gesehen, wie die Toten fur ihre Reise ins Nirwana vorbereitet wurden. Obwohl er nie einen hatte fortgehen sehen, wusste er, dass sie sich ins Paradies aufmachten. Die Schwestern hatten es ihm erklart.
Er musste auch der Tigerin die letzte Ehre erweisen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Trotz seiner Verletzung hatte er einen Gro?teil des Vormittags im Wald verbracht und Reisig fur den Scheiterhaufen gesammelt. Das Tier war unglaublich schwer – zu schwer, um es auf die Stelzen zu hieven. Und so blieb ihm nichts anderes ubrig, als das Holz uber der toten Katze aufzuschichten. Buddha hatte hoffentlich nichts dagegen, wenn ein Verstorbener verkehrt herum eintraf. Mit den Streichholzern aus seiner Tasche zundete er die trockenen Zweige an und setzte sich neben das Feuer. Bald hatten die Flammen den Scheiterhaufen verschlungen, und die krude Konstruktion brach uber seinem Opfer zusammen. Das schmorende Fleisch duftete kostlich, und Geung knurrte der Magen, aber er kam gar nicht auf die Idee, dass sich solche Gedanken nicht geziemten.
Zwar wusste er nicht, welcher Texte die Monche sich bedienten, aber er wusste, dass bei Bestattungen gesungen wurde. Ihm ging ein Lied im Kopf herum, und so sang er es immer wieder, mit tiefer Stimme, wie er es bei den Monchen gehort hatte.
»Geht die Sonne morgens auf/Rutscht sie mir den Buckel rauf/Und abends sinkt vom Scheitel/sie mir in den Beutel.«
Herr Geung wusste nicht, wie lange all das her war. Aber die Gewissheit, dass die Tigerin die Sonne fortan stets im Rucken haben wurde, warmte ihm das Herz. Au?erdem war es ihr vorbestimmtes Schicksal.
Seitdem war er auf seinen Plattfu?en uber unzahlige Hugel gewandert. Bei jedem Bach machte er halt und trank, widerstand jedoch dem Drang, ein Bad zu nehmen. »Wage es nicht, dich zu waschen«, hatte die alte Frau gesagt, als sie ihn mit ihrem Muckenbalsam eingerieben hatte. Deshalb hatte er sich seit Tagen nicht gewaschen und fing allmahlich an zu stinken. Aber er hatte es der alten Dame versprochen. Seine Haut schalte sich, nicht nur im Nacken, auf den die Sonne erbarmungslos herniederbrannte, sondern auch unter seiner Kleidung; das Jucken war lastig und unangenehm.
Zu allem Ubel musste er feststellen, dass er langsam taub wurde. Und das nicht zum ersten Mal. Man hatte ihm gesagt, das sei bei Leuten wie ihm nicht ungewohnlich, weil sich Flussigkeit in seinen Ohren sammelte. Aber hier, am Ende der Welt, gab es keine Schwester, die ihm hatte helfen konnen. Dtui existierte schlie?lich nur in seinem Kopf.
»Was soll’s. Auf nach Vientiane«, sagte sie, und er marschierte los, mitten auf der mit Schlaglochern ubersaten Stra?e, mit einer Geschwindigkeit von ungefahr funf Kilometern in der Stunde. Bis nach Hause waren es noch rund zweihundert Kilometer.
Dtui brauchte Siri dringender denn je. Und das nicht etwa, weil sie vor unlosbaren medizinischen Problemen stand. Nein. Sie brauchte Siri, weil sie mit zwei ganz und gar ratselhaften Fallen konfrontiert war, fur die ihr kein medizinisches Lehrbuch dieser Welt eine Erklarung liefern konnte. In dem ehemals totenstillen Schlafsaal sa? hellwach ein vierjahriges Madchen und brabbelte mit der Stimme einer Siebzigjahrigen vor sich hin. Meej hatte sich ihr Geplapper eine Stunde lang angehort. Die Kleine war Laotin, sprach aber eindeutig Hmong. Wenn man dem Pfleger Glauben schenken durfte, erzahlte sie die Lebensgeschichte der alten Frau. Es schien, als lausche man einer Tonbandaufnahme all dessen, was die Frau jemals gesagt hatte, angefangen um 1940 – und zwar im schnellen Vorlauf, sodass man kaum ein Wort verstand. Dtui hatte keinen Grund, an Meejs Einschatzung zu zweifeln.
Und als sei das noch nicht verwirrend genug, war da auch noch der Antrag des Genossen Lit. Er lag ihr schwer auf der Seele, wie der Kadaver eines wohlgenahrten Faultiers. Obwohl die unterbezahlten Kollegen, die bei Kilometer 8 bis zum Umfallen schufteten, inzwischen ihre gro?te Hochachtung genossen, hatte sie nicht die Absicht, mit ihnen uber ihre intimsten Gefuhle zu sprechen. Sie brauchte einen Zyniker. Sie brauchte jemanden, der ihr den Kopf zurechtruckte. Genosse Lit war gro? und schlaksig, aber durchaus eine Umarmung wert. Er hatte ein freundliches, markantes und – im weitesten Sinne – hubsches Gesicht, neben dem sie gern aufgewacht ware, im Zweifelsfall sogar fur den Rest ihres Lebens.
