Zunachst stellten sie fest, dass die Erde rings um die Ovale kompakter war als innerhalb der beiden eiformigen Gebilde. Was sie in dem Verdacht bestarkte, dass hier womoglich etwas vergraben lag. Dann begannen sie in der Mitte des ersten Ovals zu graben, was ihnen sinnvoller und weniger muhsam erschien, als den ganzen Bereich auf einmal freizulegen. Nachdem sie etwa zwei Handbreit tief gegraben hatten, gingen sie etwas vorsichtiger zu Werke. Wenn hier eine Leiche verscharrt worden war, lag sie vermutlich nicht besonders tief.

Sie buddelten und buddelten – drei, vier, funf Handbreit tief – und hatten noch immer nichts gefunden. In dem Loch sammelte sich klares Wasser und verursachte immer wieder kleine Lawinen, die ihre Arbeit erheblich erschwerten. Ehe sie sich’s versahen, waren beide patschnass und frostelten.

Plotzlich horte Dtui auf zu graben und lehnte sich zuruck. »Dr. Siri …«

»Ich wei?«, sagte er.

Sie hatten sieben Handbreit tief gegraben und waren auf festen Lehm gesto?en. Das vermeintliche Grab war leer. Dtui beschlich ein eigenartiges Gefuhl. Ihr wurde klar, dass sich ihr Anstands- und Sittlichkeitsempfinden im Laufe des vergangenen Jahres grundlegend geandert hatte. Vorher ware es ihr im Traum nicht eingefallen, in feuchter Erde zu graben, in der Hoffnung – ja, sie hatte wirklich und wahrhaftig gehofft -, dort eine Leiche zu finden. Sie wusste, dass es Siri ahnlich ging. Was war aus ihr geworden? Ein gemeiner Leichenfledderer, weiter nichts.

»Wir sollten wohl nicht enttauscht sein«, sagte Siri, als habe er ihre Gedanken gelesen.

»Dann hat es wohl auch keinen Zweck, es an der anderen Stelle zu versuchen«, setzte sie hinzu.

»Wohl kaum.«

»Es wird langsam spat. Wir sollten unbedingt die anderen Raume durchsuchen, bevor …«

»Die Disco losgeht?«

»Genau.«

Dennoch starrten sie auf das zweite Oval wie ein sattes Kind, das sehnsuchtig ein su?es Ziegenmilch- roti beaugt und sich fragt, ob in seinem Bauchlein dafur nicht vielleicht doch noch Platz ist. Wortlos sanken sie von Neuem auf ihre nassen Knie und trugen die oberste Kiesschicht ab. In drei Handbreit Tiefe stie? Dtuis Schaufel auf ein Hindernis.

»Doc?«

Sofort floss Wasser in das ausgehobene Loch, und ein Gegenstand trieb an die Oberflache. Ein holzerner Hemdknopf. Schweigend erweiterten sie ihre Ausgrabungsstatte. Die Exhumierung der unter dem Wasserlauf verscharrten Leiche erforderte eine Stunde sorgfaltiger Arbeit. Sie raumten den kiesigen Sand beiseite und hauften ihn neben sich auf, damit er nicht in das Loch zuruckfiel. Schlie?lich war der Leichnam vollstandig freigelegt und schwamm in einem Bad aus kristallklarem Wasser. Siri und Dtui standen rechts und links des Grabes und zitterten in der feuchten Hohle. Ihre Batterien gingen allmahlich zur Neige, und die schaurige Szenerie schimmerte im schwachen Licht ihrer Taschenlampen.

»Dtui«, sagte Siri schlie?lich. »So etwas werden wir in diesem Leben wohl nicht noch einmal zu Gesicht bekommen.«

Die Leute redeten zwar noch mit ihm, aber Herr Geung konnte sie nicht mehr horen. Sie sahen ihn freundlich an, doch er vermochte ihr Lacheln nicht zu erwidern. Wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm mit letzter Kraft, einen Fu? vor den anderen zu setzen, einen Fu? … vor … den anderen. Erst links, dann rechts. Erst links, dann rechts. Sein schmerzender Schadel baumelte ihm auf die Brust, und er starrte auf seine Stiefel. Das Leichenschauhaus. Links … rechts … essen … Wasser. Insektenstiche. Links … links, nein, falsch.

Erst ein Dorf, dann noch eins. Und noch eins. Wie viele Dorfer eigentlich noch? Wie viele Kilometer auf der immer gleichen Stra?e? Hatte er die Sonne im Rucken? Seine Tasche war verschwunden, und damit auch der Schulterriemen. Wo war sie geblieben? War die Sonne uberhaupt irgendwo, und sank sie ihm vom Scheitel in den Beutel? Morgens auf … Buckel rauf … wie ging das Lied noch gleich? Da plotzlich … horte die Stra?e einfach auf. Eben war sie noch da gewesen – jetzt nicht mehr. Stattdessen ein breiter, sich zah dahinwalzender Fluss. Eine Gruppe von Leuten, die stumm miteinander sprechen und dann lachend mit dem Finger auf ihn zeigen. Eine Fahre, ein flacher Metallquader, so schwer, dass er sich fragt, wie sie sich uber Wasser halt. Untergehen, ja. Aber schwimmen? Nein. Sie kommt ihm irgendwie … bekannt vor.

