fortzusetzen.
Der Kurier war ein kraftiger, entschlossener Mann, der sich nicht besann, seinen Peitschenstiel zu schwingen und dem Skelett zuzurufen:
»Losgelassen, oder ich schlage dir den Peitschenstiel uber den Kopf!«
»Hund! Riskiers nur!« schrie das Skelett, ohne der Aufforderung Folge zu leisten ...
»Platz da!« rief der Kurier wieder, »wer hat hier ein Recht, mich anzuhalten? Hinter mir her kommt der Wagen meines Herrn. Horst du nicht schon die Peitschen knallen? Platz hier fur mich und meinen Herrn!«
»Was geht mich dein Herr an?« rief das Skelett, »tot steche ich ihn, wenns mir einfallt – hab ohnehin noch keinen wirklich gro?en Herrn kalt gemacht!«
Da rief der lahme Junge: »Herren gibts nicht mehr – wir machens wie unsre Altvordern – wer Herr sein will, mu? aufs Schafott! Das Volk ist Justiz! Das Volk ist Justiz!« – Und wahrend er den Vers aus der Marseillaise sang:
Der mit vier Pferden bespannte Wagen des Fursten fuhr schon eine Zeitlang im Schritt, und zwei von den Dienern, die wegen Sarahs Abscheiden in Trauer gingen, waren klugerweise von ihrem Hinterplatz abgestiegen und gingen, da die Kutsche sehr niedrig war, neben dem Verschlage her. »Achtung!« riefen die Postillone wieder und fuhren mit der gro?tmoglichen Vorsicht.
Rudolf, wie seine Tochter, in Trauer gekleidet, blickte mit inniger Freude in ihr sanftes, liebliches Gesicht, das von einem schwarzen Krepphute umrahmt war, der die blendende Wei?e ihres Teints und den Glanz ihres schonen blonden Haars kraftig hervorhob, wahrend in ihren blauen Augen sich das herrliche Blau des Himmels zu spiegeln schien. Zwar zeigte ihr mild lachelndes Gesicht, wenn sie den Blick auf ihren Vater richtete, Gluck und Ruhe, wenn aber ihres Vaters Blicke nicht auf ihr ruhten, machte dieser Ausdruck schnell einem melancholischen Anfluge Platz, der sich wie ein Schatten uber das Gesicht lagerte.
»Du bist doch nicht ungehalten, liebes Kind,« fragte Rudolf lachelnd, »da? ich dich so zeitig aus deiner Ruhe aufgescheucht habe?«
»Nicht doch, lieber Vater! Wir wollten doch zeitig abreisen, und es ist ja schon so fruh hell!«
»Ich dachte, die Reise wurde sich besser einrichten lassen,« sagte Rudolf, »wenn wir uns beizeiten auf den Weg machten, auch da? sie dich weniger angreifen mochte. Murph wird dich mit meinem Gefolge, unter dem sich auch deine Bedienung befindet, auf der ersten Raststation treffen!«
»Sie denken immer nur an mich, mein lieber Vater!«
»Kann ich jetzt wohl einen andern Gedanken haben?« erwiderte der Furst lachelnd, »du bist ja meine einzige Tochter! Komm, neige deine Stirn!«
Marie beugte sich zu ihrem Vater nieder, und Rudolf ku?te sie. In diesem Augenblick erreichte der Wagen die Volksmenge und verlangsamte sein Tempo auf hochst auffallige Weise. Erstaunt lie? Rudolf das Kutschfenster herunter und fragte seinen neben dem Schlage hergehenden Diener, was es gebe und was der Larm zu bedeuten habe?
»Es ist eine solche Volksmenge hier, da? die Pferde nicht weiter konnen.«
»Und was will das Volk?« fragte Rudolf.
»Es hei?t, konigliche Hoheit, eine Hinrichtung ..«
»Das ist ja schrecklich, da? gerade uns so etwas in den Weg kommen mu?,« rief Rudolf.
»Was ist Ihnen, Vater?« fragte Marie besorgt.
»O, nichts,« versetzte Rudolf, »nichts, Kind!«
»Aber was ist denn das fur Geschrei?« fragte Marie, »horen Sie doch nur! Die Leute drangen naher und naher heran ... Jesus Christus!« schrie sie auf, »was hat das zu bedeuten?«
»Franz, sage den Kutschern, sie mochten auf der Stelle umdrehen und die Charentoner Stra?e entlang fahren,« befahl Rudolf.
»Dazu ist es zu spat, konigliche Hoheit,« versetzte der Diener, »denn wir sind schon mitten im Gedrange ... verdachtiges Gesindel halt unsre Pferde an!«
Franz konnte nicht weiter sprechen; die Menge, gereizt durch die wusten Prahlereien von Niklas und dem Skelett, umringte mit lautem Geschrei den Wagen. Aller Drohungen und Anstrengungen der Postillone ungeachtet, wurden die Pferde zum Stehen gebracht, und uberall zeigten sich wilde, drohende Gesichter. Alle ubrigen weit uberragend, trat jetzt das Skelett an den Wagenschlag.
