»Germain hat das Madchen also nicht wiedergesehen, seit er aus dem Haus ausgezogen ist?« – »Nein, hochstens einmal Sonntags, was ich naturlich nicht wissen kann. In der Woche nimmt sich das Madchen keine Zeit, sich mit Liebhabern zu befassen. Zwischen 5 und 6 Uhr ist sie schon auf den Beinen, bis um 10 Uhr arbeitet sie, manchmal sogar bis nach 11, und geht niemals aus ihrer Stube, au?er wenn sie Einkaufe zu besorgen hat. Sie ist auch recht gut und mildtatig. Bei den armen Leuten oben unterm Dache, die wahrscheinlich in den nachsten Tagen exmittiert werden durften, hat sie mit Herrn Germain mehr denn eine Nacht die kranken Kinder gewartet und gepflegt.«

»Was Sie sagen! Also arme Leute wohnen auch hier?« fragte Rudolf. – »Ja,« versetzte die Pfortnerin, »und recht, recht armes Volk! Funf kleine Kinderchen, die Mutter auf den Tod krank, die Gro?mutter altersschwach, und der Mann kaum imstande, das trockne Brot zu verdienen.« – »Das sind ja schreckliche Zustande,« sagte Rudolf, »und hilft denn niemand diesen armen Menschen?« – »O, was wir tun konnen, geschieht ja,« sagte Pipelet, »aber mehr als in unsern Kraften steht, konnen wir eben auch nicht tun. Seit uns der junge Herr, der Kommandant – wie wir ihn nennen – zwolf Mark im Monat fur die Aufwartung gibt, habe ich ja einmal in der Woche Fleisch gekocht und den armen Leuten ein paar Teller Bruhe hinaufgetragen. Der arme Germain hat ihnen hin und wieder eine Flasche Wein geschenkt, dabei immer sich so gestellt, als wenn er Wein von seinen Eltern bekame. Morel – so hei?t der arme Mensch, der kaum das trockne Brot verdient, hat dann ein paar kraftige Schlucke genommen und daruber den Hunger vergessen, der ihm die Eingeweide zerri?.«

»Was ist denn der Mann?« – »Er ist Steinschneider und soll in imitierten Waren ein Meister sein, hat sich aber bei dem lungenmorderischen Handwerk vollstandig ruiniert. Na, Sie werden ihn ja sehen und sich dann uberzeugen, da? ich nicht zuviel gesagt habe. Fur sieben Menschen Brot schaffen, ist freilich keine Kleinigkeit. Da hei?ts sich ruhren. Die alteste Tochter geht ihm ja tuchtig zur Hand, aber was ein Madchen verdienen kann, wenns ehrlich bleiben will, na, das wei? man doch.« – »Wie alt ist das Madchen?« – »Siebzehn Jahre und bildschon, o, mehr als bildschon! und in Dienst bei einem Notar Ferrand.« – »Was? Beim alten, reichen Ferrand in der Rue du Sentier?« rief Rudolf, uber dies neue Zusammentreffen fast mehr noch verwundert als uber das fruhere, denn eben bei diesem Notar und seiner Wirtschafterin sollte er sich ja doch Auskunft uber das unter dem Namen Schalldirne bekannte Madchen holen.

