»Und was haben Sie mit dem Madchen gemacht?«

»Wir haben das Grab zugeschuttet, die Kleine auf den Transporter verfrachtet und mit ins Lager genommen. Der Leutnant hat sich mit der Mutter in Hanoi in Verbindung gesetzt und ihr erklart, was passiert war. Wir dachten, sie wurde herkommen oder uns bitten, die Leiche nach Vietnam zu uberstellen, aber sie wollte nur, dass wir sie anstandig begraben und ihr eine Haarstrahne ihrer Tochter schicken.«

»Wo haben Sie das Madchen begraben?«, fragte Siri.

Thangon war ein winziges Dorf, in dem jeder jeden kannte. Selbst die Leute auf der Fahre hatten den kleinen Geung sofort erkannt. Schlie?lich war er achtzehn Jahre seines Lebens eine Beruhmtheit – einer der beiden Dorftrottel – gewesen. Herr Watajak war uber das Wiedersehen mit seinem Sohn nicht sonderlich erfreut, wollte sich vor den Nachbarn aber keine Blo?e geben. Geungs Vater lebte jetzt allein und wurde langsam alt. Seine Frau hatte ihren versoffenen Mann schon vor Jahren verlassen. Die inzwischen erwachsenen Kinder waren in die Stadt gezogen. Wenn er nicht gerade nach Vientiane fuhr, um seinen Nachwuchs um Geld anzubetteln, setzte er kaum einen Fu? vor die Tur. Er hauste in derselben Hutte, in der Geung zur Welt gekommen und gro?geworden war, bevor er in der Mahosot-Klinik angefangen hatte.

Als Geung am ersten Morgen aus seinem Erschopfungsschlaf erwachte und alles genau so vorfand, wie er es in Erinnerung hatte, glaubte er zunachst, er habe alles – Vientiane, das Leichenschauhaus, Dr. Siri, Dtui und die Fahrt nach Luang Prabang – nur getraumt. Nichts davon war tatsachlich passiert, und er war immer noch ein halbwuchsiger Junge in Thangon. Er rief nach seinen Geschwistern, er rief nach seiner Mutter, aber es kam niemand au?er seinem Vater. Nur dass sein Vater sehr viel alter war, als er hatte sein sollen – und das Haus war staubig und leer.

Die Nachbarn schauten in regelma?igen Abstanden herein und brachten Geung zu essen und zu trinken und Balsam fur seine trockene Haut. Er erinnerte sich an ihre Gesichter. Er erinnerte sich an die Hebamme, die schon uralt gewesen war, als sie Geung zur Welt gebracht hatte, und heute immer noch uralt war. Wie in seinen Kindertagen punktierte sie Geungs Ohren mit einer Spritze, damit die Flussigkeit abfloss, und wie damals war ihre Stimme das Erste, was er vernahm, als er endlich wieder horen konnte.

»Schon, dass du wieder da bist, kleiner Geung.«

Mit seinem Gehor kehrte auch die Wirklichkeit zuruck. Endlich konnte er die Fragen der neugierigen Besucher verstehen und beantworten. Da es im Ort weder Strom noch anderweitige Zerstreuung gab, kamen die Leute gern vorbei und lauschten seinen Geschichten uber die Klinik und die Falle aus Dr. Siris Leichenschauhaus. Naturlich neigte er dazu, die Dinge zu vereinfachen und das eine oder andere wichtige Detail zu unterschlagen, was die einfachen Leute von Thangon jedoch gar nicht bemerkten.

Geung ahnte nichts von den schleichenden Veranderungen, die in der elterlichen Hutte vor sich gingen. Sein Vater hatte in weiser Voraussicht und mit der Regelma?igkeit einer Fabrik, die Fleischklo?chen am Flie?band produziert, Kinder in die Welt gesetzt, die eines Tages seinen Lebensabend sichern sollten. »Ein cleveres Burschchen, dieser Watajak«, hatten die Leute von Thangon gesagt. »Bei sieben Kindern braucht er nie wieder einen Finger krumm zu machen.« Und da sa? er nun einsam und allein in seiner Ecke wie ein Idiot. Wer brachte ihm noch Respekt entgegen? Wer horte noch auf ihn? Hilflos musste er mit ansehen, wie die Leute herbeistromten, um den weisen Worten seines Sohnes zu lauschen. Aus dem Dummkopf war ein Genie geworden.

17

DIE OBDUKTION DER ROSA ORCHIDEE

Die Leute aus Vientiane hatten sich bereits in Vieng Xai eingefunden, um Vorbereitungen fur das Konzert zu treffen. Morgen wurden die Unterhaltungskunstler aus Hanoi einfliegen. Ein Tag war fur die Proben angesetzt, und dann, am Sonntagvormittag, wurden die Delegierten und Parteibonzen eintreffen. Deshalb bestand Genosse Khong nachdrucklich darauf, dass Dr. Siri die Leiche auf der Stelle aus der Kuche der Konzerthalle entfernte.

