eben Reue nach meiner Strafe fuhlte, weil ich mich, ohne zu stehlen, in die schwerste Not gefunden habe, und immer darauf bedacht gewesen bin, mir auf ehrliche Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dabei jemand nachzustellen oder ubel zu wollen ... ohne Rucksicht darauf, da? mich alle Welt fur einen ausgemachten Spitzbuben gehalten hat ... und das konnte doch sicher nicht eben ermutigend oder anspornend wirken.«

»Freilich, ein aufmunterndes Wort zur rechten Zeit tut einem von Zeit Zu Zeit not und kann Wunder wirken.«

»Nicht wahr, Martial? Nun, mir hat das Herz unter meiner Bluse schier gehammert, als mir Herr Rudolf solche Worte sagte ... und seitdem, Martial, seitdem ware ich fur alles, was gut und recht ist, durchs Feuer gegangen ... Trifft sich solche Gelegenheit, dann wird die Welt ja sehen ... Und wem verdanke ich es, da? es so gekommen ist? Einzig und allein dem Herrn Rudolf!«

»Gerade weil du tausendmal besser geworden bist, als du warst, gerade darum durftest du dich nicht mit derlei truben Gedanken befassen ... Was du getraumt hast, hat gar nichts zu sagen ...«

»Nun, wollen sehen, wollen sehen! ... Absichtlich suche ich Ungluck freilich nicht auf, denn ein gro?eres Ungluck, als Herrn Rudolf im Leben nicht wiederzusehen, gibt es fur mich nicht, zumal seitdem ich Hoffnung haben durfte, fur immer bei ihm zu bleiben ... Auf meine Art und Weise ware ich naturlich bereit und zur Stelle gewesen, bin ich ihm doch nicht blo? mit Worten zugetan, sondern mit Leib und Seele... Nenn sieh, Martial, neben ihm bin ich doch nur ein Wurm; nicht selten aber konnen doch auch die Kleinsten einem Gro?en von recht gutem Nutzen sein ... Sollte solcher Fall einmal eintreten, so mochte ich es mir nie verzeihen, da? er auf mich als Hilfe in der Not nicht zuruckgegriffen hat.«

»Wer wei?! Vielleicht sehen Sie ihn doch einmal wieder ...«

»Glaube das nicht, Martin! Nein, das wird nimmer der Fall sein! Hat er mir nicht schon das Versprechen abgenommen, da? ich niemals den Versuch machen solle, ihn wieder aufzusuchen? Hat er nicht dabei hinzugesetzt, da? ich ihm keinen gro?eren Gefallen tun konnte? Nun, Martial, ich habs ihm versprochen und mu? es nun auch halten, wenn es mir auch noch so schwer ankommt.«

»Bist du erst mal uberm Mittelmeere, dann wirst du auch langsam druber wegkommen lernen, Schuri! Wir werden dort allein und in Ruhe leben, wie ein paar getreue Freunde und gute Nachbarn ... bis auf die paar Flintenschusse, die es von Zeit zu Zeit gegen die Araber setzen durfte ... Na, dawider haben weder ich noch meine Frau etwas einzuwenden ... meine Frau hat Mut ... darum hie? man sie ja hier auch die Wolfin.«

»Mit den Flintenschussen, Martini,« erwiderte Schuri, seiner Beklommenheit einigerma?en ledig werdend, »durfte wohl ich mich zumeist zu befassen haben ... Ich bin nicht verheiratet und bin Soldat gewesen ...«

»Und ich, Schuri, Hab gewildert ... war sogar ein gefurchteter Wildschutz!« sagte, nicht ohne Stolz, Martial.

»Du hast aber Frau, Bruder und Schwester, und bei den beiden vertrittst du Vaterstelle. Wer nur seine eigene Haut zu Markte tragt, der legt leinen hohen Wert darauf.. Kommt's also zu Flintenschussen, dann trete ich ein, verstanden?«

»Nein. Flintenschusse sind unser beider Sache! davon gehe ich nicht ab – unter keinen Umstanden!«

»Donnerwetter, nein! Beduinen scheren dich nicht, sondern einzig und allein mich!«

»Na, wenn du so redest, dann gefallst du mir besser als bisher, horst du, Freund Schuri? ... Nun, wir werden beide, wie gesagt, wie ein Paar Bruder leben, und wenn dich die Lust dazu anwandelt, kannst du uns ja dein Herz ausschutten, bis ich mal an die Reihe damit komme; denn mir fehlts auch nicht an Kummer, verla? dich drauf! Oder meinst du, ich konnte im Leben den heutigen Tag vergessen, der meine Mutter und Schwester auf dem Blutgeruste gesehen hat? Glaub' mir, mir werden ihre beiden Gestalten auch oft genug im Traume erscheinen, wie ich sie gestern zum letzten Male gesehen habe ... Wir sind einander in zuviel Hinsichten verwandt, Schuri, als da? wir uns zusammen nicht ganz wohl fuhlen sollten ... Keiner von uns beiden wird der Gefahr den Rucken wenden; wir werden eben halb Bauern, halb Soldaten sein ... An Jagdgrunden fehlts druben in Algier nicht. Warum sollten wir also nicht ein paar Nimrode werden? ... Willst du fur dich allein hausen, so ist dir auch nichts im Wege; wir bleiben trotzdem gute Freunde und getreue Nachbarn. Pa?t's dir anders besser, nun, so hausen wir zu dritt oder, die Geschwister mitgerechnet, zu funft. Dann magst du, wenn es dir recht ist, die beiden Kinder, und, wenn noch andere kommen, auch die miterziehen helfen, kannst so etwas wie Onkelstelle bei ihnen vertreten, weil wir nun doch einmal Bruder sind ... Nicht wahr, das leuchtet dir ein?« – Nach diesen Worten reichte Martial dem Kameraden treuherzig die Hand ...