»Ach, richtig!« sagte die Pfortnerin. »Sie kennen ihn doch nicht etwa?« – »O doch! Er wird von dem Handelshause beschaftigt, in welchem ich angestellt bin,« erklarte Rudolf. – »Nun, dann werden Sie ja wissen, da? er ein arger Geizhals ist? Und was Luise angeht, die Tochter des Steinschneiders oben,« setzte die Frau hinzu, »so mogen es wohl anderthalb Jahre her sein, da? sie bei ihm im Dienst ist. Es ist ein lammfrommes Ding und uber die Ma?en emsig und flei?ig, trotzdem sie einen gar knappen Lohn bekommt, keinen Sou uber achtzehn Franks. Sechs braucht sie naturlich fur ihren Unterhalt, die andern zwolf aber gibt sie den Ihrigen. Ein Madel, Herr, wie es ihrer viele sicherlich nicht gibt! Ein Vierteljahr ist der Vater bettlagerig gewesen, die Mutter hat infolge der angestrengten Pflege all ihr bi?chen Gesundheit eingebu?t und liegt jetzt auf den Tod krank darnieder; in diesem Vierteljahr haben die sieben Personen von den zwolf Franks des Madchens gelebt; einiges mogen sie wohl bei der Burette versetzt haben, und ein paar Taler mag ihnen die Geschaftsfrau vorgeschossen haben, fur die der arme Mann arbeitet: die Inhaberin des Ladens, meine ich, in welchem die falschen Edelsteine verkauft werden, die der Arme schneidet. Aber wir wollen nicht weiter davon sprechen, denn es kann einem alle Lust am Leben vergehen, wenn man sich mit den Menschen da oben befa?t. Na, ein Gluck wenigstens, da? Herr Rotarm ihnen die Wege weisen wird! Es ist ja bedauerlich, da? es den Menschen so traurig geht; aber ein anstandiges Haus darf doch nicht unter solchem armen Volke leiden! Na, da will ich Ihnen jetzt Ihre Wohnung zeigen. Kommen Sie, wenn ich bitten darf.«

Drittes Kapitel.

Vier Stockwerke.

Die dunkle, feuchte Treppe fuhrte zuerst zu der Wohnung im ersten Stocke, die der unter dem Namen »der Kommandant« bekannte junge schone Herr, gemietet hatte. Die Tur, die zu ihr fuhrte, war neu gestrichen; am Schlosse blinkte ein vergoldeter kupferner Drucker, und von der schmutziggrauen Wand stach eine schmutzige Klingelschnur mit rotseidner Quaste recht auffallig ab. – Die Tur, die im zweiten Stockwerk zu der Wohnung der Kartenlegerin und Wahrsagerin fuhrte, bot einen noch wunderlicheren Gegensatz zu dem allgemeinen Eindruck, den das Haus bot: uber ihr hing eine ausgestopfte Eule, und daneben befand sich ein Schiebefensterchen, das mit Draht stark vergittert war, aber einen Blick auf die Zutritt begehrenden Gaste gestattete. – Vor der Wohnung des italienischen Scharlatans, der nach der im Hause herrschenden Meinung ein hochst sundhaftes Gewerbe trieb, hing eine schwarze Tafel, auf der sein Name mit Pferdezahnen eingegraben stand. Statt des sonst ublichen Hasen- oder Rehfu?es endigte die Klingelschnur im Vorderarme eines Affen, der mit der noch daran hangenden Hand in dem vertrockneten Zustande einen widerwartigen Anblick bot, sah er doch aus, wie wenn er von einem Kinde herruhrte.

Rudolf wollte an der Tur vorbeigehen, als er einen Laut wie unterdrucktes Schluchzen horte, auf den ein schriller Schmerzensschrei folgte. Rudolf fuhr zusammen; schnell wie der Blitz durchfuhr ein Gedanke seinen Sinn, und er trat an die Tur und zog heftig die Klingel. – »Was fallt Ihnen ein, Herr?« fragte der Pfortner erschrocken. – »Haben Sie nicht den Schrei vernommen?« fragte Rudolf. – »Gewi?. Wahrscheinlich zieht Bradamanti wieder jemand einen Zahn aus oder gar ein paar.«

