der schonen Worte blieb Hong Lans Zustand unverandert. Die beiden fuhrten lange Gesprache uber Gott und die Welt. Einmal lie? das Madchen durchblicken, dass sie sich wahrend ihres Aufenthalts bei Kilometer 8 verliebt habe. Was H’Loi einen kleinen Schock versetzte, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl Hong Lan den Namen des Mannes nicht verraten wollte, war ihren Erzahlungen zu entnehmen, dass sie mit ihm auf recht vertrautem Fu?e stand. Sie sagte, es gebe einen guten Grund, weshalb sie die Identitat des Mannes nicht preisgeben konne.

Zu dieser Zeit machten jedoch bereits Geruchte die Runde. H’Loi wusste von den schwarzen Magiern und ihren Liebestranken, ihren hypnotischen Fahigkeiten und ihren Opferungen. Da auch H’Lois Volk allerlei okkulte Riten praktizierte, wusste sie um die damit verbundenen Gefahren. Obwohl sie das Madchen, fur das sie neun Jahre lang gesorgt hatte, uber alles liebte, wurde sie das Gefuhl nicht los, dass Hong Lan nicht wusste, wovon sie sprach. Sie war verhext worden. Sie hatte noch nie von Liebe gesprochen, sich noch nie fur Manner interessiert. Und jetzt, nach nur sechs Wochen in einem Hohlenkrankenhaus, hatte sie sich angeblich Hals uber Kopf in einen Mann verliebt, den sie kaum kannte, einen Mann, der ganz und gar nicht zu ihr passte.

Als sie Hong Lan schlie?lich zur Rede stellte, machte H’Loi keinen Hehl aus dem Hass, den sie fur die Kubaner empfand. Es spielte keine Rolle, ob sie schwarz waren, rosa oder kobaltblau. Sie waren bose. Sie erklarte Hong Lan, die beiden seien Teufel, worauf ihre Beziehung zu dem Madchen merklich abkuhlte.

Der Tod des Obersts kam so unerwartet, dass alle wie vor den Kopf geschlagen waren. Der Krieg war aus, und die Familie hatte gehofft, endlich ein gluckliches, geregeltes Leben fuhren zu konnen. Als Soldatenfamilie unter den Viet Minh war sie nie lange an einem Ort geblieben. Ihr Traum war in greifbare Nahe geruckt, und plotzlich lie? der Oberst sich einfach erschie?en. Nach der Beerdigung begann die Mutter mit der Planung ihrer Ruckkehr nach Vietnam. Von der Armee bekam sie eine bescheidene Pension, genug fur ein kleines Haus. Vielleicht wurde Hong Lan sogar studieren konnen.

Doch dann, kurz vor ihrer Abreise, wurde das Madchen entfuhrt. Am helllichten Tag, von der Veranda. Die Mutter befand sich zum fraglichen Zeitpunkt au?er Haus, um letzte Umzugsvorbereitungen zu treffen. H’Loi war im Garten und pfluckte Obst fur die Reise. Als sie ins Haus zuruckkam, war Hong Lan verschwunden. Es gab Spuren eines Kampfes. Eine Kassette war aufgebrochen, das Haushaltsgeld gestohlen worden. H’Loi zufolge wussten alle, wer dahintersteckte. Eine gro?angelegte Suchaktion wurde gestartet. Das alte Regiment des Obersts machte mobil. Als man nach zwei Wochen noch immer keine Spur von dem Madchen und den beiden Kubanern gefunden hatte, nahm man an, dass sie au?er Landes gebracht worden war. Die Mutter kehrte heim nach Vietnam und lie? H’Loi allein zuruck.

Siri hatte so viele Fragen zu dieser faszinierenden Geschichte, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.

»Warum haben Sie die Mutter nicht begleitet?«, wollte er wissen.

»Weil sie es nicht wollte. Sie machte mir Vorwurfe, weil ich ihre Tochter an diesem Tag unbeaufsichtigt gelassen hatte. Sie verschwand mit ihrem gesamten Hab und Gut und dem Lohn, den ich noch zu bekommen hatte. Ich stand von einem Tag auf den anderen mit leeren Handen da. Die Bezirkskommandantur hatte Mitleid mit mir und war so freundlich, mir einen Mann zu besorgen.«

»Wie nett«, sagte Siri. »Und seither haben Sie nichts mehr von Hong Lan gehort?«

»Es gab naturlich die eine oder andere Geschichte. Laos gilt schlie?lich nicht umsonst als der Welt gro?te Geruchtekuche. Aber das ist Ihnen sicher nicht neu, Onkel.«

»Und wie glaubwurdig klangen diese Geschichten?«

»Nicht besonders. Mal hie? es, sie hatten das Madchen ermordet und die Leiche irgendwo verscharrt. Dann wieder erzahlte man sich, die Schwarzen hatten sie nach Kuba geschmuggelt, um sie zur Sexsklavin abzurichten.«

»Und was meinen Sie?«

Sie sah ihn an, als habe sie schon sehr lange niemand mehr nach ihrer Meinung gefragt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Onkel. Ich konnte mir allerdings vorstellen, dass sie – Hexerei hin oder her – mit der Liebe, die sie gefunden zu haben glaubte, glucklich geworden ist und in seliger Ahnungslosigkeit irgendwo ihr Dasein fristet.«

»Was hatte Hong Lan fur ein Verhaltnis zu ihrer Mutter?«, fragte Siri. Wieder zeigte sich die junge Frau erstaunt.

