Das Skalpell in seiner Hand schimmerte im Morgenlicht.
Lit begann zu schwanken.
Der Diensthabende hatte den Sicherheitschef um Mitternacht geweckt und ihn von der Entdeckung des zweiten Kubaners unterrichtet. Angeblich gab es weiter nichts zu tun, als den Leichnam bis zum Morgen zu bewachen. Lit war gegen sechs in Begleitung zweier Adjutanten eingetroffen, und Siri hatte ihn vor der Konzerthohle lachelnd in Empfang genommen. Ohne ihren Ekel auch nur im Geringsten zu verhehlen, hatten die Adjutanten den Leichnam aus seinem Bad auf eine Trage bugsiert und ihn durch den langen Tunnel in die Kuche geschleppt.
Wahrenddessen hatte Siri den Genossen Lit auf den neuesten Stand der Ermittlungen gebracht. Lit hatte dem Doktor zu seiner meisterhaften Detektivarbeit gratuliert und eifrig in sein Notizbuch gekritzelt. Doch jetzt, wo das Skalpell uber dem Bauch des Toten schwebte, zog er es vor, sich aus dem Staub zu machen. Er werde spater wiederkommen, wenn es ihm besser gehe. Dann, und erst dann, wolle er uber das Obduktionsergebnis unterrichtet werden.
Ein wackliger Tisch in einer Freiluftkuche inmitten einer Wolke neugieriger Fliegen war schwerlich der ideale Ort fur eine postmortale Untersuchung. Der verhaltnisma?ig gute Zustand der Leiche machte die Sache ein klein wenig ertraglicher. Das einzige Anzeichen au?erer Gewalteinwirkung war eine etwa zwanzig Zentimeter lange Inzision im Oberbauchbereich. Zwar mochte sich das Erscheinungsbild der Wunde dadurch, dass der Tote so lange in feuchter Erde gelegen hatte, etwas verandert haben, aber Siri fand weder Narbengewebe noch Tumore, was den Schluss nahelegte, dass der Eingriff nach Isandros Ableben erfolgt war.
Je weiter die Obduktion voranschritt, desto unglaublicher erschien es ihnen, dass sie es mit einer funf Monate alten Leiche zu tun hatten. Der Grund fur das Loch im Abdomen war schnell gefunden. Jemand hatte den Brustkorb geoffnet, um das sehnige Muskelgewebe des Zwerchfells durchtrennen und in die Perikardialhohle vordringen zu konnen. Dann hatte er das Herz vorsichtig herausgetrennt und entnommen. Zu diesem Zeitpunkt war Isandro bereits tot gewesen.
»Darf ich jetzt ›Das ist aber komisch‹ sagen?«, fragte Dtui.
»Nur zu«, sagte Siri.
»Das ist aber komisch.«
»Fallt Ihnen sonst noch etwas Merkwurdiges auf?«
»Geben Sie mir einen Tipp.«
»Sehen Sie irgendwo parallele Narben?«
»Nein. Keine Narbe, nirgends. Auch komisch.«
Blieb die Frage, was den Tod des Kubaners verursacht hatte. Sie fanden keine weiteren Verletzungen, keine inneren Traumata, und ohne Labor konnten sie auch den Mageninhalt nicht analysieren. Alles deutete darauf hin, dass Isandro trotz seiner blendenden Gesundheit friedlich verschieden war.
Da sie leider nicht hatten feststellen konnen, was passiert war, sondern nur, was nicht passiert war, hatten Dr. Siri und Dtui keinen Schimmer, wie es nun weitergehen sollte. Wahrend sie die Proben eintuteten, lie?en sie die Geschehnisse des fraglichen Abends noch einmal Revue passieren: Die Kubaner werden dabei beobachtet, wie sie eine sedierte, wenn nicht gar tote vietnamesische Schonheit in diese Hohlen bringen. Isandro stirbt friedlich und wird in einem nassen Grab zur letzten Ruhe gebettet. Noch am selben Abend wird Odon brutal ermordet, in Zement ertrankt. Doch ihr bezauberndes Opfer verschwindet spurlos und entgeht auf mysteriose Art und Weise dem zweiten, mutma?lich fur sie bestimmten Grab.
Um den Anschein von Ordnung zu wahren, verstauten sie Isandro in einem Leichensack, den die Sicherheitsabteilung ihnen zur Verfugung gestellt hatte, und kehrten ins Gastehaus zuruck, um sich frischzumachen. Sie standen vor einem ebenso verwirrenden wie aufregenden Ratsel. Es war noch nicht zehn. Panoy kniete bei ihnen an dem kleinen Beistelltisch und spielte mit ihrer gesunden Hand Karten. Sie hatte die Herzen des Gastehauspersonals erobert, selbst das der furchteinflo?enden Leiterin, die gewohnlich wartete, bis Siri und Dtui gegangen waren, bevor sie mit dem Madchen spielte.
Der Zustrom von fehlgeleiteten Lakaien des kapitalistischen Systems war vorerst verebbt. In zwei Tagen wurden die ersten Delegierten zum Konzert in Vieng Xai eintreffen. Wer nicht als Ehrengast in den Privatgemachern der Mitglieder des laotischen Politburos nachtigen durfte, wurde hier im Gastehaus wohnen. Man hoffte, dass das Gastehaus Nr. 2, das am anderen Ende der Stadt in Windeseile aus dem Boden gestampft wurde, die Flut wurde aufnehmen konnen. Doch bis dahin hatten die Mitarbeiter des Gastehauses Nr. 1 wenig mehr zu tun, als sich in ein vierjahriges Waisenmadchen zu verlieben.