»Vater, Vater,« rief Marie, »Achtung, Achtung!« – und inbrunstig schlang sie die Arme um ihn.
Der Rauber steckte den ha?lichen Kopf zum Wagen herein und fragte, die Zahne fletschend: »So? Sie sind also der Herr des Wagens?«
Ware nicht Marie an seiner Seite gewesen, so hatte Rudolf sicher seinen aufbrausenden Charakter nicht bandigen konnen. So aber hielt er an sich und fragte kalt und gemessen: »Was wollt Ihr von mir, und warum haltet Ihr meinen Wagen an?«
»Warum? Weil es uns halt so beliebt!« versetzte das Skelett, die knochigen Fauste auf den Schlag legend: »es kommt eben jeder an die Reihe ... Gestern hast du die Kanaille geschurigelt, heute wird sich die Kanaille dafur rachen, sobald du dich mucksen solltest.«
»Vater, Vater,« klagte Marie, »wir sind verloren!«
»Sei nur ruhig, Kind,« erwiderte Rudolf, »ich rate schon, worauf die ganze Komodie hinaus geht ... Es ist letzter Karnevalstag, die Leute sind im Rausche – ich will sie bald vom Halse haben.«
»Aussteigen, aussteigen!« schrie Niklas, »warum fahrt solch ein Kerl mitten ins Volk hinein?«
»Wie es scheint, haben Sie ein paar Ma? uber den Durst getrunken,« fuhr Rudolf den frechen Wicht an, eine Borse aus der Tasche ziehend und dem Schreier hinwerfend, »da! nehmt das, haltet aber meinen Wagen nicht langer auf!«
Der lahme Wicht fing sie auf ... »So? Du willst auf die Reise?« rief der Bandit, »hast wohl viel Moos bei dir? Heraus damit, oder ich mache dich kalt! Zu riskieren habe ich nichts, denn ich fordere dir dein Geld am helllichten Tagend.. Also: dein Geld oder dein Leben!« Mit diesen Worten ritz der von Wein und Blutdurst vollig berauschte Bandit den Schlag auf ...
Rudolfs Geduld war zu Ende. Mariens Angst nahm mit jeder Minute zu. Besorgt um sie und in der Meinung, eine Kraftau?erung mochte den Elenden, den er fur betrunken hielt, einschuchtern, sprang er aus dem Wagen, den Rauber an der Kehle zu packen. Im ersten Augenblick wich dieser zuruck, dann aber ri? er ein langes Dolchmesser aus dem Gurtel und sturzte auf Rudolf los ...
Als Marie den Dolch des Raubers uber dem Haupte ihres Vaters sah, stie? sie einen herzzerrei?enden Schrei aus, sprang aus dem Wagen und umschlang Rudolf mit den Armen...
Hatte sich nicht in diesem Augenblick ein Mann aus der Menge mit ubermenschlicher Anstrengung den Weg zu dem Skelett frei gemacht, so ware es um Rudolf und Marienblumchen geschehen gewesen ... Der Mann war kein anderer als Schuri ... Gerade als der Bandit den Fursten mit dem Messer anfallen wollte, fiel ihm Schuri in den Arm, packte ihn am Kragen und druckte ihn zur Erde nieder ...
Der Rauber, obgleich unversehens von hinten gepackt, konnte sich umdrehen und erkannte Schuri auf der Stelle ..
»Ha!« schrie er, »der Mann aus La Force? Der Kerl in der grauen Bluse! Warte, diesmal entgehst du mir nicht!« Und wie rasend sturzte er uber Schuri her und rannte ihm das Messer bis ans Heft in die Brust ...
Schuri wankte wohl, fiel aber nicht – denn die Menge stand so dichtgedrangt, da? kein Platz fur einen liegenden Menschen gewesen ware ...
»Die Wache! Die Wache!« riefen verschiedene Stimmen.
Bei diesen Worten zerstreute sich die Menge, angesichts des Ermordeten, denn jeder furchtete fur seine Haut – und war wie durch einen Zauberschlag nach allen Seiten hin zerstoben ... Auch das Skelett, Niklas und der kleine, lahme Wicht waren verschwunden, wie in den Erdboden gesunken ...
In Begleitung der Wache kam der Kurier des Fursten, dem es gelungen war, den Weg durch die Menge zu gewinnen und die Wache zu alarmieren. Aber auf dem Schauplatze des traurigen Ereignisses war au?er Rudolf, Marien und dem in seinem Blute schwimmenden Schuri niemand mehr zugegen.