Unwahrscheinlich war ja die Erklarung nicht, wenn man sich das Schild ansah, das uber dem Turknopfe hing. Aber sie genugte Rudolf nicht. Zuerst kam keine Spur von einer Antwort, trotzdem Rudolf sehr heftig geklingelt hatte. Nach einer Weile erblickte aber Rudolf hinter einem runden Fenster neben der Tur ein hageres, bleiches Gesicht, das von einem ins Graue ubergehenden rotlichen Bart uberwuchert war. Aber schon in der andern Sekunde war das Gesicht wieder verschwunden. Rudolf stand da, wie an den Boden gewurzelt. War es Tauschung oder Wirklichkeit? So kurze Zeit er das Gesicht gesehen, so war es ihm doch gewesen, als wenn er darin gewisse charakteristische Zuge wiedererkannt hatte: die grunen, unter starren Brauen funkelnden Augen, die Totenblasse, die schmale, an einen Adlerschnabel erinnernde Nase mit der eigentumlich ausgedehnten Nasenwand: dies alles erinnerte ihn frappant an einen gewissen Abbe namens Polidori, von dem schon zwischen Murph und Exzellenz Graun die Rede gewesen war. Nur eins weckte Zweifel in ihm: der Priester, den er in diesem Scharlatane wiederzuerkennen meinte, hatte kein so fuchsrotes, sondern tiefbraunes Haar gehabt. Im ubrigen wunderte er sich keineswegs, da? der einem geweihten Stande angehorige Mensch, von dessen scharfem Verstande und bedeutendem Wissen er mehr denn eine Probe kannte, gesellschaftlich so tief gesunken war; da? der Mann moralisch verderbt war, die Menschheit verachtete und der Vollerei anhing, hatte er schon gewu?t, als er zum ersten Male mit ihm in Beziehung gekommen war, also vor funfzehn oder sechzehn Jahren.

»Wohnt der Mann schon lange hier?« fragte er Pipelet. – »Seit etwa Jahresfrist. Im Januar ist er wohl eingezogen. Er zahlt, wie gesagt, punktlich und hat mich von einem heillosen Rei?en befreit. Blo? einen Fehler hat er: er zieht uber alles im Leben her und schont keinen seiner Mitmenschen. Bei den Witzen, die er mitunter rei?t, uberlaufts einen eiskalt«.

Rudolf wurde hierdurch noch mehr bestarkt, sich Gewi?heit uber diesen Mann zu schaffen, denn wenn sich hinter ihm wirklich jener Polidori versteckte, so konnte ihm dessen Anwesenheit hier im Hause von unberechenbarem Nachteile werden. Von der Meinung immer starker beherrscht, da? sich hinter dem schrillen Schmerzensschrei, den er vernommen, ein schlimmes Geheimnis verberge, folgte Rudolf dem Pfortner in das obere Stockwerk und betrat mit ihm das Zimmer, das er zu mieten in Aussicht genommen hatte, und das sein Licht durch zwei auf die Stra?e hinausgehende Fenster erhielt. Einen Moment dachte er, auf die Wohnung zu verzichten, hatte aber der Grunde zuviel, die ihn zum Gegenteil bestimmten, und so druckte er dem Pfortner hundert Sous in die Hand und sagte: »Mir gefallt die Stube recht gut. Ich werde morgen mein Mobiliar schicken und Ihnen unten Draufgeld geben. Da? ich mit Herrn Rotarm selbst rede, ist wohl nicht notwendig?« – »Durchaus nicht,« antwortete der Pfortner, die hundert Sous vergnugt in die Tasche schiebend, »er kommt immer nur her, wenn er mit Mutter Burette etwas zu reden hat. Mit den Mietern mache ich in der Regel alles ab. Aber Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt, Herr?« – »Rudolf.« – »Blo? Rudolf?« – »Jawohl, Herr Pipelet, blo? Rudolf!« versetzte Rudolf lachelnd. – »Na, ich frage ja nicht aus Neugierde, denn Sie wissen doch, Name und Wille sind frei, wie die Gedanken auch.« – »Eins noch, Herr Pipelet,« sagte Rudolf, »ich darf wohl morgen einmal zu Morels gehen, mich als Nachbar vorstellen und fragen, ob ich ihnen irgendwie nutzlich sein kann?« – »Warum nicht?« antwortete Pipelet; »kann mir schon denken, worauf Sie hinauswollen. Sie mochten wohl auch bei der kleinen

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