Es schlug Mitternacht, als sich die Tur seines Palais langsam offnete. Die Frau Marquise trat heraus.. »Hm,« sagte der Marquis in bitterer Ironie, »so aufmerksam? Sie scheut sich, den Galan warten zu lassen.«

Der Eindruck, den er hatte, war so schmerzlicher Art, da? er sich kaum beherrschen konnte, als er das Fenster ein wenig aufzog, um dem Kutscher zuzurufen: »Du siehst doch die Dame dort im blauen Schal und schwarzen Hute?« – »Die an der Mauer entlang geht?« – »Ja.« – »Die jetzt zum Droschkenplatze geht?« – »Ja doch! Sobald sie eine Droschke nimmt und einsteigt, so fahre hinterher!« – »Gut!«

Gleich darauf fuhren beide Droschken ab, aber nach einer kleinen Weile bemerkte der Marquis zu seiner nicht geringen Verwunderung, da? sein Wagen vor der in der Nahe befindlichen Kirche hielt.

Tausenderlei Gedanken besturmten den Marquis. Zuerst meinte er, es sei seiner Frau aufgefallen, da? ein Wagen hinter dem ihrigen her fahre. Dann aber drangte sich ihm die Meinung auf, da? der Brief, den er bekommen, nichts als eine gemeine Verleumdung sei.. Was sollte seine Frau Frommigkeit heucheln, wenn sie sich schuldig fuhlte? Wie konnte sie mit dem Heiligsten solchen Spott treiben?

Im nachsten Augenblicke zog freudige Hoffnung in sein Herz, denn zwischen dieser anscheinenden Frommigkeit und dem Schritte, der seiner Frau angedichtet wurde, lag ja ein zu gro?er Kontrast.. Aber die trostliche Tauschung war von keiner langen Dauer, denn der Kutscher bog sich jetzt zu ihm und raunte ihm zu: »Die Dame steigt wieder ein.« – »So fahre ihr hinterher!« – »Gut! Die Geschichte wird ja recht nett!« Und der Kutscher rieb sich die Hande.

Die Droschke fuhr uber die Kais, am Rathause vorbei, die Rue Sainte-Avoye entlang und bog endlich in die Rue du Temple ein. Ein paar Sekunden spater trat der Marquis hinter seiner Frau her in das Haus.

Zweites Kapitel.

Ein Engel.

Frau Pipelet stand mit ihrem Manne in der Haustur, als die Marquise erschien. Aber die Treppe lag so im Dunkeln, da? man sie nicht wahrnehmen konnte. Die Marquise blieb deshalb davor stehen und sah sich um. Als sie die Pfortnerin erblickte, fragte sie mit bewegter, fast klangloser Stimme: »Herr Karl.. wo?«

Frau Pipelet stellte sich, als verstande sie die Frage nicht, um ihrem Manne Zeit zu schaffen, das Gesicht der Dame durch den Schleier hindurch zu erkennen.. »Ach, Herr Karl?« fragte sie nach einer Weile. »Aber, meine Dame, Sie sprechen so leise, warum denn? nun, Herr Karl wohnt gleich uber der Treppe. Sie brauchen nur gradaus zu gehen, um auf die Tur zu laufen.« – Als sie sah, wie die Marquise den Fu? auf die Treppe setzte, lachte die Pfortnersfrau und dachte bei sich: »Na, heute wirds mal zum Klappen kommen.. Prosit die Mahlzeit!.. Da bekommt wieder mal so ein liebes Mannchen ein Kuken ins Nest gelegt, an dem ihm wohl das allerwenigste zugehort.« Die Marquise, vor Scham und Schreck fast au?er sich, ware sicher wieder umgekehrt, hatte sie nicht vor der Pfortnerloge wieder vorbeigehen mussen, vor der noch immer die Frau mit dem Manne stand, die sie so hamisch angesehen hatten.. So aber ging sie weiter die Treppe hinauf. Wie aber staunte sie, als sie sich auf der obersten Stufe Rudolf gegenuber sah, der ihr eine Borse in die Hand gab mit den Worten: »Ihr Gemahl wei? alles. Er folgt Ihnen auf dem Fu?e.« – Da erklang die kreischende Stimme der Pfortnerin: »Wohin denn, Herr? Wohin?« – »Er ist es,« sagte Rudolf, der Marquise nach der Treppe zum zweiten Stockwerk winkend.. »Die Familie oben im funften Stock,« flusterte er, »wird Ihnen Beistand leisten: sie hei?t Morel.« –

»Herr,« rief unten die Pfortnerin wieder, »ich lasse Sie nicht vorbei, wenn Sie mir nicht sagen, wohin Sie wollen!«

»Ich will mit der Dame sprechen, die eben ins Haus getreten ist,« antwortete der Marquis.

»So? Na, das ist etwas anderes! Dann gehen Sie meinetwegen!«

Infolge des Spektakels hatte Herr Karl Robert die Tur leicht angelehnt. Da trat Rudolf rasch zu ihm und schlo? die Tur hinter sich ab, und zwar gerade in dem Augenblicke, als der Marquis von Harville davor trat. Rudolf hatte gefurchtet, trotz der herrschenden Dunkelheit von ihm erkannt zu werden, und deshalb die Gelegenheit wahrgenommen, sich vor ihm zu entfernen. Als Herr Karl Robert Rudolf vor sich stehen sah, war er ganz verdutzt, hatte er doch auf dem Balle Rudolf kaum gesehen und trug doch Rudolf augenblicklich mehr denn bescheidene Kleidung..

