»Dann gibt es doch uberhaupt kein Problem.« Alexandra wechselte das Thema. »Was meine ›Besichtigung‹ der Raume dort angeht«, sie wies mit dem Kopf auf die Tur, vor der Kater Brown sich nun putzte, »halten Sie erst mit Bruder Johannes Rucksprache. Die Sache hat bis heute Nachmittag Zeit.« Sie drehte sich um und rief eigentlich mehr im Spa?: »Kater Brown, komm her, wir gehen wieder nach oben.«
Alexandra wollte ihren Augen nicht trauen, als der Kater sich prompt erhob und quer durch den weitlaufigen Kellerraum schnurstracks auf sie zugetrottet kam. Er legte kein besonders hohes Tempo an den Tag, aber seine Zielstrebigkeit erinnerte durchaus an einen gut erzogenen Hund.
Dann lief er jedoch mit einem fluchtigen Seitenblick zu den beiden Monchen zur Wendeltreppe und entschwand im Treppenhaus. Nach einer halben Kehre gab er ein ungehalten klingendes »Miau« von sich, als wollte er Alexandra ermahnen, nicht so zu trodeln.
»Das war wohl fur mich bestimmt. Na dann, auf Wiedersehen, die Herren«, meinte sie. Um bei ihrem Aufstieg nicht zu stolpern, schaltete sie wieder die Taschenlampe an ihrem Handy ein.
Als Alexandra das Treppenhaus im Erdgeschoss verlie?, stie? sich Tobias von einer der Fensterbanke ab, an der er gelehnt hatte.
»Und?«, fragte er amusiert. »Hat der kleine Geistliche noch ein paar Leichen im Keller entdeckt?«
»Gleich«, sagte sie nur und winkte ihn zu sich, dann gingen sie mit Kater Brown im Schlepptau ins Foyer. Bruder Andreas stand hinter dem Empfangstresen uber einige Unterlagen gebeugt. Bei ihrem Anblick wedelte er mit den Papieren durch die Luft.
»Frau Berger, Herr Rombach«, rief er. »Ich habe hier etwas fur Sie.«
Alexandra schaute ihn irritiert an.
»Ich habe mit der Liste angefangen, die Bruder Johannes von uns allen fur Sie zusammenstellen lasst. Ich notiere gerade jeden, den ich gestern Abend und heute Nacht gesehen oder gehort habe, mit Uhrzeit und Ort. Ich gebe mir alle Muhe, so genau wie moglich zu sein, aber ich kann nicht dafur garantieren, dass ich nicht irgendwo etwas verwechsle. Wissen Sie, ich war gestern eigentlich uberall im Haus unterwegs, da wei? ich nicht mehr hundertprozentig, ob ich einen Gast vor Zimmer siebzehn oder vor Zimmer zwanzig gesehen habe. Ich hoffe nicht, dass ich dadurch jemanden in Schwierigkeiten bringe.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!«, beruhigte sie ihn. »Wenn es zu Widerspruchen kommen sollte, werde ich Sie einfach nochmals fragen.«
Der Monch nickte erleichtert. »Bruder Johannes hat mir zwar vorhin Bescheid gesagt und mir aufgetragen, das als Liste zusammenzustellen, aber ich habe uberlegt, dass es praktischer ware, am Computer eine Serie von Grafiken zu erstellen, auf denen beispielsweise im Abstand von funf Minuten der Standort jeder Person eingetragen ist.«
»Das konnen Sie?«
»Oh ja, ich war fruher Programmierer, bis ich genug von dem Trubel hatte und im Kloster mein Seelenheil gefunden habe«, erklarte er. »Technisch ist das kein Problem, es stellt nur eine Flei?aufgabe dar, weil die Personen den verschiedenen Zeitpunkten und Standorten zugewiesen werden mussen.«
Alexandra war beeindruckt.
»Ich konnte mich mit einem meiner Bruder zusammensetzen und danach die Angaben auf eine Skizze des Klosters ubertragen. Wenn Sie sich dann auf der Zeitlinie vorwartsbewegen, die ich am unteren Bildrand einbaue, konnen Sie nachvollziehen, wer sich wann wo aufgehalten hat.« Nach einer kurzen Pause fugte er hinzu: »Jedenfalls auf der Grundlage dessen, was an Beobachtungen genannt wird.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank!« Alexandra meinte jedes Wort ernst.
