Wetter, in der dritten Nachmittagsstunde, begab sich Rudolf in die Rue du Temple. Die Stube des Portiers lag am Fu?e einer finstern, feuchten Treppe. Selbst bei Tage mu?te eine Lampe brennen, um die dunkle Hohle zu erhellen. Rudolf trug eine Kleidung, die ihn wie einen Kommis im Werkeltagsanzuge erscheinen lie?. Mit dem Wunsche, das Zimmer anzusehen, das in dem Hause zu vermieten stand, trat er in die durch eine Lampe, die hinter einer mit Wasser gefullten Glaskugel stand, matt erhellte Stube. Schon daran hatte sich erkennen lassen, da? der Pfortner dem edlen Schuhmacherhandwerk angehorte; allen Zweifel hieran hob aber der ha?liche Ledergeruch, welcher in der Stube herrschte, und die gro?e Menge alten Schuhzeugs, das der ausbessernden Hand des Pfortners harrte.
Pipelet – wie der flickschusternde Pfortner hie? – war im Augenblick nicht zur Stelle, sondern wurde durch seine Frau vertreten, die ganz sicher die ha?lichste, schmutzigste, keifigste, giftigste aller Pariser Pfortnerfrauen der damaligen Zeit war.
»Das Zimmer, nach welchem Sie fragen,« entgegnete die Frau murrisch auf Rudolfs Frage, »liegt im vierten Stock, kann aber momentan nicht besichtigt werden, denn mein Mann ist ausgegangen.« – »Wenn Sie nichts dawider haben,« versetzte Rudolf, »werde ich ein Weilchen warten. Ich mochte das Zimmer gern haben. Stadtteil und Stra?e gefallen mir, und das Haus auch, denn soviel man sehen kann, wird es sehr sauber gehalten. Ich mochte auch gleich fragen, ob Sie die Aufwartung fur mich ubernehmen mochten.« – Frau Pipelet fuhlte sich durch die Lobreden uber die Wirtschaft, die im Hause herrschte, nicht wenig geschmeichelt, und erklarte, fur 6 Franks monatlich die Aufwartung gern besorgen zu wollen. Auf Rudolfs Frage, wie teuer das Zimmer sei, erwiderte Frau Pipelet: »Mit Schlafkabinett 150 Franks. Es ist das au?erste. Herr Rotarm, der Wirt, ist ein sehr genauer Herr. Er wohnt in der Rue des Poix und hat auch ein Restaurant in den Champs-Elysees.« – »Ich denke, das Haus gehort einem Herrn Bourdon?« – »Das kann sein,« versetzte Frau Pipelet, »wir haben es aber nur mit Herrn Rotarm zu tun, der die Mieten einkassiert, auch uber die baulichen Veranderungen, die hin und wieder von noten sind, das entscheidende Wort spricht.« – Um sich ganz in das Vertrauen der Pfortnersfrau einzuschleichen, bat er sie, aus der nachsten Destillation eine Flasche vom »Besten« mit drei Glasern zu holen, und gab ihr dazu ein Hundertsousstuck. Darob funkelte die Nase der Biederfrau flugs in allem Glanze des Schnapsdurstes, und mit den Worten: »Ihnen mu? man ja auf der Stelle gut sein,« verlie? sie die Stube.
Als Rudolf allein war, konnte er nicht umhin, sich mit dem wunderlichen Zufalle zu befassen, der ihn abermals mit Rotarm zusammenbrachte. Was ihn am meisten wunderte, war, da? Germain sich ein ganzes Vierteljahr in diesem Hause hatte aufhalten konnen, ohne von Bakels Komplizen entdeckt zu werden, die doch mit Rotarm in Verbindung standen. Da pochte ein Brieftrager ans Fenster und gab mit der Bemerkung, da? er drei Sous zu fordern habe, zwei Briefe herein. Ein Brief, stark nach Moschus riechend, war an Frau Pipelet gerichtet und zeigte auf dem roten Siegel zwei Buchstaben: C. R., mit einem Helm daruber auf einem gesternten Schilde des Kreuzes der Ehrenlegion. Die Adresse war mit fester Hand geschrieben. Rudolf schlo? hieraus, da? sie von keiner Frauenhand herruhre. Der andere Brief war nur mit einer Oblate zugemacht; er trug die Aufschrift: »An Herrn Zahnarzt Casar Bradamanti,« in offenbar entstellten Buchstaben. Rudolf meinte, er musse einen traurigen Inhalt haben, zumal an einigen Stellen deutliche Spuren von Tranen auf dem gewohnlichen grauen Papiere zu sehen waren.