Die Gruppe betritt den Metallquader wie eine riesige vielkopfige Krabbe. Wie durch ein Wunder schwimmen sie, die Krabbe, das Auto, das gute Dutzend Motorrader. Ein Junge kommt. Er bohrt Herrn Geung den Zeigefinger in die Brust und streckt die Hand aus. Wieder sto?t er ihm den Finger in die Brust. Geung sieht dem Jungen in die Augen und erblickt sein Spiegelbild darin.

Der Metallquader sto?t ans gegenuberliegende Ufer, als habe er mit diesem Hindernis nicht gerechnet. Die Krabbe gerat ins Straucheln, fallt aber nicht hin. Herr Geung wird aufs Deck geschleudert. Hande sammeln ihn auf, zerren ihn mit sich. Die Stra?e taucht wieder auf. Vor ihm, hinter ihm, uberall stehen Leute. Zahllose Munder und ebenso viele Zahne. Sie lenken ihn wie ein mit Zuckerrohr bepacktes Fahrrad. Sie lotsen ihn von der Stra?e, und die Sonne scheint ihm nicht mehr auf die Schulter, sondern auf die Nase, in die Augen. Plotzlich schiebt sich ein Gesicht davor, verdeckt die Sonne, und die Gluhbirne uber Vientiane erlischt. Es ist ein ausdrucksloses, nichtssagendes Gesicht, das sich da uber ihn beugt, wie ein Tischtennisschlager ganz in Schwarz. Herr Geung blinzelt. Warum legt der Tischtennisschlager ihm den Arm um die Schultern und streicht ihm das Haar aus der Stirn?

Er und der Tischtennisschlager drehen sich um die eigene Achse und tanzen einen sonderbaren Tango. Und wie durch ein Wunder bekommt der Tischtennisschlager mit einem Mal ein vertrautes Gesicht – das Gesicht von Herrn Watajak, dem Mann, der sich dereinst die Muhe gemacht hatte, sieben Kinder zu zeugen, von denen allerdings nur eins ein Dummkopf war.

16

DER WEISSE NEGER

In der einst unter Tarnnetzen verborgenen, jetzt aber offen einsehbaren Kuche des militarischen Hohlenkomplexes drangten sich Genosse Lit, Dr. Siri und Schwester Dtui um einen Tisch mit dem nahezu vollstandigen Leichnam Isandro Jesus Montanos. Genosse Lit fuhlte sich nicht gut. Er hatte sich bereits einmal erbrochen und stand kurz davor, sich ein zweites Mal zu ubergeben. Gewiss, er war nervos, denn in knapp vier Tagen wurde das gesamte Politburo einem Konzert beiwohnen, das keine drei?ig Meter vom Leichenfundort entfernt stattfinden sollte. Er war nervos, denn die Frau, die seinen Antrag noch immer nicht gebuhrend zu wurdigen wusste, obwohl er sie der Kommission fur Partnerschaften und Beziehungen bereits als seine Zukunftige genannt hatte, stand praktisch direkt neben ihm. Doch trotz dieser au?erst unersprie?lichen Umstande war es zweifellos der Anblick der Leiche, der ihm den Magen umdrehte.

Er hatte naturlich auch den anderen Kubaner gesehen, ja sogar dessen mumifizierte Leiche getragen. Aber die hatte ihn weniger an einen Menschen, denn an einen knorrigen Baumstamm erinnert. Dieses … Ding hingegen war obszon. Es wirkte so lebendig, als wollte es jeden Augenblick vom Tisch aufspringen und ihm an die Kehle gehen. Und wie, bitte, konnte jemand, der zeitlebens schwarz gewesen war, so wei? werden? Zwar schillerte sie hier und da in Gelb- und Gruntonen, doch ein Gro?teil der aufgedunsenen Haut war aschfahl wie das Fleisch des chinesischen Buddha. Siri wusste sogar, wie man diese Erscheinung nannte – adipici … adipoci oder so ahnlich -, aber im Laotischen gab es dafur kein Wort. Dem Doktor zufolge handelte es sich um ein recht ungewohnliches Phanomen: Da die Leiche in kuhler, feuchter Erde begraben worden war, hatte sich das Fett unter Beibehaltung der ursprunglichen Korperform in eine zahe, seifige Substanz verwandelt. Lit durfe sich glucklich schatzen, meinte Siri, dieser Anblick werde nur wenigen Menschen zuteil.

Doch statt Glucksgefuhlen verspurte Lit vor allem eines – Brechreiz. Der kasige Geruch sickerte durch das Tuch, das seine untere Gesichtshalfte bedeckte, und er wusste, dass das, was der Doktor vorhatte, seinem Magen den Rest geben wurde.

»Auf zum frohlichen Schneiden«, verkundete Siri mit Unschuldsmiene. »Nur keine Ubelkeit vorschutzen.«

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