sie ja jetzt mit ihm reden?«
Alexandra schaute nach links und rechts, aber von Tobias war weit und breit nichts mehr zu sehen. »Wenn er ein wenig Zeit fur mich hat …«
»Kommen Sie, wir fragen ihn!«, sagte Bruder Dietmar.
Wahrend sie sich dem Monch naherten, der vor einem der Beete kniete und Unkraut zupfte, hechtete Kater Brown im Zickzack durch den Krautergarten, um einen Schmetterling zu jagen, der ihm aber immer wieder entwischte.
»Bruder Johannes!«, rief Bruder Dietmar, als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt waren. »Hier ist Besuch fur dich.«
Der Angesprochene erhob sich, drehte sich um und kniff die Augen gegen die bereits etwas tiefer stehende Sonne zusammen. Bruder Dietmar zog sich zuruck.
Alexandra stockte einen Moment der Atem, als sie Bruder Johannes sah. Zu dem grauen Haarkranz trug der schmale, altere Mann einen kurz geschnittenen, sehr gepflegten grauen Bart. Die vollen, dunklen Augenbrauen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Als der Monch Alexandra freundlich anlachelte, erschienen feine Faltchen in seinen Augenwinkeln. Alexandra blinzelte. Im ersten Moment war es ihr so vorgekommen, als stunde sie Sean Connery in seiner Rolle als William von Baskerville in
»Sie mussen Frau Berger sein«, sagte der Monch. Seine Stimme klang dunkel und ein wenig rau. Alexandra