Frau Pipelet kam mit einer Flasche Likor und drei Glasern zuruck ... Rudolf gab ihr die beiden vom Brieftrager dagelassenen Briefe ... Einen Blick auf den nach Moschus duftenden werfend, sagte sie: »Oho! Fein satiniertes Papier? Ist am Ende gar ein Liebesbrief. Aber – wer konnte sich herausnehmen ...« sie schwieg ein Weilchen; dann rief sie: »Richtig, Jetzt hab ichs! Von dem Kommandanten kommt er, von niemand sonst! Der andere? Hm, der interessiert mich wenig; er gehort dem windigen Zahnbrecher im dritten Stocke ... Sie konnten mir doch den an mich gerichteten vorlesen, junger Herr! Wollen Sie so liebenswurdig sein?« – »Sehr gern,« antwortete Rudolf, dem es nicht unlieb war, auf diese Weise zu erfahren, mit wem die Frau in Briefwechsel stand ... »Morgen um elf Uhr wird man in den beiden Stuben Feuer anmachen, die Spiegel putzen, die Kappen von den Stuhlen abziehen. Hierbei ist aber darauf zu achten, da? die Vergoldung an den Mobeln nicht beschadigt werde! Sollte ich noch nicht da sein, wenn um ein Uhr ein Fiaker kommt und nach mir als Herr Karl fragt, so soll man die Dame in die Wohnung hinaufgehen lassen, aber die Schlussel wieder mit hinunter nehmen und mir behandigen, wenn ich selbst komme.«
Rudolf begriff auf der Stelle, um was es sich handelte, trotzdem der Brief nicht besonders geschickt gefa?t war. Er fragte die Frau: »Wer wohnt denn im ersten Stock?« – Darauf legte die Alte den gelben, durren Finger auf ihre Hangelippe und antwortete mit einem Lacheln, das schelmisch sein sollte: »Hm, Liebesaffaren, Liebesaffaren!« Sie schien erst weiter nichts sagen zu wollen, besann sich dann aber anders und fuhr fort: »Was ich davon wei?, kann ich Ihnen ja sagen, zumal es nicht eben viel ist. Es mag etwa sechs Wochen her sein, da sah sich ein Tapezier das erste Stock an, das gerade zu vermieten stand, fragte, was es kosten solle, und kam alsbald mit einem stattlichen jungen, blonden Herrn wieder, den er als Kommandant anredete. Der Herr trug das Kreuz der Ehrenlegion und sehr feine Wasche, auch einen kleinen zierlichen Schnurrbart. Ihm gefiel alles, und am andern Tage wurde der Vertrag mit Rotarm geschlossen. Der Tapezier bezahlte die Miete auf ein halbes Jahr voraus und moblierte die Wohnung auf das feinste. Als alles fertig war, kam der junge Herr wieder, erklarte sich in jeder Hinsicht zufrieden und sagte zu Alfred, meinem Manne: »Ich werde nicht allzu oft hier sein, nehme aber an, da? Sie alles imstande halten und, wenn ich Ihnen meine Ankunft anzeige, die notigen Vorkehrungen treffen werden?« – »Selbstverstandlich, Herr Kommandant!« erwiderte mein Mann, forderte dafur monatlich zwanzig Franks, aber der junge Herr handelt wie ein Jude, und so haben wir uns auf zwolf Franks monatlich geeinigt.« – »Ist der Herr seitdem schon dagewesen?« fragte Rudolf. – »Das ist eben das Merkwurdige an der ganzen Geschichte. Es scheint, als wenn der junge Herr Kommandant niedertrachtig an der Nase herumgefuhrt wurde. Schon dreimal hat er wie heut geschrieben und befohlen, Feuer anzumachen und die Betten zu uberziehen, da eine Dame kommen werde; aber wer niemals kommt, das sind die – Damen!«