Trotz seiner reichlich vorhandenen Freizeit zeigte sich das Personal nach wie vor erstaunlich unflexibel, was den Tagesablauf der Gaste anging. Siri und Dtui waren bereits vor dem Fruhstuck aufgebrochen, wurden aber fruhestens in zwei Stunden etwas zu essen bekommen. Und so setzten sie sich mit einer Tasse Tee auf die Veranda, knabberten Sonnenblumenkerne und sahen Panoy zu, die sich angeregt mit der Karten-Konigsfamilie unterhielt. Zum Gluck erschien Lit gegen halb elf mit zwei Tafeln Erdnusskrokant, welche die drei hei?hungrig verschlangen. Wahrend er keine Gelegenheit auslie?, seiner Auserwahlten in die Augen zu schauen, legte Lit ihnen das Ergebnis der Nachforschungen dar, um die Siri ihn zuvor gebeten hatte.
Bevor er sie ins Bild setzte, machte er ihnen unmissverstandlich klar, dass es sich um streng vertrauliche Informationen handele, die eine als geheim eingestufte Mission betrafen. Was er ihnen zu sagen habe, durfe die Veranda unter keinen Umstanden verlassen. Es gehe um eine Frage der nationalen Sicherheit. Siri meinte, die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Anwesenden, einschlie?lich Panoy, geheime Informationen an die Amerikaner weitergeben werde, tendiere stark gegen null, und er solle endlich zur Sache kommen.
»Also gut«, begann Lit. »Bei der Einheit – und es war nur eine Einheit -, die in der Nacht, in der Isandro zu Tode kam, an der Kreuzung bei Xam Neua stationiert war, handelte es sich um eine Guerillatruppe, die in den von den Hmong besetzten Gebieten geheime Operationen durchfuhren sollte. Sie war zwei Monate zuvor, kurz nach dem Uberfall auf Oberst Ha Hungs Manner, zusammengestellt worden. Einige ihrer Mitglieder hatten in Ha Hungs Bataillon gedient, und die meisten waren an der Suche nach der entfuhrten Tochter ihres Kommandeurs beteiligt gewesen.«
Inzwischen waren die Einheit aufgelost und die Manner anderen Divisionen zugeteilt worden, doch Lit zog stolz einen Durchschlag mit den Namen ihrer Mitglieder aus seiner Tasche. Er reichte ihn Siri, der mit dem Finger an der Liste entlangglitt. Obgleich ihm die Namen der meisten vietnamesischen Soldaten wenig sagten, sprang ihn ein Name formlich an. Siri umkringelte ihn mit dem Bleistift aus seiner Brusttasche. Er lachelte Dtui und Lit vielsagend zu, behielt die Erklarung jedoch fur sich.
»Haben Sie Zeit, Genosse Lit?«, fragte Siri.
»Dr. Siri, in zwei Tagen muss ich fur die Sicherheit von sechzig auslandischen Wurdentragern, unserem gesamten Kabinett sowie uber vierzig Generalen garantieren. Bis dahin habe ich einen Mordfall zu losen, zur Zufriedenheit des Prasidenten. Wenn Sie das irgendwie moglich machen konnten, wurde ich in den kommenden zweiundsiebzig Stunden mit Freuden auf meinen Schonheitsschlaf verzichten.«
»Gut. Dann machen wir doch eine kleine Spritztour.«
Wahrend Lit fuhr und Dtui schweigend auf dem Rucksitz hockte, setzte Siri seinem Zuhorer das Obduktionsergebnis in allen Einzelheiten auseinander. Zwar nickte der junge Mann an den richtigen Stellen, aber Siri merkte schnell, dass Lit heillos uberfordert war. Er bekleidete einen Posten, den er lediglich als Zwischenstation betrachtete, musste ihn jedoch nach bestem Wissen und Gewissen ausfullen, um schnellstmoglich befordert werden zu konnen. Folglich bot er Siri bereitwillig jede nur erdenkliche Unterstutzung. Lit sah immer wieder in den Ruckspiegel, nicht etwa, um nach eventuellen Verfolgern Ausschau zu halten, sondern weil er den Blickkontakt mit Dtui suchte. Trotz der Breite des Spiegels und des betrachtlichen Umfangs seiner Verlobten gelang es ihr irgendwie, sich seinem Gesichtsfeld zu entziehen. Die Fahrt hatte deshalb beinahe in einer Katastrophe geendet. Lit starrte gebannt in den Spiegel und bemerkte daruber nicht, dass die Stra?e schnurstracks in den Fluss fuhrte. Siri erwachte gerade noch rechtzeitig aus seinem Nickerchen, um einen Warnschrei auszusto?en.
Siri kannte die Strecke gut. Als sie an der richtigen Kilometermarke abbogen, sa? dort derselbe zerlumpte Wachposten unter seinem Strohdach. Sie hielten gar nicht erst an, um sich seine Lugen anzuhoren. Als der arme Mann sein Jagdgewehr endlich von seiner Schulter bugsiert und umstandlich in Anschlag gebracht hatte, war der Jeep langst au?er Sicht. Was nicht weiter storte, denn es war ohnehin nicht geladen.
Zehn Minuten spater sa?en Siri, Lit und Dtui an einem Tisch in einem ansonsten leeren Zelt. Siri hatte seinen alten Freund Hauptmann Vo beiseitegenommen und ihm die Lage geschildert. Doch die Zeit der zwanglosen Plaudereien war vorbei. Es handelte sich um eine hochoffizielle Angelegenheit, die den gesamten Militarapparat