Allein der Umstand, dass er sich wie ein Rindvieh benommen hatte, bewahrte sie davor, in seine Arme zu sinken und zu floten: »Ja, ja, Liebster. Nimm mich.« Aber konnte nicht auch ein Widerling einen guten Ehemann abgeben? Und wurde sie sich wirklich so sehr verbiegen mussen, um an der Seite dieses hohlen, hirn- und charakterlosen Ekels zu bestehen? Gewiss, wenn sich eine Sau mit einem Koter paaren konnte, konnte auch Dtui zum braven Parteiweibchen mutieren: zur Gattin eines Mannes, der einen offiziellen Eheschlie?ungsantrag stellte,
Siri war in der Prasidentenhohle und sa? im Schneidersitz im Versteck des Kubaners. An der Geschichte von der Beziehung zwischen Isandro und der kleinen Vietnamesin war irgendetwas faul. Wenn die beiden Kubaner tatsachlich uber die magische Fahigkeit verfugten, ihren Vater umzubringen, menschliche Foten in Affenbabys und Kehlkopfe in Pfirsichkerne zu verwandeln, hatten sie das bettlagerige Madchen doch blo? zu verzaubern brauchen, um sich an ihm zu vergehen. Warum also hatte Isandro die Demutigung und den Gesichtsverlust auf sich nehmen und ihren Vater um die Erlaubnis bitten sollen, ihr den Hof zu machen? Die Geruchte des Oberstabsfeldwebels klangen wenig plausibel.
Siri kam zu dem Schluss, dass er Odons Sachen ein zweites Mal durchforsten musste, Spinnen hin oder her. Er musste sich vergewissern, dass er auch nichts vergessen hatte. Er durchwuhlte den Rucksack, sah unter der Strohmatte nach und arbeitete sich durch ein Regalbrett voller Bucher, deren Titel ihm nichts sagten. Aber er fand nichts – nichts, was darauf hingedeutet hatte, dass zwischen Hong Lan, der rosa Orchidee, und den Kubanern auch nur der leiseste Zusammenhang bestand. Dennoch waren die beiden Manner zuruckgekommen. Warum? Sie hatten ihren Ruckflug in die Heimat verfallen lassen und sich als erkennbare Au?enseiter in einer feindseligen Umgebung freiwillig in eine gefahrliche Situation begeben. Wozu?
Siri war ein Meister in der Kunst der Selbstbefragung. Er brauchte dazu weiter nichts als eine zweite Stimme, die seine Fragen beantworten konnte. Doch immer, wenn er einen dienstbaren Geist am dringendsten benotigte, war gerade keiner zur Stelle. Der Geist Odons, so er denn uberhaupt noch in ihm steckte, war ihm bislang keine gro?e Hilfe gewesen. Tanzen und Springen brachte sie in diesem Fall verdammt noch mal nicht weiter. Siri brauchte keinen Rhythmus; er brauchte Losungen.
Er lie? den Lichtstrahl seiner Taschenlampe zum x-ten Mal durch die Hohle wandern, uber die verstreuten Kleider, die Feuerstelle, das Bett, den gro?en Teakholzschrank, der bedrohlich an der Wand stand. Er dachte zehn Jahre zuruck, an seinen kurzen Besuch in dieser Hohle. Wozu hatte dieser Raum damals gedient? Er schloss die Augen und ging den Weg, den er damals gegangen war, in Gedanken ein zweites Mal. Eine Mutter und ihr Sohn aus China waren zu Besuch gewesen. Der Junge hatte sich unterwegs eine Hepatitis eingefangen. Es war nichts Ernstes. Er war ein kraftiger Bursche, und wenn er sich ein wenig schonte und sich entsprechend ernahrte, war er im Handumdrehen wieder auf dem Damm.
Er hatte in einem der Sperrholzverschlage gelegen. Das Wohnzimmer befand sich gleich nebenan, und die Schlafzimmer … genau. Dieser Kleiderschrank hatte damals im Schlafzimmer des Prasidenten gestanden, am anderen Ende des Komplexes. Das hier waren die Geschaftsraume gewesen, wo Konferenzen abgehalten und Schlachtplane geschmiedet wurden. Wie, um alles in der Welt, kam jemand auf die abstruse Idee, einen schweren alten Schrank quer durch die gesamte Hohle zu schleifen? Das elende Trumm war offenbar so schwer, dass man es gar nicht erst in das neue Haus hinubergeschleppt, sondern einfach hier zuruckgelassen hatte. Aber warum stand es dann nicht an seinem angestammten Platz? Die Kubaner mussten es selbst hierhergeschafft haben. Nur weshalb?
Er stand auf und trat vor den Schrank. Das Innenleben hatte er bereits einer genauen Uberprufung unterzogen, ohne Erfolg. Er schloss die Turen und inspizierte die Vorderseite im Schein seiner Lampe. Nichts. Auch die rechte Seite lie? nichts Ungewohnliches erkennen. Er wollte eben auf die linke Seite wechseln, als er plotzlich auf etwas trat und ins Straucheln geriet; fast ware er gesturzt. Das Etwas stie? mit einem Klingeln gegen die Wand und rollte zuruck in seine Richtung. Es dauerte eine Weile, bis er sich von dem Schreck erholt hatte und wieder einigerma?en Luft bekam.
Er richtete seine Taschenlampe auf den Boden. Und sah, worauf er ausgerutscht war. Der Fu?boden war mit Kugellagern ubersat, wie sie in Lastwagen- oder Traktorradern zum Einsatz kamen. Sie lagen zu Hunderten auf dem Fu?boden verstreut. Bei seinem letzten Besuch hatte er sie nicht bemerkt. Aber damals war er ja auch