konnte, was er tat. Aber er brauchte seine Augen nicht. In den nachsten paar Minuten wurden all seine Bewegungen von einem Un-Wesen gesteuert. Siri hatte Medien gesehen, die von den Geistern, die sie beschworen hatten, quer durch den Raum geschleudert worden waren. Er hatte Schamanen gesehen, die sich selbst mit Fausten traktiert oder zu schweben begonnen hatten. Doch von derlei Sperenzchen war dieser Mann meilenweit entfernt. Der Geist, der ihn heimsuchte, war offenbar genauso lethargisch wie er selbst.
Er erhob sich beinahe schwerelos, wie Rauch, der von einer Muckenspirale aufsteigt, und bahnte sich einen Weg zwischen den Zuschauern hindurch. Seine Fu?e schienen kaum den Boden zu beruhren. Achzend kniete er vor Panoy nieder, die noch immer mit fremder Stimme vor sich hin murmelte. Er beugte sich zu ihr hinunter und flusterte ihr hinter vorgehaltener Hand etwas ins Ohr. Inzwischen wusste Siri, dass der Schamane keine Hilfe brauchte. Er hatte alles im Griff. Nach zwei oder drei Minuten fing der Korper des Madchens leise an zu zucken. Nur einer der Zeugen sah, was jetzt geschah. Frau Wunderlichs Geist entstieg dem Korper des Madchens, blickte sich in der Hutte um und trat vor seinen eigenen Korper hin. Er weckte den Geist des kleinen Madchens, der seinen Platz eingenommen hatte, und sah ihm nach, wie er schlaftrunken zu seinem Korper zuruckwankte. Dann rollte Frau Wunderlich sich in ihrem Leichnam zusammen, dessen Geruch sie offenbar nicht weiter storte. So einfach war das. Als wurde man mitten in der Nacht von einem Bett ins andere umziehen.
Die kleine Panoy schlug die Augen auf. Sie betrachtete erst die Faden, die sich wie Spinnweben um ihren Korper schlangen, und dann die Gestalt mit der roten Kapuze neben sich. Sie erschrak und fing, wie jedes normale vierjahrige Kind, an zu weinen. Dtui eilte zu ihr, um sie zu trosten. Der Schamane war in tiefen Schlaf gesunken und merkte von alldem nichts.
Spater sa?en Siri, Dtui und ihr Fuhrer unter einem Strohdach und tranken Tee. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, doch eine leichte Brise strich uber die Hugelkuppe. Siri starrte das hubsche Madchen an, das ihnen die Tassen gebracht hatte und jetzt unter den Blattern eines Bananenbaums sa?. Irgendetwas an ihr zog ihn magisch an.
Dtuis Stimme riss ihn aus seinen Traumereien. »Naturlich war es interessant. Ich habe auch nichts Gegenteiliges behauptet. Aber ich muss sagen, ich hatte es mir irgendwie – irgendwie turbulenter vorgestellt. Verstehen Sie? Blut, Geschrei und Chaos.«
»Das kommt gelegentlich vor«, sagte Siri. »Die heutige Zeremonie war eher von der einschlafernden Sorte.«
»Wann der komische Schamane wohl wieder aufwacht?«
»Seinem normalen Bewusstseinszustand nach zu urteilen wurde ich sagen, nicht vor November.«
»Dann konnen wir ja wieder gehen.«
»Nicht so hastig.«
»Warum?«
»Hier liegt irgendetwas in der Luft.«
»Was denn?«
»Ich wei? nicht. Aber ich habe das dumpfe Gefuhl, dass es da einen Zusammenhang gibt. Es gibt immer einen Zusammenhang. Ich finde, wir sollten noch ein wenig bleiben.«
»Sie sind der Chef. Ich sehe mal eben nach Panoy.« Dtui hievte sich schwerfallig hoch und ging zu der Hutte hinuber, in der die Kleine sich von den Strapazen erholte. Siri trank einen Schluck Tee und lachelte dem halbwuchsigen Madchen zu. Ihre Zuge waren feiner geschnitten als die der anderen Frauen im Dorf, und sie hatte dunklere Haut.
»Kleine Schwester«, rief er ihr zu. Sie lachelte schuchtern zuruck. »Woher kommst du?«
»Aus Vietnam, Onkel.«
»Du bist eine Montagnard, nicht wahr?«
Sie war sichtlich froh, dass er nicht das abwertende
»Ich bin Laote, kein Vietnamese«, sagte Siri.
»Das Volk meines Vaters kampfte auf Seiten der franzosischen Besatzer gegen die Kommunisten. Als der Krieg verloren war, lie?en die Vietnamesen sie dafur bu?en.«
»Es gibt vermutlich nicht allzu viele Montagnards hier in Houaphan.«
»Ein paar.«
»Erzahl mir von ihnen.«
Es schien sie zu freuen, dass sich der alte laotische Arzt fur ihr Volk interessierte. Sie setzte sich zu Siri und erzahlte ihm von einem jungen Mann, der als Pfortner beim Militar arbeitete, und einer befreundeten Familie, die fur die Vietnamesen im Stra?enbau tatig war. Und so weiter. Der Nachrichtendienst schien perfekt zu funktionieren. Trotz der Abgeschiedenheit des Dorfes wusste sie alles uber die vielen Dutzend Auswanderer aus dem Zentralen Hochland. Schlie?lich kam sie auf jemanden zu sprechen, der Siris Interesse weckte.
