ihre Krafte schwinden.

Dtui und Geung sa?en im Baum, erzahlten sich Witze und lachten uber ihre missliche Lage. Sie hielten sich gegenseitig wach. Einmal, als der Tiger ihnen nachzuklettern versuchte, ermutigte Dtui ihren tapferen Gefahrten, mit einem Zweig nach dem sabbernden Maul der Katze zu schlagen. Zusammen mit seiner Freundin lie? es sich hier oben prima aushalten. Waren seine Mudigkeit und der unbequeme Hochsitz nicht gewesen, hatte es ein hochst vergnugliches Abenteuer sein konnen.

Dtui war im Schlafsaal. Wieder stand ihr Geungs Bild deutlich vor Augen. Hatte es in der Pathologie doch nur ein Telefon gegeben, dann hatte sie anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen konnen. Die kleine Panoy lag in demselben Bett, in dem auch Frau Wunderlich gelegen hatte. Sie war noch nicht wieder bei Bewusstsein, doch ihr Puls raste wie der eines Pferdes. Sie war eine echte Kampfernatur. Dtui nahm sich fest vor, das Madchen wieder in ihr Dorf zuruckzubringen.

Sie strich Panoy das Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Zu ihrem Erstaunen stand Genosse Lit in der Tur. Er hatte die Sonne im Rucken und sah aus wie ein junger Gott. Die neuen Epauletten auf den Schultern seiner Uniform schimmerten wie Engelsschwingen. Fast hatte sie vergessen, dass sie ihn nicht ausstehen konnte.

»Schwester Dtui.« Er nickte steif.

»Genosse Lit. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hatten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit fur mich?«

»Schie?en Sie los«, sagte sie.

»Ich dachte, wir konnten vielleicht nach drau?en gehen.«

»Genosse, diese Patienten sind so stark sediert, dass sie selbst dann noch beseelt lacheln wurden, wenn Sie sie mit einem Lastwagen uberrollen wurden.«

»Trotzdem …«

»Es ist hei? drau?en. Hier drinnen ist es zwanzig Grad kuhler … au?erdem bin ich im Dienst.« Er ging ihr auf die Nerven. Konnte er nicht einfach sein Spruchlein aufsagen und sich wieder verdrucken?

»Wie Sie wunschen«, sagte er und trat ins Zimmer. Dtui stemmte den Arm in die Hufte und rechnete mit einer Gardinenpredigt. Doch die Aura der Arroganz, die den Sicherheitschef sonst umgab, war mit einem Mal wie weggeblasen. Er wirkte irgendwie zerbrechlich, schuchtern beinahe. Es bereitete ihm sichtlich Muhe, aufrecht zu stehen: Er erinnerte eher an einen schlaffen Wandbehang denn an eine starke Saule. Sein Schweigen beunruhigte Dtui.

»Je eher Sie mit der Sprache herausrucken, desto eher kann ich wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie. Seine unsichere Miene verwirrte sie. Er starrte uber ihre Schulter hinweg auf einen Punkt an der Wand.

»Ja«, sagte er schlie?lich. »Sie haben Recht. Das Leid der Unterdruckten und Geknechteten hat Vorrang vor unseren alltaglichen Sorgen und Noten. Das Wohl der Patienten steht fur uns ganz zu Recht an erster Stelle.«

»Gut«, sagte sie. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich jetzt um die Geknechteten kummere.« Sie ging an ihm vorbei zur Tur. Die Situation hatte etwas Absurdes.

»Aber …«

Sie drehte sich um. »Aber?«

Wie auf ein Stichwort hob er zu einer Rede an. Er hatte sie eindeutig erst niedergeschrieben und dann auswendig gelernt. Dennoch gab es fur Dtui nicht den geringsten Zweifel, dass Genosse Lit stundenlang an diesem Vortrag gefeilt, gehobelt und geschliffen hatte. Trotz diverser unpassender Vergleiche aus dem Ingenieurswesen war sie ohne Frage das Schonste, was sie je gehort hatte.

Zwar hatte sie in ihrer Schulzeit durchaus den einen oder anderen Freund gehabt. Zumindest war es damals ublich gewesen, Parchen zu bilden und miteinander zu »gehen«. Aber die Jungs, mit denen sie sich eingelassen hatte, waren ausnahmslos Versager gewesen. Sie interessierten sich mehr fur ihre Bruste als fur ihre Seele. Immer wenn sie an diese desastrosen Tete-a-tetes zuruckdachte, erinnerte sie die Hautfarbe ihrer Verehrer unweigerlich an Fruchte – an das Blassrosa der Lychee, das Braun des Breiapfels, das Orange der Su?mango -, und genau wie uberreife Fruchte waren diese Kerle verdorben und widerlich gewesen. Und hatten sie schlie?lich sitzen lassen. Wahrend Lit seine Ansprache herunterleierte wie ein Funftklassler den Fahneneid, verliebte sie sich Hals uber Kopf in seine Worte. Auch wenn sie sich hinterher an kaum eines entsinnen konnte, weil sie so uberwaltigt war, dass ihr Gedachtnis sie im Stich lie?. Sie wusste nur noch, dass sie bei der Ausgrabung der Mumie ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er hatte ihr gestanden, dass er standig an sie denken musse, und ihre Augen mit Sternen verglichen. Was vermutlich auf einen bekannten Schlager zuruckging, aber dieses kleine Plagiat verzieh sie ihm gern. Dass er ihre Augen uberhaupt bemerkt hatte, genugte ihr. Er hatte ihr seine Vermogenslage und seine Aufstiegschancen dargelegt, und dann, quasi im selben Atemzug, hatte er die Bombe platzen lassen: Er ware hocherfreut, wenn Schwester Dtui ihm die Ehre erweisen wurde, seine Frau zu werden – einfach so, vom Fleck weg, ohne auch nur anzudeuten, dass er die Ware zuvor prufen wolle.

