»Was meinen Sie wohl, mein Lieber, was mich jetzt beschaftigt?« fragte die Witwe den Nachrichter, als sie einen Blick auf ihre Tochter geworfen hatte.
Der Nachrichter schwieg wie immer. Nur das Knirschen der Schere war horbar, zuweilen noch etwas wie Schluchzen oder Rocheln, das hin und wieder die Brust des dem Tode verfallenen Madchens hob.
Auf dem Gange erschien wieder ein Geistlicher und sprach mit dem Gefangnisdirektor leise ein paar Worte ... Es galt einen letzten Versuch, die Seele der Witwe ihrer Verstocktheit zu entrei?en.
»O, daran denke ich,« fuhr die Witwe fort, ohne sich dadurch, da? ihr keine Antwort zuteil wurde, irritieren zu lassen, »da? mein Madel vor funf Jahren noch das allerhubscheste Ding war, das man weit und breit vor Augen kriegen konnte ... Sie war eine gar niedliche Blondine und hatte ein Gesicht wie Milch und Blut ... Wer ihr damals wohl gesagt hatte, da? sie Ihnen noch einmal unter die Finger geraten werde!« – Ein paar Augenblicke schwieg sie. Dann setzte sie noch hinzu: »Das Leben ist doch eine – gar zu drollige – Komodie!«
Die letzten Haarbuschel fielen vom Haupte der Verurteilten.
»So! Nun waren wir fertig,« sagte der Henker hoflich wie vordem.
»Vielen Dank fur die artige Behandlung,« antwortete die Witwe, »und nun erlauben Sie mir wohl, Ihnen recht freundliche Behandlung auch meines Sohnes Niklas anzuempfehlen, der Ihnen doch gewi? auch demnachst unter die Schere kommen wird!«
Da sagte ein Fron dem Nachrichter leise ein paar Worte ins Ohr. Die Witwe jedoch fuhr ihn barsch an ... »Nein! Auf keinen Fall! Ich habe doch schon wiederholt mich dagegen verwahrt und gesagt, da? ich kein Wort von all dem Salbader horen mag!«
Der Geistliche, zu dessen Ohren die Worte gedrungen waren, schlug die Augen zum Himmel auf und faltete die Hande. Dann entfernte er sich wieder.
»Wir wollen nun aufbrechen,« sagte der Nachrichter, »mochten Sie gar nichts zu sich nehmen?« fragte er noch.
»Nein, vielen Dank!« versetzte die Witwe; »warum soll ich mir den Geschmack an der Erde verderben, womit man mir heute abend den Schnabel schon stopfen wird?«
Sie stand auf. Die Hande waren ihr auf dem Rucken zusammengebunden. Eine ziemlich lose Schnur hielt auch ihr die Fu?e zusammen, doch so, da? sie gehen konnte. Der Nachrichter und einer seiner Knechte wollten sie stutzen, trotzdem ihr Gang fest und sicher war. Aber sie machte eine ungeduldige Bewegung und sagte mit gebieterischer Stimme:
»La?t mich ungeschoren, nachdem Ihr mich geschoren habt! Ich bin gut zu Fu?e und sehe auch noch scharf. Auf dem Schafott wird man sich uberzeugen, da? ich auch noch ein gut beschlagenes Mundwerk habe ... Um Worte der Reue zu reden, dazu werde ich es schwerlich brauchen ...«
Die Witwe verlie? zwischen dem Henker und einem Knechte die Zelle. Die Tochter mu?te von zwei anderen Knechten auf dem Sessel hinausgeschleppt werden.
Als man uber den langen Gang hinweg war, ging es eine Steintreppe hinauf, die in einen Au?enhof fuhrte. Die Sonne ubergo? die hohen wei?en Mauern, die den Hof einschlossen, mit ihrem warmen, goldnen Lichte. Der Himmel war blau, die Luft war lau und lind. Es war ein prachtiger Fruhlingsmorgen ...
Im Hofe stand ein Gendarmerie-Pikett aufmarschiert. Vor ihnen hielt ein Fiaker, daneben ein langer schmaler Wagen mit gelbem Kasten, mit drei Pferden bespannt, die lustig mit ihren Glockchen klingelten und hie und da auch lustig wieherten.
Die Delinquentinnen mu?ten einsteigen. Auf einem Tritt wie in einem Omnibus ging es zum Wagen hinauf. Ein Verschlag wie beim Omnibus wurde aufgeklappt und, als alles eingestiegen war, zugeklappt. Diese ahnliche Beschaffenheit bewog die Witwe zu einem letzten Spotte ...
»Na, hier wird der Schaffner gewi? nicht sagen, der Wagen sei – voll!« Und als sie es gesagt, kletterte sie so gewandt, wie es die Fesseln ihr erlaubten, den Tritt hinauf ...
Die Tochter wurde in den Wagen gehoben und der Mutter gegenuber gesetzt. Dann wurde der Verschlag geschlossen ...
Der Kutscher war eingenickt. Der Henker ruttelte ihn ...