Er beugte sich zu ihr vor. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte er leise, als furchtete er, jemand konnte ihn belauschen. »Wir alle wollen diese Sache aufgeklart sehen. Wenn es ein Unfall war, dann ist das schlimm genug fur das Kloster, aber wenn es kein Unfall war, dann … dann muss der Tater gefunden werden, damit er mit seinem Verbrechen nicht Schande uber dieses Haus bringen kann. Wir haben alles gegeben, um das Kloster zu retten, und das tun wir jetzt immer noch, und keiner von uns wird zulassen, dass jemand herkommt und unser Werk zerstort.«
»Konnen Sie uns vielleicht eine Liste Ihrer Gaste geben?«, mischte sich auf einmal Tobias ein und erntete einen argerlichen Blick von Alexandra. »Wir haben namlich derzeit keine Ahnung, wer sich uberhaupt im Haus aufhalt.«
Bruder Andreas wandte sich ihm zu. »Ja, naturlich. Einen Augenblick, ich muss nur kurz ins Buro, dann bekommen Sie einen Ausdruck.«
Wenig spater kam er zuruck. »Hier ist die aktuelle Liste. Ich habe Sie beide jetzt mal weggelassen, denn das ware ja irgendwie widersinnig.«
»Das sind ja nur … gut zehn Namen«, stellte Tobias fest, als er die Ubersicht sah. »Was ist denn mit dem Bus, der gestern Nachmittag noch auf dem Parkplatz stand?«
»Diese Gruppe ist gestern am fruhen Abend abgereist. Sie hat an einem funftagigen Besinnungsworkshop teilgenommen. ›Bewusst leben in funf Stufen‹. Ein sehr interessanter Kurs.«
»Hm, wann wurde Herr Wilden gestern eigentlich zum letzten Mal gesehen? Bevor der Bus abgefahren war oder auch noch danach?«
»Von der Reisegruppe kann niemand etwas mit Herrn Wildens Tod zu tun haben«, erklarte der Monch. »Ich habe ihn noch danach ins Haus kommen sehen, so etwa um kurz nach acht. Der Bus ist um … ja, ich glaube, es war Viertel nach sieben abgefahren.«
»Und Sie haben Wilden danach noch gesehen?«, vergewisserte sich Alexandra. »Ganz sicher?«
Bruder Andreas lachelte kurz. »Hatten
Alexandra schuttelte den Kopf.
»Als er ins Foyer kam, rechnete ich schon damit, wieder irgendwelche Beschwerden zu horen zu bekommen, aber er marschierte wortlos an mir vorbei in Richtung der Gastezimmer. Obwohl … wortlos stimmt nicht so ganz. Er hat irgendetwas vor sich hin gemurmelt. Um was es ging, habe ich jedoch nicht verstanden.«
»Und werden heute noch neue Gaste erwartet?«, wollte Tobias wissen.
»Tja, die Reisegruppe, die aus Goch herkommen sollte, wurde bei Aachen von der Autobahnpolizei angehalten. Offenbar war sie in einem nicht mehr verkehrstuchtigen Bus unterwegs, der stillgelegt wurde. Die Leute sind jetzt irgendwo bei Aachen einquartiert, und es sieht nicht danach aus, dass heute noch ein Ersatzfahrzeug zur Verfugung gestellt werden kann.«
»Dann sind also au?er uns nur noch Wildens Mitarbeiter hier?«
»Ahm … nein, Frau Berger«, antwortete Bruder Andreas. »Au?er Ihnen ist momentan kein Gast im Hause …«
»Was?«, rief sie aufgebracht. Das durfte doch nicht wahr sein! »Die haben sich alle aus dem Staub gemacht? Wie sollen wir dann noch dahinterkommen, wer …« Sie verstummte schnell wieder, als sie sah, dass der Monch eine beschwichtigende Handbewegung machte.
»Die Gruppe ist nicht abgereist, sondern nimmt die gebuchten Programme wahr«, erklarte er.
»Obwohl Wilden tot ist?«
»Ja«, sagte der Monch. »Es handelt sich zwar um eine betriebliche Veranstaltung, aber jeder der Mitarbeiter hat den Aufenthalt hier aus eigener Tasche bezahlen mussen, und da wir bei Stornierungen nichts zuruckerstatten …« Er hob bedauernd die Schultern. »Das war nicht unsere Entscheidung, sondern die der Bank. Es ist eine von verschiedenen Bedingungen, die wir akzeptieren mussten.«
»Das hei?t, wir konnen derzeit mit keinem von Wildens Mitarbeitern reden?«, warf Alexandra ein. »Wo sind sie denn?«
»Sie unternehmen eine Wanderung unter der Fuhrung von Bruder Jonas«, lie? der Monch sie wissen. »Wir erwarten sie nicht vor sechzehn Uhr zuruck.«
»Mist«, schimpfte sie. »Dann sitzen wir ja von jetzt an noch gut vier Stunden hier rum, ehe wir tatig werden konnen.«
Bruder Andreas sah sie bedauernd an. »Tut mir leid, doch ich kann Bruder Jonas auch nicht anrufen und ihn bitten, fruher zuruckzukehren. Sein Handy ist abgeschaltet. Die Gruppe unternimmt eine ›stille Wanderung‹, bei der nicht gesprochen und nicht telefoniert wird. Die Teilnehmer sollen sich dabei nur auf sich selbst und den Fu?marsch konzentrieren.«