Bestimmtem ihr Kommen an. Irgendwo im Nirgendwo schulterte ein junger Mann eine Gitarre. Die Buffel, an denen Siri vorbeikam, hoben ohne Ausnahme den Kopf und horten auf zu kauen, um den Doktor voruberfahren zu sehen. Der beschauliche Friede ringsumher warmte ihm das Herz. Er lachelte frohlich in sich hinein, und seine Schultern zuckten im Takt einer unhorbaren Disconummer.

Nach einer Weile kam er auf eine frisch asphaltierte Stra?e, die an einem Fluss urplotzlich endete. Etwa funf Meter weiter rechts befand sich eine Brucke. Um dorthin zu gelangen, musste er ein Stuck querfeldein fahren. Am anderen Ufer fuhrte ein schmaler Feldweg von der Brucke zuruck zur Stra?e. Da die Brucke stabil und die Stra?e eben und schnurgerade war, machte diese Unstimmigkeit ihn stutzig. Er stieg aus und fragte den Besitzer der erstbesten Hutte, der ihm erklarte, dass in der Provinz Houaphan die Sowjets fur den Bruckenbau zustandig seien. Die Stra?en wiederum waren Sache der Vietnamesen. Die beiden konnten sich nicht riechen. Die Vietnamesen waren nicht die schnellsten Stra?enbauer, die Russen hingegen hatten ihre Brucken zum vertraglich vereinbarten Zeitpunkt fertig. Wurden die Stra?en lediglich ausgebaut, war das in der Regel kein Problem. Wenn die vietnamesischen Ingenieure beim Bau einer neuen Stra?e jedoch auf einen Fluss stie?en, mussten sie bisweilen feststellen, dass sie die sowjetische Brucke um ein paar Meter verfehlt hatten. Die Vietnamesen weigerten sich, die Stra?e zu verlegen; die Russen hatten nicht die Absicht, die Brucke zu verschieben. Oder um es mit den weisen Worten Civilais zu sagen: »Dem Monch steht es nicht zu, ein Almosen zuruckzugeben, auch wenn es ihm nicht gefallt.«

Die vietnamesische Infanterie-Einheit hatte auf Schilder und Wegweiser verzichtet, und so war es bereits Nachmittag, als Siri den Stutzpunkt schlie?lich erreichte. Der laotische Wachter an der Abzweigung schwor beim Grab seiner Gro?mutter, dass sich am Ende des von ihm bewachten Feldwegs nichts als Baume befanden. Da die Zentralkommandantur in Xam Neua Siri sowohl die Nummer der Einheit als auch die exakte Kilometermarke ubermittelt hatte, ignorierte er den Mann und dessen geschultertes Gewehr und bog in den Feldweg ein. Wer sollte schon einen alten Arzt erschie?en, weil der in ein Armeelager einzudringen versuchte?

Nach etwa anderthalb Kilometern fand er das Camp: eine wohlgeordnete Ansammlung von Zelten, die eindeutig mehr als eine Einheit beherbergten. An einer rotwei? gewandeten Schranke stoppte ihn ein uniformierter Wachposten. Der Soldat verlangte mit scharfer Stimme Siris Ausweis und bellte die Personalien des Doktors in sein Walkie-Talkie. Wahrend er wartete, lie? Siri den Blick uber das Lager schweifen: auslandische Truppen in seiner geliebten Heimat. Er war emport. Der Krieg war vorbei, gewonnen. Was also suchten die Vietnamesen noch hier? Er hatte seine Ausbildung in Vietnam absolviert und jahrzehntelang dort praktiziert. Zugegeben, Laos hatte eine Dankesschuld zu begleichen. Ohne die Hilfe der Vietnamesen hatten sie weder die Royalisten besiegt, noch waren die jetzigen Machthaber an der Regierung. Aber irgendwann musste Schluss sein!

Uber Funk kam Antwort. Der Wachposten hielt sich das knatternde Walkie-Talkie ans Ohr, dann zeigte er auf das Hauptzelt, hob die Schranke und lie? Siri passieren. Wahrend der Laster die kleine Anhohe erklomm, auf der die Auslander Quartier genommen hatten, sah Siri, dass hier und da massive Gebaude errichtet wurden. Kaum war er auf der Kiesflache vor dem Offizierszelt zum Stehen gekommen, eilte auch schon ein Hauptmann auf ihn zu. Siri erkannte ihn sofort.

»Dr. Siri.« Der Soldat lachelte und schuttelte ihm herzlich die Hand.

