nicht um den Schrank herumgegangen. Als er sie sah, wusste er sofort, wozu sie dienten. Die Idee war einfach, aber genial. Und stammte vermutlich von demselben kreativen Geist, der auch die tauschend echte Turattrappe ersonnen hatte. Er ging zur rechten Schrankseite zuruck und schob. Es erforderte keinen allzu gro?en Kraftaufwand. Dank der Kugellager glitt der massive Holzschrank majestatisch beiseite wie auf Eis.

Siri trat zuruck und bewunderte seine Entdeckung. In der Hohlenwand hatte sich eine etwa mannsgro?e Offnung aufgetan. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Es war, als habe er in einer antiken Pyramide die geheime Grabkammer des Pharaos entdeckt. Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Durchgang. Er hatte ihn gefunden. Vor ihm lag der Tempel der Kubaner – eine kleine Kammer, kaum gro?er als ein Luftschutzraum. Hier befanden sich ihr Opferaltar, ihr Kessel und die dazugehorigen Utensilien. Ihn befiel eine dustere Ahnung. Von hier aus praktizierten sie ihre schwarze Magie, da gab es fur ihn kaum einen Zweifel.

Er holte den wei?en Talisman hervor und lie? ihn offen auf seine Hemdbrust baumeln. Er holte tief Luft, dann kletterte er durch die Offnung, um sich den Tempel aus der Nahe anzusehen. Im Innern stie? er auf zwei weitere Strohmatten, von besserer Qualitat als die Lagerstatt im vorderen Zimmer, eine davon mit einem fleckigen Tuch bezogen. Topfe und Tiegel mit geheimnisvollen Pulvern und Pasten. In einer Ecke stapelten sich Bonbons aus karamellisiertem Opiumsaft. In dieser Form bewahrte die Droge ihre Wirkung uber Jahre. Er bemerkte den unverkennbaren Geruch von getrocknetem Blut und trat vor den Opferaltar. Er war recht breit, in jedem Falle breit genug fur einen Menschen. Dahinter standen Fotografien, doch als er die Hand ausstreckte, um sie zu beruhren, begann der Talisman auf seiner Brust zu zittern.

Er fragte sich, welche Damonen die beiden hier herbeigerufen, welch bose Geister sie zum Leben erweckt hatten. Er spurte, dass dort oben, im Schatten des kuhlen Felsens etwas lauerte. Etwas Unsichtbares, das auch seine Taschenlampe nicht an den Tag zu bringen vermochte. Sein Instinkt riet ihm, den Ruckweg anzutreten. Jetzt wusste er, dass ein finsterer kubanischer Geist in seinem Korper wohnte, und das machte ihn empfanglich, angreifbar. Obgleich leise Panik ihn beschlich, zwang er sich, die Hand noch einmal nach den Fotos auszustrecken, die mit Klebeband hinter dem Altar befestigt waren. Als er sie abriss, schienen die Felsen ringsum schrille Schreie auszusto?en.

Er wandte sich eilig zum Gehen und sturzte durch die Offnung. Auf der anderen Seite blieb er nach Atem ringend liegen. In Gefahrensituationen versagte die Lunge ihm den Dienst. Wieder einmal hatte er den Rat des Schamanen missachtet: »Du darfst den Geist Yeh Mings unter keinen Umstanden in Gefahr bringen. Du musst dich und deinen Urahn schutzen, koste es, was es wolle.«

Siri fragte sich, welcher Charakterschwache er seinen Hang zum Risiko verdankte. Er war tief enttauscht von sich. Als er sich halbwegs beruhigt hatte, rollte er den Schrank wieder vor den Eingang der geheimen Kammer, lehnte sich gegen die Tur und richtete seine Lampe auf die Fotos. Eins war kaum gro?er als ein Passbild. Es zeigte einen gutaussehenden Schwarzen in holzerner Studiopose. Das andere Foto war gro?er, etwa funfzehn mal zwanzig Zentimeter. Es war ebenfalls ein Atelierportrat. Das Madchen – bei dem es sich zweifellos um Hong Lan, die Tochter des Obersts, handelte – richtete den Blick auf einen Punkt uber der linken Schulter des Fotografen. Sie war eine langhalsige Schonheit mit scheuem Mona-Lisa-Lacheln und einer rosa Lotusblute im Haar.

Siri verstand nur zu gut, warum Isandro sich in sie verliebt hatte. Welcher Mann hatte ihr widerstehen konnen? Aber darum ging es nicht. Die Tatsache, dass die Bilder im Zentrum eines Opferaltars standen, lie? fur Siri nur einen Schluss zu. Die Kubaner hatten das Madchen verhext. Sie hatten ihr buchstablich das Herz geraubt und sie gegen ihren Willen gezwungen, diesen Mann zu lieben. Odon musste tot sein, sonst hatte er nicht in Siri fahren konnen. Siri wusste nicht, warum der Mann ausgerechnet ihn fur seine Zwecke ausersehen hatte, konnte sich den Grund aber durchaus vorstellen. Siri befurchtete, dass der Endoke-Priester seinen Korper benotigte, um das zu Ende zu fuhren, was in diesem Tempel begonnen hatte. Er wusste, dass er Hong Lan finden musste, vermutete jedoch, dass Odon genau das von ihm wollte. Brachte er das Madchen womoglich von Neuem in Gefahr, wenn er mit ihm Verbindung aufnahm? Und gesetzt den Fall, Hong Lans Familie hatte Odon umgebracht: War es dann nicht besser, die Leichen im sprichwortlichen Keller zu belassen, um das Madchen nicht unnotig zu gefahrden?