»Aber der Herr kam?« – »Ja. Das erste Mal war er ganz vergnugt und wartete zwei volle Stunden. Beim zweiten Male kam wenigstens ein Dienstmann mit einem Billet an Herrn Karl ... »Herr Kommandant,« sagte ich, als ich ihm das Billet behandigte, »heute scheints wieder nichts zu werden.« – Da guckte er mich gro? an, machte den Brief auf, las ihn und sagte: »Da? heute niemand kommen werde, habe ich ja schon voraus gewu?t.« Beim dritten Male dachte ich wirklich, da? es zu etwas kommen werde; mit freudestrahlendem Gesichte kam der Kommandant und schien seiner Sache mehr als sicher zu sein. Nicht lange, so fuhr ein Fiaker vor, der Kutscher sprang vom Bocke und offnete den Schlag; wir sahen eine Dame mit einem Muff auf den Knien und einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Sie hielt das Taschentuch vor den Mund, und mir war es, als ob sie weinte. Kaum hatte auch der Kutscher den Schlag heruntergelassen, als sie sich zu ihm beugte und ein paar Worte sprach, worauf er verwundert den Schlag wieder zuwarf. – Beide Hande vor das Gesicht druckend, legte sie sich in den Wagen zuruck, ich aber konnte mich in meinem Versteck nicht mehr halten, sondern rannte zur Tur und fragte den Kutscher, als er auf den Bock stieg, wohin er fahren solle. – »Dorthin zuruck, woher wir kommen.« – »Und wohin ist das?« fragte ich weiter. – »Nach der Rue Saint-Dominique, Ecke der Rue Belle Chasse.«
Bei diesen Worten schreckte Rudolf zusammen, denn einer seiner besten Freunde, der Marquis von Harville, der seit einiger Zeit in Schwermut verfallen war, wohnte in der genannten Stra?e. War es die Marquise, die auf solche Art ihrem Verderben entgegenrannte? Schopfte ihr Gemahl Argwohn gegen sie? War etwa diese Untreue seiner Frau der Wurm, der an seinem Herzen nagte? Aber Rudolf kannte doch die Personen, die den Umgang der Marquise bildeten, und besann sich nicht, je einen Menschen darunter gesehen zu haben, auf den das ihm von der Pfortnerin gegebene Signalement des Kommandanten pa?te. Konnte nicht auch die Dame, von der jetzt die Rede war, sich in der Rue Saint-Dominique einen Fiaker genommen haben, ohne dort zu wohnen? Was waren sonst fur Beweise dafur vorhanden, da? es die Marquise sei? Und doch war es Rudolf nicht moglich, sich eines gewissen Argwohns zu entledigen.
»Seitdem, wie gesagt,« schwatzte die Frau weiter, »haben wir weder den schonen jungen Herrn noch die Dame wiedergesehen; aber nun mu? ich doch mal nach meinem Essen sehen; ich habe ein Huhn auf dem Feuer, und mit meinem Alfred ist nicht zu spa?en, wenn er heimkommt und sein gutes Stuck Fleisch nicht im Schmortopfe findet.«
Wahrend Frau Pipelet sich ihren hauslichen Angelegenheiten widmete, spukten Rudolf allerhand trube Gedanken im Kopfe herum. Die Dame, die nun zum drittem Male in dem Hause, dessen Verwaltung Pipelets fuhrten, erwartet wurde, war sicher uber den unvorsichtigen Schritt, zu dem sie sich hatte verleiten lassen, in letzter Stunde heftig erschrocken und zauderte noch immer, sich zu einem Stelldichein zu begeben. Schlie?lich mochte sie aber dem unwiderstehlichen Drange nachgegeben haben, war unter Tranen bis an die Tur des Hauses gefahren, wo sie ihren schmachtenden Liebhaber treffen sollte, hatte aber in dem Augenblicke, als sie sich fur ihr