So etwas bleibt bei einer Frau nicht ohne Wirkung, zumal wenn sie solch einen Antrag noch nie zuvor erhalten hat. Ein Mann – der nicht nur uber zwei gesunde Augen, sondern auch uber samtliche erforderlichen Gliedma?en verfugte – war ihr so sehr zugetan, dass er sein Leben mit ihr verbringen wollte. Das genugte, um sie die Abneigung, die sie ihm gegenuber empfunden hatte, vorubergehend vergessen zu lassen. Ihre Knie bebten so heftig, dass sie sich auf die Kante eines Bettes setzen musste. Sie brachte kein Wort heraus. Er wiederum war mit seinem Text zu Ende, und so sa?en beziehungsweise standen sie stumm in dem dunklen Zimmer, begleitet nur vom bewusstlosen Zungenschnalzen eines alten Mannes.

Endlich fand Dtui ihre Stimme wieder. »Ich …«

»Sie werden vermutlich etwas Zeit brauchen, um uber all das nachzudenken«, fiel er ihr ins Wort. »Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Ich sollte vielleicht hinzufugen, dass die Bezirkskommission fur Partnerschaften und Beziehungen unseren Antrag auf Verlobung bereits bewilligt hat. Mit Unterschrift und Siegel. Nun gut. Dann bis spater.« Zwar salutierte er nicht, bevor er sich zum Gehen wandte, doch das Nicken, mit dem er sie bedachte, ehe er triumphierend in die Sonne hinaustrat, hatte durchaus militarischen Charakter.

Schwester Dtui verschlug so leicht nichts die Sprache. Das war eine ihrer Starken. Sie war nie um eine clevere Antwort verlegen – eine witzige Bemerkung, die selbst in den dunkelsten Momenten zur Erheiterung beitrug. Jetzt aber sa? sie geschlagene funf Minuten im Saal der Bewusstlosen und wusste beim besten Willen nichts zu sagen. Sie war ebenso benommen wie die Patienten ringsumher. Und ware es vermutlich auch noch eine Weile geblieben, wenn Panoy nicht ausgerechnet in diesem Moment aus ihrem Koma erwacht ware. Als sie ein Gerausch horte, schrak Dtui unwillkurlich zusammen. Sie drehte sich um und sah Panoy aufrecht im Bett sitzen. Die kleine Hmong starrte sie aus gro?en Augen an. Sie murmelte mit schwacher Stimme etwas vor sich hin, das Dtui nicht verstand. Eines jedoch war ihr sofort klar. Es war nicht die Stimme eines Kindes.

Nachdem auch der letzte Gast das Gastehaus Nr. 1 geraumt und seine Habe den Langfingern uberlassen hatte, gab es fur den Lastwagen des Gastehauses keine Verwendung mehr. Und so hatte das Personal auch nichts dagegen, wenn Siri ihn sich borgte – sofern er das Benzin aus eigener Tasche bezahlte. Er hatte gehort, unweit der Grenze, bei Sop Hao, habe eine vietnamesische Einheit ihre Zelte aufgeschlagen. Dieselbe Einheit war bis zu dem gro? angekundigten, dann aber doch nur vorubergehenden Abzug der vietnamesischen Truppen in Laos stationiert gewesen. Es war dieselbe Einheit, die Oberst Ha Hung befehligt hatte. Siri befand, es konne nicht schaden, ihr einen kleinen Besuch abzustatten.

Er genoss die Fahrt. Wahrend der Rest des Landes verdorrte, fiel im Nordosten nach wie vor ausreichend Regen zur Bewasserung der Felder an den Hangen. In der glei?enden Vormittagssonne lagen sie da wie zu spitzen Pyramiden aufgeturmte Spiegelscherben. Kleine Madchen, die eben im Dorfteich gebadet hatten und noch zu jung waren, um Scham zu empfinden, marschierten nackt am staubigen Stra?enrand entlang und trugen ihre Sarongs als Hute. Er wurde von einem Lastwagen uberholt, der kleine Schweine in leichten Kafigen aus Rohrgeflecht zum Schlachthof transportierte. Ihre Knopfaugen schwammen in Tranen.

Rechts und links reihte sich ein liebevoll gepflegtes Reisfeld an das andere. Gro?e Loffelbluten und Juckfruchte schmuckten die Hecken. Er kam vorbei an einem Tempel, dessen Portal mit einem Vorhangeschloss gesichert war. Stammesleute aus den umliegenden Hugeln trugen Korbe voller Zweige auf dem Rucken, die an Riemen baumelten, die sie sich um die Stirn geschlungen hatten. Mit Schellen behangte Ponys kundigten niemand

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