»Herr, was..« hub Herr Karl Robert an. – »Still!« versetzte Rudolf leise und mit einem solchen Ausdruck angstlicher Sorge, da? der andere unwillkurlich den Mund schlo?.

Ein Gepolter, wie wenn ein schwerer Korper falle und ein paar Stufen hinunterrolle, drang durch die Stille, die in dem Hause geherrscht hatte. – »O! Der Ungluckliche hat sie ermordet!« rief Rudolf. – »Ermordet? Wen?« versetzte Robert; »aber sagen Sie mir doch: Was geht denn hier vor?«

Rudolf hatte, ohne zu antworten, die Tur halb geoffnet. Der lahme Junge kam, mit der rotseidenen Borse in der Hand, die Rudolf der Marquise in die Hand gedruckt, die Treppe hinunter gerast. Oben horte man den leichten Schritt der Marquise und den schweren ihres ihr in die hoheren Stockwerke folgenden Gemahls, zwar war es Rudolf unfa?lich, wie der lahme Junge zu der Borse gekommen sein konnte; immerhin war er ruhiger geworden und sagte zu Robert: »Gehen Sie nicht hinaus! Wenig fehlte, so hatten Sie alles verdorben.«

»Aber, mein Herr ...« begann Robert wieder in ungeduldigem, fast unwilligem Tone, »wollen Sie mir endlich sagen, was dies alles bedeutet?« – »Weiter nichts, als da? der Marquis alles wei?, und da? er jetzt seiner Frau in die oberen Stockwerke folgt.« – »O, mein Gott! Mein Gott!« rief Karl Robert, voll Entsetzen die Hande faltend, »und was will sie oben?« – »Was kann Ihnen daran liegen, das zu wissen?« antwortete Rudolf; »bleiben Sie hier und gehen Sie nicht fruher weg, als bis es Ihnen die Pfortnersfrau sagt.«

Eine Beute des Schrecks und des Erstaunens, stand Robert da und ging in die Pfortnerstube hinunter ... »Liebe Frau Pipelet,« sagte er, »wurden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?« Dabei druckte er der Frau funf Louisdor in die Hand. – »Sobald die Dame, die vorhin eingetreten ist, wieder herunterkommt, so erkundigen Sie sich doch, wie es um Morels steht, und sagen Sie ihr, da? sie sich um die Leute wirklich einen Gotteslohn verdiene. Der Herr, der ihr hinterher ins Haus getreten, ist ihr Mann; die arme Frau ist aber noch rechtzeitig gewarnt worden, so da? sie zu Morels hinaufgehen und sich stellen konnte, als kame sie mit einem Almosen zu ihnen. Sie verstehen doch?«

»Na, ob ich verstehe!« erwiderte die Frau, »wollen Sie in der Ecke hier hinter dem Vorhange stehen bleiben? Ich hore sie kommen.«

Rudolf versteckte sich geschwind. Marquis und Marquise kamen die Treppe hinunter. In Harvilles Zugen stand der Ausdruck reinen Gluckes zu lesen, gemischt mit Verwunderung und Verlegenheit. Die Marquise sah ruhig, aber bleich aus ... Frau Pipelet trat aus ihrer Stube und sagte: »Nun, meine gute liebe Dame, wie gehts oben bei den armen Leuten? Nicht wahr, die Not kann einem das Herz umdrehen! Ich sagte Ihnen ja schon das letzte Mal, als Sie hier waren, da? es nun wohl zu Ende gehen werde. Aber Sie sind den armen Leuten wirklich ein Engel!«

Mit bewunderndem Blicke ma? der Marquis seine Gemahlin und rief: »O, ein Engel! Ja, ein Engel bist du auch, meine teure Clemence! Schandlich doch, solch erbarmliche Verleumdung!« Und als er durch die Tur trat, setzte er hinzu: »Clemence, wie tief bin ich in deiner Schuld! O, gewahre mir Verzeihung!« – Wehmutig antwortete die Frau: »Und wer bedurfte der Verzeihung nicht?«

Tief bewegt durch diese Szene, trat Rudolf aus seinem Versteck ... »Nun konnen Sie Ihrem Kommandanten sagen, da? das Feld rein ist und da? er sich wieder zeigen darf.« – Frau Pipelet ging zu dem Mieter hinauf und klingelte. Karl Robert offnete, ma? die Frau mit einem zornigen Blicke, als sie ihn fragte, ob sie morgen wieder heizen solle, und ging, ohne uber das seltsame Zusammentreffen mit Rudolf und uber den ganzen Hergang die geringste Aufklarung bekommen zu haben. Gerade als er durch den Hausflur ging, trat ihm der lahme Junge in den Weg ... »He, was willst du hier, Strolch?« fragte ihn Frau Pipelet. –

»Hat nicht die Eule nach mir gefragt?« erkundigte sich der Junge, statt auf die Frage der Frau zu antworten. – »Die Eule? Nein! Warum sollte sie dich suchen?« – »Ich sollte mit ihr aufs Land hinaus fahren,« antwortete der Junge, indem er sich in der Tur herumlummelte. »Mein Vater hat Bradamanti gebeten, mir heute Urlaub zu geben, eben weil ich aufs Land hinaus sollte.« Plotzlich rief er: »O, da kommt eine Droschke! Das ist die Eule! Juchhe! Wir fahren!«

In dem Wagen kam wirklich das gra?liche Gesicht der Einaugigen in Sicht, die dem kleinen Lahmen winkte. Der Kutscher offnete den Wagenschlag, und der Junge stieg ein. Aber – die Eule war nicht allein, denn in der andern Ecke des Wagens sa? Bakel, in einen alten Mantel mit Pelzkragen gehullt und das Gesicht durch eine

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