Genosse Khong war ein strenger Mann mit breiter Brust und bedrohlichem Blick. Kein Erdbeben, keine Invasion und schon gar keine Obduktion wurden seiner sorgfaltigen Planung des Konzerts fur Freundschaft und Zusammenarbeit im Wege stehen. Die Hausangestellten emporten sich uber die Einzelteile der Mumie im Konferenzzimmer des Prasidenten. Auch sie mussten verschwinden. Da sie im Gastehaus Nr. 1, das einem grundlichen Fruhjahrsputz unterzogen wurde, alles andere als willkommen waren, wurden die beiden Kubaner zum Schauplatz des ersten Akts zuruckgebracht, ins Krankenhaus bei Kilometer 8.

Lit hatte die ganze Nacht uber seinem ausfuhrlichen Bericht gebrutet. Es fehlte nur noch der Schlussabsatz mit dem Befund der letzten noch ausstehenden Obduktion, der von Hong Lan, der rosa Orchidee. Jetzt sa? er auf der Bank vor demselben Mittelschulklassenzimmer, in dem Siri die Nacht mit den Buffeln verbracht hatte. Die Patienten in den anderen Hausern, die ihn von ihren Fenstern aus beobachteten, konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum er eine Gasmaske trug.

Dazu hatten sie schon neben ihm sitzen mussen. Im Klassenzimmer beugten Siri und Dtui sich schwitzend und verwirrt uber das Skelett, das einst ein bildschones vietnamesisches Madchen gewesen war. Sie trugen je drei OP-Masken uber Mund und Nase. Die mittlere Maske hatten sie gro?zugig mit duftendem Tigerbalsam bestrichen. Doch nichts konnte den schrecklichen Gestank vertreiben, der das Zimmer und alles darin durchdrang. Sie hatten den Genossen Lit ausgelacht, als er mit Gasmaske erschienen war. Ihre Nasen seien den Geruch des Todes gewohnt, hatten sie gesagt. Aber waren die Glaser nicht so hinderlich gewesen, hatten sie die beiden Masken, die er ihnen mitgebracht hatte, wohl nicht verschmaht. Seit sie in der Pathologie arbeiteten, hatten sie so etwas noch nie gerochen.

Eine Mumie, eine Wachsleiche, die sich an der frischen Luft zersetzte, und eine tote Frau, die in einem Leichensack aus Plastik verscharrt worden und dem Wuten der Bakterien ausgesetzt gewesen war – sie alle faulten vor sich hin, die eine langsamer, die andere schneller, und verstromten jede ihr ganz eigenes Aroma. Die Kombination war unertraglich, doch der Doktor hatte sie zusammen aufbahren lassen, um sich Anregungen holen und Vergleiche anstellen zu konnen. Bei der Obduktion Hong Lans stie?en sie auf die erste Gemeinsamkeit. Wie bei Isandro legten die Uberreste des Zwerchfells den Schluss nahe, dass es durchtrennt worden war. Der Leichensack hatte den Zerfallsprozess so weit verlangsamt, dass sie eine Reihe von Anhaltspunkten fanden, die andernfalls von Ungeziefer vernichtet worden waren. Obwohl die Tater dem Leichnam samtliche Organe entnommen hatten, deuteten Kerben an der Innenseite des Brustkorbs auf einen laienhaften operativen Eingriff hin. Was wiederum dafur sprach, dass auch Hong Lan das Herz aus dem Leib geschnitten worden war.

Sehnen und Bander hatten der Zersetzung bislang standgehalten, und auch der Uterus war noch teilweise intakt.

»Meine Gute, sehen Sie sich das an«, sagte Siri zu Dtui.

»Was ist das?«

»Erklaren Sie es mir.«

»Sieht aus wie Fibrome, aber sie war doch erst – wie alt? – achtzehn?«

»Ungewohnlich, nicht? Ich frage mich, ob sie deswegen ins Krankenhaus eingewiesen wurde.«

»Ich dachte, Fibrome seien gutartig.«

»Nicht unbedingt. Und Sie durfen nicht vergessen, dass sie womoglich auch Zysten hatte. Aber selbst wenn, ware das jetzt nicht mehr nachzuweisen.«

»Lasst sich das denn nicht irgendwie feststellen?«

Siri schob den Gebarmutterhals beiseite und nahm die Wirbelsaule in Augenschein. »Oje.«

»Was ist?«

»Sehen Sie das?«

»O Gott. Was ist denn mit ihrer Wirbelsaule passiert?«

»Sie ist zerfressen, Dtui. Der Krebs hat vom Uterus aus gestreut, das Knochenmark befallen und ihr Ruckgrat angegriffen. Sie muss zum Schluss furchtbare Schmerzen gehabt haben.«

»Konnte sie daran gestorben sein?«

»Wenn nicht, ware ihr wohl nicht mehr viel Zeit geblieben.«

»Und was hat das alles zu bedeuten?«

Siri streifte seine Masken ab. Er brauchte die Luft dringender als den Schutz vor dem Gestank. Er nahm ein

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