»O, nichts fur ungut,« sagte der Kutscher und sah verschlafen auf, »es ist doch Mittfasten heute. Da hat man die ganze Nacht hindurch zu kutschieren, und wenn man zu dieser Zeit einnickt, kanns einem niemand verdenken ... Ich habe gerade erst eine fidele Gesellschaft heimgebracht. Sie hatten mich auf Zeit gedungen ... und fast ware ich fur Sie uberhaupt nicht – gefahren!«
»Schon gut, schon gut!« antwortete der Henker, »fahren Sie hinter dem Wagen dort her! Gerade auf den Boulevard Saint-Jacob!«
»Na, was einem doch nicht alles passiert!« meinte der Kutscher, »vor einer Stunde noch zu Balle, und jetzt zum Papa Gurgelschneider! Es ist gar kurios im Leben, manchmal gar zu kurios!«
Die beiden Wagen, von Gendarmen eskortiert, fuhren im Trabe aus dem Tore von Bicetre hinaus und im Trabe auf der Stra?e nach Paris entlang.
Neuntes Kapitel.
Rudolfs Dank gegen Schuri und Martial.
Sobald Germain aus dem Gefangnisse entlassen worden war, machte es Schuri keinerlei erhebliche Schwierigkeit, nachzuweisen, da? er den Einbruch, auf Grund dessen seine Festnahme erfolgt war, nur simuliert hatte. Er machte dem Untersuchungsrichter gegenuber kein Hehl uber den Zweck, den er mit dieser wunderlichen Irrefuhrung verfolgt hatte, und wurde, nachdem ihm der Richter eine ernstliche Vermahnung mit auf den Weg gegeben, ebenfalls in Freiheit gesetzt.
Rudolf hatte, als sich das ereignete, uber den Verbleib Marienblumchens noch keinerlei Aufklarung. Da er nun seinem alten Bekannten Schuri, dem er ja schon das Leben verdankte, fur die in seinem Interesse neuerdings vollbrachte Handlung seinen Dank nicht schuldig bleiben mochte, hatte er ihm in seinem Palais Unterkunft gegeben, ja ihm sogar versprochen, ihn mit sich nach Gerolstein zu nehmen. Schuri fuhlte Rudolf gegenuber, wie schon gesagt, die blinde Anhanglichkeit eines Hundes gegen seinen Herrn. Sein Ehrgeiz und Gluck beschrankten sich darauf, mit Rudolf unter einunddemselben Dache zu wohnen, ihn von Zeit zu Zeit zu sehen und, wie der Habicht auf seine Beute, ungeduldig auf eine Gelegenheit zu warten, wo er sich ihm und den Seinigen zum weiteren Male nutzlich machen konnte. Diese Lage zog er allem Besitztum und Vermogen in Algier tausendmal vor, trotzdem ihm Rudolf die Hand, beides zu erwerben, geboten hatte.
Hierin trat eine Aenderung ein, als der Gro?herzog seine Tochter wiedergefunden hatte. Trotz allem Dankgefuhl fur seinen Lebensretter konnte der Gro?herzog sich doch nicht dazu entschlie?en, einen solchen Zeugen der schmahlichen Situation, in der sich sein Kind in Paris befunden, mit nach Deutschland hinuber zu nehmen. Anderseits wollte er dem Manne nicht zu nahe treten, und so kam er zu dem Entschlusse, ihn zu sich zu bescheiden und ihm freizustellen, welche Wunsche er au?ern wolle. Schuri erschien hochbegluckt, und als ihm Rudolf gar sagte, da? er einen Freundschaftsdienst von ihm zu erbitten habe, verklarte sich Schuris Gesicht vor Freude schier. Auf die Mitteilung hin jedoch, da? es als ausgeschlossen gelten musse, da? Schuri den Fursten nach Deutschland begleite, verschwand alle Freude im Nu, um einer argen Besturzung Platz zu machen. Ganz aus dem Hauschen schien er geraten zu wollen, als er horte, es sei sogar notwendig, da? er noch heute das Palais verlasse.
Von all den im wahrsten Sinne des Wortes furstlichen Entschadigungen zu reden, die ihm von dem Fursten geboten wurden, wird nicht erst notwendig sein. Es hatte mancher aus den hochsten Kreisen alle zehn Finger danach ausgestreckt. Bei Schuri lagen die Dinge jedoch anders: er fuhlte sich im innersten Herzen getroffen und schlug deshalb alles aus, was ihm geboten wurde, ja er weinte schlie?lich wie ein kleines Kind, zum ersten Male vielleicht in seinem ganzen Leben. Rudolf mu?te all seinen Einflu? aufbieten, um Schuri soweit zu bringen, da? er wenigstens all das behielt, was ihm Rudolf bislang zugewendet hatte.
Am nachsten Tage lie? nun Rudolf Martini mit seiner unter dem Namen »die Wolfin« bekannten Braut zu sich bescheiden, ohne ihnen jedoch zu sagen, da? Marienblume sein leibliches Kind sei. Er verlangte von ihnen nur Auskunft daruber, wie er sich ihnen dankbar erweisen konne, und gab ihnen das Versprechen, da? all ihre Wunsche befriedigt werden sollten. Als er sah, da? keines von beiden mit der Sprache heraus wollte, fiel ihm ein, was ihm Marie von den Zukunftsgedanken der beiden rauhen Leute erzahlt hatte, und stellte ihnen frei, zwischen