13

DER KLEINE BLAUE PEUGEOT

Im Juli 1977 lag das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Laoten bei etwas uber achtzig Dollar. Vieles, was im Westen als lebensnotwendig galt, war in Laos ein unerschwinglicher Luxus, den man bestenfalls aus auslandischen Hochglanzmagazinen kannte. So auch Benzin. Die meisten Leute, die ein Auto besa?en und sich nicht rechtzeitig nach Thailand abgesetzt hatten, betrachteten ihre Gefahrte als stillgelegt und nutzten sie als Gartenlaube oder Rumpelkammer auf Radern. Das Gros der Fahrzeuge auf laotischen Stra?en gehorte entweder dem Staat oder Auslandern. Wer einen Privatwagen sein Eigen nannte und sich weder der einen noch der anderen Kategorie zugehorig fuhlte, stand unter Generalverdacht.

Herr Geung hatte sich alle Muhe gegeben, den Rat des Igels zu befolgen und die Stra?e sofort zu verlassen, wenn er ein Motorengerausch horte. Er war zu Tode erschopft. Seine Fu?e waren mit Blasen ubersat, und die Muskeln in seinen Beinen flehten ihn formlich an, endlich Rast zu machen. Aber er musste ins Leichenschauhaus zuruck. Dtui hatte ihm geholfen, sich aus Bananenblattern einen Hut zu flechten, der vor der Sonne Schutz bot und ihm obendrein zur Zierde gereichte. Sie war stets an seiner Seite, geizte nicht mit guten Ratschlagen und feuerte ihn an. Ohne sie hatte er es niemals so weit geschafft, auch wenn er nicht recht wusste, wie weit er gekommen war.

Da sein Gehor langsam nachlie?, nahm er die herannahenden Lastwagen und Transporter immer spater wahr. Doch seit etwa einer Stunde befand er sich allein auf weiter Flur. Fast schien es, als ginge der Landstra?e, genau wie Geung, die Puste aus. Der Asphalt hatte sich nach und nach in Kies, der Kies wiederum in Sand verwandelt. Da ihm die Sonne auf die Schulter schien, wusste Geung, dass er auf dem richtigen Weg war, aber die Stra?e unter seinen Fu?en schien die Hoffnung aufgegeben zu haben, jemals in Vientiane anzukommen.

Da plotzlich schoss ein Auto – ein kleiner blauer Peugeot – aus einem Feldweg knapp hundert Meter weiter. Herr Geung ging mitten auf der Stra?e, die durch offenes Gelande verlief. Da er sich nirgends verstecken konnte, marschierte er einfach weiter geradeaus. Schlie?lich gab es keinen Grund zur Sorge. Die alte Frau hatte ihm eingescharft, sich vor Armeefahrzeugen in Acht zu nehmen. Und die Armee fuhr keine kleinen blauen Autos, so viel stand fest. Er hoffte, der Fahrer wurde ihn ignorieren und vorbeifahren, doch der Wagen hielt neben ihm. Der Fahrer hatte offenbar angenommen, auch Geung wurde stehen bleiben und ihn ansprechen, aber Geung lie? sich nicht beirren. Nach einer Weile setzte der Peugeot zuruck und rollte langsam neben ihm her.

Der Fahrer war ein Mann mittleren Alters mit schwarz gefarbtem Haar und einer Zigarette zwischen den Lippen. »Guten Tag, Genosse«, schrie er gegen den jaulenden Motor an.

»Ich … ich gehe«, sagte Geung.

»Das sehe ich, Bruder. Gehst du freiwillig zu Fu? oder gezwungenerma?en?«

»Ja.«

»Was, ja?«

»Ich … ich g… ich gehe ins Leichenschauhaus.«

»Oha. Warum so pessimistisch, Bruder? Am Gehen ist noch keiner gestorben. Wo willst du denn hin?«

Dass der Wagen ruckwartsfuhr, fand Herr Geung komisch. So komisch, dass er lachen musste. Er hatte die ganze Woche noch kein einziges Mal gelacht. »Vientiane«, sagte er.

»Na, das konnte durchaus todlich enden. Zumal du auf der falschen Stra?e unterwegs bist. Du hattest vor gut funfzehn Kilometern links abbiegen mussen, auf die Bundesstra?e 13. Du hast die Abzweigung verpasst.«

»Ich muss i… immer geradeaus.«

»Dann landest du schnurstracks in Thailand. Pass auf, Genosse. Ich fahre nach Vang Vieng. Das liegt auf halber Strecke nach Vientiane. Das erspart dir einen Riesenfu?marsch.«

Vang Vieng. Davon hatte Geung schon einmal gehort. Er wusste zwar nicht, wo es lag, aber die Leute in seinem Dorf hatten oft davon gesprochen. Wenn es in der Nahe seines Dorfes lag, konnte es von Vientiane nicht allzu weit entfernt sein.

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