beeindrucken konnen.

Diese Gedanken schossen Siri durch den heftig wippenden Kopf, als er sich der Quelle des Larms naherte. Er redete sich ein, es musse sich um eine Probe handeln. Vermutlich stellten sie die Lautsprecheranlage auf die Saalakustik ein und hatten nur Discomusik auf Band. Es war eine logische Erklarung, und er konnte sich eventuell dazu durchringen, ihnen zu verzeihen. Er hatte die letzten drei Jahrzehnte in Gesellschaft von Soldaten zugebracht, fur die Gehorsam und Befehlserfullung samtliche sozialen und moralischen Bedenken au?er Kraft setzten.

Da die dichten Stachelbeerbusche, die einst zur Tarnung des Hohleneingangs gedient hatten, beseitigt worden waren, gelangte Siri ungehindert bis vor die Offnung in der Felswand. Nun musste er nur noch zwei, drei hohe Steinstufen erklimmen, dann schlie?lich stand er an der Treppe, die in den Saal hinunterfuhrte. Von hier oben konnte er bis zur Buhne sehen. Ihm blieb die Luft weg. Er plumpste schwerfallig auf eine Stufe. Eine Sekunde spater, und er ware aus den Pantinen gekippt. Der Konzertsaal war voll – berstend voll -, ein brodelnder Hexenkessel, ein wildes Getummel und Gewimmel. Er hatte keine Ahnung, wo die Musik herkam. Nirgends waren ein Discjockey oder gar Lautsprecher zu sehen, trotzdem ging ihm der stampfende Beat durch Mark und Bein. Er schlug mit dem Fu? den Takt und lie? den Blick uber die wogende Menge schweifen. Das waren keine schicken jungen Leute in Schlaghosen und breitkragigen Hemden. Sondern Menschen wie du und ich. Bauern, Mutter, die ihre Babys auf dem Rucken trugen, alte Manner. Die einzigen Teenager, die er ausmachen konnte, steckten in fleckigen Uniformen und machten ein verwirrtes Gesicht, als hatten sie sich versehentlich hierher verirrt. Selten hatte sich in Houaphan ein so gemischtes Publikum an einem Ort versammelt und mit solcher Begeisterung gefeiert.

Abgesehen von seiner Liebe zum Jazz interessierte Siri sich nicht fur amerikanische Musik und hatte nicht einmal die einfachsten Fragen zu Genres und Geschichte beantworten konnen. Doch entweder von Dtui oder einer der anderen Schwestern in der Mahosot-Klinik hatte er irgendwann einmal das Wort Disco gehort und sich verwundert gefragt, wie es durch die Maschen des staatlich verordneten Antiamerikanismus hatte schlupfen konnen. Seit er wusste, wie man die Musik nannte, horte er sie immer haufiger im thailandischen Radio. Sie war auf dem Schwarzmarkt fur beschlagnahmte US-Waren erhaltlich. Laotische Tanzkapellen schmuggelten die eine oder andere Nummer in ihr Repertoire und verkauften sie den Regierungsspitzeln als traditionelle Stammesmusik. Und jetzt horte er sie hier, in der Konzerthohle von Houaphan.

Das Blut war in Siris Beine zuruckgekehrt, und seine Knie zuckten wie Scheibenwischer im Rhythmus der Musik. Seine anfangliche Panik hatte sich in Euphorie verwandelt. Er hatte sofort erkannt, was diese begeisterten Partyganger einte. Ihnen allen war ein Leben ohne Angst verwehrt geblieben. Sie waren die unschuldigen Opfer eines endlosen Krieges. Sie alle wollten weiter nichts als leben. Leider hatten sie das Pech, in einer Provinz geboren worden zu sein, die sich zu einem Spielball der Politik entwickelt hatte. Aus Grunden, die sie nicht recht begriffen, waren sie der Feind, denn wozu sind Kriege gut, wenn niemand leidet? Die Tanzer in der Disco-Hohle hatten allesamt gelitten, die einen mehr, die anderen weniger, bis ihr Tod dem Leid ein Ende setzte. Einen spirituellen Schwof dieser Gro?enordnung hatte Siri noch nie erlebt. Er war ein Neuling auf diesem Gebiet. Zwar hatte er schon des Ofteren Stimmen gehort, aber ein solcher Anblick hatte sich ihm noch nie geboten. Sein personlicher Rekord stand bei drei Geistern.

Noch vor einer Woche hatte er an dieser Stelle lachelnd den Heimweg angetreten. Wozu hatte er auch bleiben sollen? Heute jedoch ertappte er sich dabei, wie er die Treppe hinunterstieg, um sich unter die Tanzenden zu mischen. Er wusste, dass ein rhythmusverliebter Geist in seinem Korper wohnte, und wie konnte er dem armen Mann seinen letzten Tanz abschlagen? Niemand nahm Ansto? an dem alten Arzt. Niemand schenkte ihm Beachtung. Fast so, als ware er als Einziger nicht da. Er bahnte sich hoflich und jeden Korperkontakt vermeidend einen Weg durch die Menge und sprang und hupfte so frohlich und ausgelassen wie noch nie.