Siris Vietnamesisch war ein wenig eingerostet. »Hauptmann Vo Chi. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind. Wie ist das werte Befinden?«

»Hervorragend, Ihren Bemuhungen sei Dank, mein lieber Freund. Ich dachte, Sie lagen schon seit geraumer Zeit unter der Erde.«

»Ihr Verdacht ist nicht ganz unbegrundet, Genosse. Ich habe in der Tat herzhaft ins Gras gebissen und mir die Radieschen ein Weilchen von unten angesehen. Aber dann plotzlich legte sich ein Lasso um meinen Hals, und ich wurde schnurstracks ins schnode Dasein zuruckgezerrt.«

Im Messzelt nahmen sie einen Imbiss zu sich und erzahlten sich Geschichten aus der Zeit, als der Doktor Vo Chis Division als Feldarzt begleitet hatte. Doch Siri war nicht hierhergekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Bevor er sich auf die lange Heimfahrt machte, musste er jede Menge Informationen sammeln. Siri nannte Vo den Namen des Mannes, fur den er sich interessierte. Vo war dem Oberst zwar nie begegnet, kannte aber einen alten Oberstabsfeldwebel, der im Krieg jahrelang unter dem Kommandeur gedient hatte. Vo beauftragte einen Offizier, den Mann zu suchen und ins Messzelt zu bringen.

Wahrend Siri sich nicht an Oberstabsfeldwebel Giaps Gesicht entsinnen konnte, erkannte der alte Kampe den Doktor auf Anhieb wieder. Er wusste sogar noch, wie er hie?. Siri hatte so viele Schlachten, so viele Einheiten, so viele Versetzungen und nicht zuletzt so viele Manner hinter sich, dass er sich unmoglich an jeden Einzelnen erinnern konnte. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

»Wie ist der Oberst ums Leben gekommen?«

»Er geriet in einen Hinterhalt der Hmong, Doktor.« Der Oberstabsfeldwebel antwortete prompt, nicht ohne seinem Hauptmann einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Siri fragte sich, ob es sich um die offizielle Lesart des Ablebens von Oberst Ha Hung handelte.

»Wenn ich recht verstehe«, fuhr Siri fort, »nahm der Oberst seine Familie mit, als er nach Vieng Xai versetzt wurde.«

Mit der Beantwortung dieser zweiten Frage schien der Oberstabsfeldwebel weitaus weniger Schwierigkeiten zu haben. »Ja, Genosse. Seine Frau und seine Tochter.«

»Sonst niemanden?«

»Nein. Au?er ihrem moi-Dienstmadchen, naturlich.« Moi war die abwertende Bezeichnung fur die Montagnards. Die Bergvolker waren fur die Vietnamesen das, was die Hmong fur die Laoten waren: eine unterdruckte, ungeliebte Minderheit. Aus dem Tonfall des Oberstabsfeldwebels sprachen Hohn und Verachtung.

»Kannten Sie die Frau und die Tochter?«, fragte Siri.

»Aber ja. Selbstverstandlich. Da es sich um einen unbefristeten Posten handelte, durften wir unsere Familien mitnehmen. Meine bessere Halfte war damals auch hier.«

»Wie war die Tochter?«

»Bildschon. Sie hie? Hong Lan – rosa Orchidee. Sie musste damals so um die … siebzehn gewesen sein, wurde ich sagen. Hinter ihr waren mehr Jungs her als hinter den Hmong. Knusprig, die Kleine.«

Siris Fingerspitzen kribbelten. »Und hat sie sich jemand geangelt?«

Wieder blickte Giap zu seinem Hauptmann. »Der Oberst und seine Frau waren sehr strenge Eltern. Vor allem der Oberst hutete die Kleine wie seinen Augapfel. Er machte von Anfang an klar, dass er jeden Mann erschie?en wurde, der ihr zu nahe kam. Und wenn er wutend wurde, konnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Er hat mir mehr als einmal einen gehorigen Schrecken eingejagt.«

»Meinen Sie, er hatte seine Drohung wahrgemacht und tatsachlich jeden erschossen, der sich ihr naherte?«

»Woher soll ich das wissen, Doktor?« Er wandte sich hilflos lachelnd an den Hauptmann, doch der verzog keine Miene.

»Richtig«, sagte Siri. »Naturlich. Dann hat Ihres Wissens also niemand offiziell beim Oberst um sie angehalten?«

»Das hatte wohl kaum jemand gewagt, au?er vielleicht …«

»Wer?«

»Nun ja, es gab Geruchte. Aber Sie sind vermutlich nicht hierhergekommen, um sich Klatsch und Tratsch anzuhoren, oder, Doktor?«

»In der Not frisst der Teufel Fliegen.«

»Na schon. Das Madchen war eine Zeitlang schwer krank. Sehr schwer krank. Irgendein Frauenleiden, wenn mich nicht alles tauscht. Sie lag fast zwei Monate im Krankenhaus. Ein vietnamesischer Arzt operierte sie. Auslandische Arzte lie? der Oberst nicht in ihre N- … Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht beleidigen, Doktor.«

»Schon gut. Man hat schlie?lich nicht alle Tage das Vergnugen, im eigenen Land als Auslander bezeichnet zu werden. Dann lag sie also im Krankenhaus bei Kilometer 8?«

»Genau. Und sie kam durch, zur gro?en Erleichterung ihrer Eltern. Aber bevor die Rekonsalves-, Rekonlasze- … bevor sie sich nicht vollstandig erholt hatte, konnte sie nicht entlassen werden. Und wahrend sie so da oben in den Hohlen lag – und hier kommen die Geruchte ins Spiel -, freundete sie sich mit einem der Pfleger an. Kubaner. Keine Ahnung, ob er es ihr schon im Krankenhaus besorgt hat oder …«

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