»Mir soll's so recht sein, lieber Martial,« sagte Schuri, »aber denke daran, da? Gram leicht umbringt – aber – da? es bei mir hei?t: entweder er oder ich, auch dem bosen Gesellen Gram gegenuber ...«

»Na, dir wird er nicht an den Kragen konnen,« sagte Martial und schien lachen zu wollen; aber es mochte ihm doch nicht recht gelingen; drum setzte er hinzu: »Zwischen uns soll's druben in Algier hei?en: Bruder – durch Rudolfs Gnaden ... das soll unser Gebet fur ihn sein!«

»Bei deinen Worten, Martial, wird's mir in der Tat wohler zumute!« sagte Schuri, und Martial fragte ihn: »Nicht wahr? Und nun denken wir nicht weiter mehr an den schlimmen Traum?« »Versuchen will ich es ja,« erwiderte Schuri.

»Um vier Uhr also holst du uns ab? Vergi? nicht, da? um funf schon die Post abgeht.«

»Topp!« antwortete Schuri, »aber sieh da! Wir sind ja gleich in Paris ... La? die Droschke halten! Ich will zu Fu? bis zur Charentoner Linie gehen und versuchen, ob ich Herrn Rudolf noch einmal werde sehen konnen.«

Der Wagen hielt, und Schuri stieg aus ...

Martial rief ihm noch einmal nach... »Also nicht vergessen! Punkt vier!«

Schuri hatte vergessen, da? es der Tag nach Mittfasten war, sonst hatte er sich kaum gewundert uber das wunderliche, ha?liche Schauspiel, das ihm wurde, als er uber einen Teil des au?ern Boulevards ging in der Absicht, zur Charentoner Linie zu gelangen.

Elftes Kapitel.

Gottes Finger.

Schuri sah sich nach wenig Augenblicken durch eine geschlossene Menge mit hinweggerissen, die aus den Vorstadtwirtshausern gestromt war und sich vor der Linie gestaut hatte, um sich von dort uber den Boulevard Saint-Jacob zu ergie?en. Von weither horte man, wiewohl es schon heller Tag war, schallende Orchestermusik, denn in keiner Schenke ging es heute still her. Fast alle Manner, auch Weib und Kind trugen Maskenkostume, und wer sich den Luxus eines Kostums nicht leisten konnte, hatte doch fur allerhand Ausputz, und wenn er sich aus Lumpen und Flitter zusammensetzte, gesorgt. Auf allen durch Ausschweifung und Laster zerstorten Gesichtern leuchtete wilde Freude, und nicht zum mindesten hatte sich die frohe Stimmung dadurch schier ins Ma?lose gesteigert, da? sich die Kunde von der fur den Morgen zu erwartenden Hinrichtung unter der Menge verbreitet hatte.

Schon war ja das Schafott aufgeschlagen worden. Eine unerme?liche Volksmenge – der ekelhafteste Abschaum der Pariser Bevolkerung, aus Raubern, Wegelagerern, Dieben und Gaunern aller erdenklichen Schattierungen bestehend – drangte sich hier, wo sich der au?ere Boulevard erheblich verengert.

All seine Riesenkraft half Schuri nichts: er mu?te in dieser geschlossenen Masse stehen bleiben, ohne da? er ein Glied ruhren konnte. Er fugte sich darein, da ihm fur den Augenblick weiter nichts ubrig blieb. Wie ihm gesagt worden war, sollte Furst Rudolf in der zehnten Stunde aus der Rue Plumet abfahren, konnte also vor elf Uhr nicht an der Charentoner Linie sein. Jetzt war es erst etwa sieben Uhr.

Schuri fuhlte einen unuberwindlichen Abscheu vor diesem Pobel, in dessen Mitte er geraten war, wenngleich er fruher nur mit den niedrigsten Elementen Umgang gehabt, hatte. Der Menschenstrom schob ihn bis an die Mauer eines der vielen Boulevard-Wirtshauser, und so wurde er, ohne es zu wollen, Zeuge einer wunderlichen Szene, die sich in einem gro?en, zum Tanzsaale hergerichteten Schenkraume abspielte.

An demjenigen Saalende, wo die Musik ihren Platz hatte, wo Banke und Tische mit allerhand Tafelresten, zerbrochenem Geschirr und umgesturzten Flaschen aneinander geruckt standen, erging sich ein Dutzend von Halbbetrunkenen kostumierten Mannern und Weibern in einem tollen, unzuchtigen Tanze, der in der Regel erst dann unternommen wird, wenn die Polizeistunde geschlagen hat und der betreffende Raum, der dafur ausersehen ist, nach au?en hin geschlossen werden kann.

Zwischen den Paaren, die an diesen Saturnalien sich beteiligten, fielen Schuri zwei auf, die durch ihre

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