»Dann ist da noch H’Loi«, fuhr sie fort. »Sie ist mit einem Laoten verheiratet. Sie war als Dienstmadchen bei einem hochrangigen vietnamesischen Soldaten beschaftigt, der inzwischen tot ist. Und …«
Da war er: der Zusammenhang. Siri fiel ihr ins Wort. »Wei?t du zufallig, was aus der Familie geworden ist, fur die H’Loi gearbeitet hat?«
»Sie meinen die Familie des Soldaten? Nein, Onkel. Ich wei? nur, dass sie nach seinem Tod eine Weile arbeitslos war. Aber dann hat sie das gro?e Los gezogen und sich einen Kerl aus der Umgebung geangelt.«
»Wei?t du zufallig, wo die beiden wohnen?«
»Na klar.«
»Ist es weit von hier?«
»Etwa eine halbe Stunde. Wenn Sie mochten, bringe ich Sie hin.«
Siri schickte Dtui mit Panoy und dem Fuhrer zum Gastehaus zuruck. Zwar hatte sie mit ihm dringend uber ein anderes wichtiges Thema sprechen wollen, aber das konnte warten. Er hatte das Gefuhl, dass es sich um etwas Ernstes handelte, und versprach, so bald wie moglich zuruck zu sein. Dann machte er sich mit dem Montagnard-Madchen in die umliegenden Hugel auf. Nur wenige Wanderer in Houaphan verlie?en die ausgetretenen Pfade, und das aus gutem Grund. Selbst die ausgetretenen Pfade pflegten von Zeit zu Zeit zu explodieren.
Das Dorf, in dem H’Loi wohnte, war so armlich, dass der Weiler, aus dem sie kamen, dagegen wie Manhattan wirkte. H’Loi war eine unscheinbare, frohliche junge Frau Anfang drei?ig, die mit einem extrem hasslichen, sehr viel alteren Mann zusammenlebte. Die Hochzeit hatte ihr die laotische Staatsburgerschaft eingebracht. Die Not hatte die leidgepruften Montagnards erfinderisch werden lassen. Die Frau sprach von Haus aus flie?end Franzosisch, Vietnamesisch und zwei einheimische Dialekte. Seit ihrer Eheschlie?ung hatte sie auch noch Laotisch gelernt. In jeder anderen Gesellschaft ware sie eine gefragte Chefsekretarin oder Dolmetscherin gewesen. In diesem Dorf bekam sie Kinder und kochte. Sie wusste, dass es zwecklos war, mit ihrem Schicksal zu hadern.
Sie sa? mit Siri in ihrer armlichen Hutte und sprach freimutig uber ihre Zeit beim Oberst und seiner Familie. Als er in Ban Methuot im zentralen Hochland Vietnams stationiert gewesen war, hatte die Frau des Obersts H’Loi eingestellt. Der jungen Vietnamesin blieb keine andere Wahl. Sie konnte von Gluck sagen, dass sie uberhaupt Arbeit gefunden hatte. Dann zog sie mit der Familie ins gut funfzehnhundert Kilometer entfernt gelegene Houaphan. Die Frau entpuppte sich als echter Drachen, ihre Tochter Hong Lan hingegen war ein nettes Madchen und, um es mit den reizenden Worten H’Lois zu sagen, so klug und gewitzt wie eine Badewanne voller Richter. H’Loi war nicht nur Dienstmadchen und Kochin, sondern auch die Hauslehrerin des Madchens. Die beiden wurden Freundinnen.
Als Hong Lan erkrankte, besuchte H’Loi sie jeden Tag im Hospital. Manchmal blieb sie sogar uber Nacht. Hong Lan spielte die Sache herunter – sie habe leichte Bauchschmerzen, sonst nichts -, doch der Arzt hatte H’Loi anvertraut, dass es sich um etwas Ernsteres handelte. Sie musste zweimal operiert werden. Das Madchen lag uber einen Monat im Krankenhaus bei Kilometer 8 und erholte sich. Eines Tages tauchte wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Mutter auf und lie? Hong Lan in ein Militarkrankenhaus bei Xam Dtai verlegen. Dort konnte H’Loi sie nicht mehr jeden Tag besuchen, und so sah sie Hong Lan erst wieder, als das Madchen nach Hause zuruckkehrte.
Danach war Hong Lan nicht mehr die Alte. Sie war noch sehr schwach, obwohl sie die Operation angeblich gut uberstanden hatte und bald wieder auf die Beine kommen wurde. Aber da hatte H’Loi so ihre Zweifel. Trotz all