»Na gut«, sagte er und blieb stehen. Der Fahrer offnete die Beifahrertur. Auf dem Sitz lag eine Pistole; der Fahrer verstaute sie eilig im Handschuhfach.
»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte ihn der Mann. Geung kletterte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Beifahrersitz. Als er sa?, beugte der Fahrer sich zur Seite und zog die Tur zu. Sein Fahrgast stank wie eine Latrine. Der Mann stellte sich als Woot vor. Geung stellte sich als Genosse Geung vor, und sie gaben sich die Hand. Woot hatte klebrige Finger, als hatte er soeben eine Portion Klebreis vertilgt und vergessen, sich die Hande zu waschen. Wobei Geung einfiel, dass sein Proviant alle war und er Hunger hatte.
Der kleine blaue Peugeot fuhr eine Weile die alte Stra?e entlang und bog dann – genau wie Woot versprochen hatte – auf die Bundesstra?e 13. Geung hatte das Schild zwar gesehen, es aber nicht weiter beachtet, weil die Sonne wollte, dass er geradeaus ging. Nach ein paar Kilometern kamen sie zu einem hohen Wegweiser mit den Namen all der Orte, an denen die Stra?e vorbeifuhrte. Der Fahrer ging vom Gas.
»Siehst du, Bruder?« sagte er. »Da steht’s, in der Mitte. Vang Vieng. Kannst du das lesen?«
Aber Geung freute sich viel mehr uber den letzten Namen auf der Liste. Er hatte ihn auf Anhieb entziffert. Er sah Woot breit grinsend an und starrte dann wieder auf das Schild.
»Vvvv… ien-tiane«, sagte er. »Vvvvientiane.«
Es war das schonste Wort, das er jemals buchstabiert hatte. Er konnte gar nicht mehr aufhoren zu grinsen. Der Wagen nahm Tempo auf, und Geung betrachtete die vorbeiziehenden Reisfelder, bleckte die Zahne und genoss die warme Luft, die durchs Fenster hereinwehte. Er war glucklich und zufrieden. Er uberlegte, wie schon es ware, wenn Genosse Woot bis nach Vientiane durchfahren wurde. Was er nicht wusste: Genosse Woot fuhr noch nicht einmal bis Vang Vieng.
Siri sa? allein im Speisesaal des Gastehauses und starrte in seinen Kaffee, der so stark war, dass der Loffel darin stehen blieb. Es war seine zweite Tasse. Ihm fehlten die Baguettes, die Omelettes und der fangfrische Flussfisch aus Vientiane. In diesem Teil des Landes herrschte keine Durre. Im Gegenteil. Der Nordosten bluhte und gedieh. Civilai hatte einmal gesagt, wenn man in dieser Gegend einen Zitronendrops fallen lasse, bluhe dort binnen einer Woche ein Zitronenbaum. Weshalb Siri es umso ratselhafter fand, dass die Speisekarte im Gastehaus Nr. 1 weiter nichts zu bieten hatte als
Der Kaffee sollte den Kohlgeschmack vertreiben und seinen bleiernen Verstand auf Touren bringen. Er hatte jede Menge kleiner Hinweise und Anhaltspunkte, zwischen denen sich jedoch beim besten Willen kein sinnvoller Zusammenhang herstellen lie?. In der vergangenen Nacht hatte ihn die Disco bis zwei Uhr morgens wachgehalten. Eine infernalische Bongotrommel wollte ihn in die Hohle zurucklocken – tapfer widerstand er der Versuchung. Auch seine Hoffnung auf einen Traum erfullte sich nicht: Als der Schlaf ihn schlie?lich ubermannte, gab es leider nichts zu sehen. Er konnte sich jedenfalls an nichts erinnern.
Er erwachte kurz vor Tagesanbruch, weil er dringend zur Toilette musste. Ein lastiger Drang, denn das stille Ortchen lag erstens im Parterre und zweitens im Dunkeln. Aber er hatte ein Alter erreicht, in dem die Blase eines Mannes den Spitzenplatz auf der Rangliste der Organe einnahm. Sie diktierte die Spielregeln. Er schlupfte in seine Sandalen und ging in den Gemeinschaftswaschraum hinunter. Die Luft war still und kalt. Stinkendes Wasser quatschte unter seinen Sohlen. Er legte die Taschenlampe auf die Trennwand. Noch war sein Gedachtnis nicht so schwach, dass er zum Pinkeln eines Suchscheinwerfers bedurft hatte. Der Lichtkegel war auf die Duschkabinen gerichtet.
Das tropfende Wasserrinnsal hinter ihm verwandelte sich nach und nach in einen Strahl, als hatte jemand eine Dusche aufgedreht. Er lie? seinen Sarong sinken und drehte sich um. Das Wasser unter seinen Fu?en war drastisch gestiegen. Aus der Dusche gegenuber ergoss sich ein unfassbarer Wasserschwall – erheblich mehr, als durch ein Bleirohr passte. Siri hatte gelernt, seine Angst in solchen Momenten zu uberwinden. Es war seine Dammerstunde, die Zeit kurz vor Sonnenaufgang, an der Grenze zwischen Schlafen und Wachen. Eine Zeit des Sehens und des Lernens. Es gab keinen Grund zur Panik.