»Jetzt kann ich es ja sagen. Ich bezweifle, dass ich die alte Hexe noch einmal zu Gesicht bekommen werde. Hatten sich die beiden nahegestanden, ware ich uberflussig gewesen. Es war, als ob sie ihre vaterlandische Pflicht erfullt, dem Oberst das gewunschte Kind geboren und es dann sich selbst uberlassen hatte. Die Mutter war politisch aktiv. Sie leitete Seminare und organisierte dies und das. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass sie ihre Tochter jemals in den Arm genommen hatte. Ich war nicht ihr erstes Kindermadchen. Die Kleine hatte schon ein halbes Dutzend verschlissen, bevor ich kam.«

»Und ist dennoch wohlgeraten?«

»Au?erordentlich wohlgeraten sogar. Das kommt davon, wenn man seine Kinder von einer Montagnard erziehen lasst.«

»Dann wei? ich ja, was ich zu tun habe, wenn ich das nachste Mal Vater werde.« Beide lachten, und der Mann steckte sein hassliches Haupt durchs Fenster, um zu sehen, woruber sie sich amusierten.

H’Loi wurdigte ihn keines Blickes. »Ich frage mich oft, ob sie fur den Zauber vielleicht weniger empfanglich gewesen ware, wenn sie von ihrer Familie etwas mehr Liebe bekommen hatte.«

»Wer hat Sie am Tag der Entfuhrung in den Garten geschickt, um Obst zu pflucken?«

Wieder lachte H’Loi. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich an so etwas erinnere? Ich bin schlie?lich nur eine einfache Hausfrau.«

»Madame«, entgegnete Siri ernst, »mir sind in meinem Leben schon viele einfache Hausfrauen begegnet, und glauben Sie mir, Sie gehoren nicht dazu. Sie sind eine au?erst scharfsinnige, intelligente Frau.« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Noch nie hatte ihr jemand ein solches Kompliment gemacht. Dass es von einem gebildeten Mann, noch dazu von einem Arzt kam, lie? es noch glaubwurdiger erscheinen. Noch wahrhaftiger. Eine einzelne Trane schwoll in ihrem Augenwinkel und rollte ihr uber die Wange.

»Ich glaube, es war Hong Lan«, sagte sie und wischte sie eilig fort.

»Was?«

»Die mich zum Obstpflucken in den Garten schickte. Sie war die Einzige, die so etwas a?. Ich habe noch nie jemanden so viel Obst essen sehen, der danach nicht den halben Tag auf der Toilette verbracht hatte. Ihre Mutter ernahrte sich jahrelang ausschlie?lich von Reis und Schweineschwarte. Vielleicht war sie deshalb ein solches Ekel.«

»Glauben Sie, Hong Lan ist noch am Leben?«

»Doktor … wenn ich ehrlich bin, spure ich ihre Gegenwart nicht mehr.«

Auf dem Ruckweg ins Tal verlief Siri sich gleich dreimal, doch da alle Wege ihn fruher oder spater zu der einzigen Stra?e fuhren wurden, lie? er sich davon nicht beirren. Die untergehende Sonne schlug ihn in ihren Bann. Sie sah aus wie eine riesige Pistolenkugel, die den Horizont in Zeitlupe durchbohrte. Rotes Blut quoll aus der Einschusswunde und versickerte zwischen den Hugeln. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die forensische Pathologie seinen Sinn fur die Natur zu truben drohte.

An der Vortreppe des Gebaudes angekommen, sah er Dtui und Panoy unter einem don soak, einem Trauerbaum, sitzen. Er trat zu ihnen.

»Hallo«, sagte er. »Macht ihr ein Picknick?«

»Sie wollen uns nicht ins Haus lassen«, erklarte Dtui.

»In welches Haus?«

»Ins Gastehaus Nr. 1.«

»Und warum nicht?«

»Weil dieses kleine Madchen« – Panoy blickte auf und streckte die Hand lachelnd nach Siris Augenbrauen aus – »sich angeblich illegal hier aufhalt. Und Gaste, die nicht auf der offiziellen Parteiliste stehen, durfen das Haus nicht betreten.«

»Aber gestern hat sie doch auch hier ubernachtet.«

Dtui affte den gestrengen Tonfall der Leiterin des Gastehauses nach. »›Das war ein eklatanter Versto? gegen die Vorschriften, der nicht ungeahndet bleiben wird.‹ Wenn jemand mitbekommen hatte, dass wir sie ins Haus geschmuggelt haben, waren wir vermutlich standrechtlich erschossen worden.«

»Ich nehme an, Sie haben das Thema bereits hinlanglich mit der Dame diskutiert.«

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