Das Wasser sturzte von der Decke der Duschkabine wie ein Gebirgswasserfall. Es reichte ihm inzwischen bis zu den Knien. Es hatte keine Temperatur, keine Substanz. Etwa zwei Meter entfernt konnte er einen undeutlichen Umriss unter der Oberflache ausmachen. Er nahm seine Taschenlampe und leuchtete damit ins Wasser. Es war Isandro. Er lag auf den Badezimmerfliesen ausgestreckt wie ein Leichnam, der fur die Bestattung vorbereitet wird, die riesigen Hande uber der Brust gefaltet wie zum Gebet. Er sah ruhig und friedvoll aus – erfullt.
Plotzlich riss ein lautes Hammern an der Tur Siri aus dem Schlaf. Es war ein wutendes Hammern. Seine Tur hatte kein Schloss, deshalb hatte er einen Stuhl unter die Klinke geklemmt, was ihm das Zimmermadchen, das zehn Mal taglich ohne anzuklopfen hereinplatzte, offensichtlich ubel nahm.
»Wer ist da?«, flotete er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Ihr Fruhstuck«, blaffte sie, »steht auf dem Tisch. Wenn Sie nicht in funf Minuten unten sind, ist es kalt.«
»Sie sind ein Engel in Sackleinen«, rief er durch die geschlossene Tur. »Die Partei wird es Ihnen danken, dass Sie mich bei Kraften halten.«
Da er aus Erfahrung wusste, dass sein Fruhstuck ohnehin kalt sein wurde, ganz gleich, ob er funf oder funfzig Minuten brauchte, nahm er sich fur seine morgendlichen Verrichtungen reichlich Zeit. Dann ging er hinunter, stocherte lustlos in seinen lauwarmen Nudeln und machte sich Gedanken uber das Ratsel der vergangenen Nacht. Eine Stunde spater sa? er noch immer vor seiner zweiten Tasse Seeschlamm und sann uber die Vision nach, die ihm im Waschraum zuteilgeworden war. Wenn Isandro friedlich gestorben war, warum fand Odons Geist dann keine Ruhe? Was spielte das Wasser fur eine Rolle? War er ertrunken? Warum konnten Siris Geisterkollegen die Anworten nicht einfach an eine Tafel schreiben? Warum musste alles so kryptisch sein?
»Guten Morgen, Doc.«
Siri blickte auf. Zu seinem Erstaunen stand Dtui in der Tur des Speisesaals. Ihr ehemals wei?er Schwesternkittel sah aus, als habe sie ihn einem abstrakten Maler aus dem Ostblock als Leinwand zur Verfugung gestellt. Sie hatte die kleine Panoy auf dem Arm, die trotz ihrer Schienen und Verbande einen recht fidelen Eindruck machte. Der Anblick der beiden riss Siri aus seinen Grubeleien.
»Morgen, Panoy. Morgen, Schwester Dtui. Was machen Sie denn hier?«
»Die Kubaner sind gelandet. Sie sind gestern Abend eingetroffen. Damit ist mein Dienst beendet.«
»Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Mit dem Lastwagen, der die neuen Arzte vom Flughafen abgeholt hat.«
»Sie haben sich doch nicht etwa als Kindermadchen verdingt?«
»Ich habe herausbekommen, aus welchem Dorf ihre Mutter stammt. Sobald sie wieder gesund ist, bringe ich sie nach Hause.«
»Nett von Ihnen. Die Knochenbruche sind vermutlich bald verheilt. Wir konnen sie jederzeit zuruckbringen.«
»Ah …«
»Ja?«
»Die Knochenbruche sind meine geringste Sorge.«
Er legte der Kleinen die Hand auf die Stirn und sah ihr in die Augen. »Hat es Komplikationen gegeben?«
»Das kann man wohl sagen. Die Fahrt mit dem Lastwagen hat sie ein wenig beruhigt, aber es kann jeden Moment wieder losgehen.«
»Was kann jeden Moment wieder losgehen?«
Frau Wunderlichs Geist verfugte uber ein exzellentes Timing. Noch wahrend Siri die Kleine anstarrte, ging eine tiefgreifende Veranderung mit ihr vor. Sie kicherte kurz wie eine Vierjahrige, dann machte sie da weiter, wo sie aufgehort hatte, mit der Stimme einer alten Frau.
»Nanu.« Siri zog seine buschigen wei?en Augenbrauen hoch und machte ein verwundertes Gesicht. »Der Empfang scheint irgendwie gestort zu sein.«
»Erzahlen Sie mir mehr.«
»Genaueres kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Wenn sie ein Radio ware, brauchten wir nur ein wenig an der Antenne herumzufummeln. Aber der Fall liegt offenbar ein wenig komplizierter. Um nicht zu sagen sehr viel komplizierter.«
Herr Woot – Spitzel, Kopfgeldjager und Huhner zahlender Khon-Khouay-Bevollmachtigter in Personalunion – sa? im Buro des ortlichen Rebellenabwehrdienstes acht Kilometer vor Vang Vieng. Er grinste noch immer wie der Sambo auf einer Tube Darkie-Zahnpasta, wenn auch nicht mehr ganz so breit wie zuvor. Woots Beute sa? sicher