Nach einer halben Stunde tanzte er noch immer. Er war erschopft, konnte aber einfach nicht aufhoren. Er kannte die menschliche Anatomie genau und wusste, weshalb ihm welcher Muskel wehtat, aber heute Abend war er nichts weiter als ein Gefa?. Seine schwachelnde Lunge rasselte wie eine bulgarische Klimaanlage. Die Musik wurde immer lauter und drohnte ihm in den Ohren. Die Menge scharte sich um ihn. Plotzlich war er wie geblendet. Wie aus dem Nichts richtete sich ein Scheinwerfer auf ihn – Licht aus – Spot an – der Diskothekenkonig – die Menge weicht zuruck – er legt ein kesses Solo aufs Parkett – das Mikrofon: »He!«

»He«, sagte er.

»He, Genosse.«

»He, Genosse«, sagte er.

»Was machen Sie denn da?«

Er sagte: »Wa-…« Siri starrte angestrengt in das grelle Scheinwerferlicht. Jetzt war es nur noch eine Lampe. Sie lag in der Hand eines Mannes mit einer viel zu gro?en Uniformjacke und einer Strickmutze auf dem Kopf. Er leuchtete Siri mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Der Doktor blickte um sich. Die kalte Kalksteinhohle war verlassen.

»Sie haben hier nichts verloren. Was treiben Sie denn hier, so ganz allein im Dunkeln?«, fragte der alte Wachmann. »Sie sind doch nicht etwa betrunken?«

Siri stutzte die Hande auf die Knie und rang nach Atem. Sein Korper hatte soeben eine Bergetappe der Tour de France hinter sich gebracht. Er wusste, dass er morgen fruh nicht aus dem Bett kommen wurde. Doch kaum bekam er wieder etwas Luft, fing er schallend an zu lachen. Der Wachmann hielt Siri fur verruckt und trat einen Schritt zuruck.

»Verzeihung, Genosse«, sagte Siri schlie?lich. »Aber ich habe fur das Konzert nachste Woche geprobt.«

»Was Sie nicht sagen. Dass die einen alten Mann wie Sie noch auf die Buhne zerren. Die sollten sich was schamen.«

»Ich bin sehr viel junger, als ich aussehe, Bruder.«

»Sie mussen wissen, was Sie tun. Aber bleiben Sie nicht die ganze Nacht hier.«

»Keine Sorge. Danke.«

Der alte Wachmann lie? von ihm ab und folgte dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe in einen ominosen Tunnel am anderen Ende des Auditoriums. Siri ruhrte sich nicht von der Stelle. Er stand inmitten der riesigen, menschenleeren Diskothek, und obwohl er sich reichlich albern vorkam, fuhlte er sich erfrischt und voller Energie.

11

EIN HOCHANSTANDIGES ANGEBOT

Herr Geung sa? seit achtzehn Stunden auf dem Baum. Er hatte gern auf seine Armbanduhr geschaut, doch die lag gut versteckt unter einer losen Fliese unter seinem Bett in der Klinik. Die achtzehn Stunden waren also eine blo?e Schatzung. Es hatten ebenso gut drei Stunden sein konnen oder eine Woche. Er hatte ausreichend zu essen und zu trinken, aber er war schrecklich mude und wusste noch immer nicht, wie er hier oben schlafen sollte, ohne herunterzufallen. Obwohl er den Verband streng nach Anweisung gewechselt hatte und die Wunde nicht entzundet schien, schmerzte seine Schulter. Zwar war er inzwischen so etwas wie ein Experte fur Wunden jeder Art, doch erst jetzt wurde ihm klar, wie weh die Dinger taten. Die Kletterei hatte ein Ubriges getan. Es erfullte ihn mit Stolz, dass er es mit einem Arm bis hier herauf geschafft hatte. Er war noch nie ein gro?er Kletterer gewesen, andererseits hatte er sich auch noch nie vor einer Raubkatze in Sicherheit bringen mussen.

Der Tiger hatte ihn nicht auf den Baum gejagt, jedenfalls nicht im ublichen Sinne. Er hatte nicht etwa Anlauf genommen und zum Sprung angesetzt, sodass seine Beute gezwungen war, sich in heller Panik auf einen hohen Ast zu fluchten. So war es nicht gewesen. Geung hatte wie schon so oft dagesessen und auf die Sonne gewartet, als er den Tiger am Rande der Lichtung bemerkte. So ein Tier hatte er erst ein einziges Mal gesehen, bei der letzten Neujahrsgala. Der Reaktion des Publikums nach zu urteilen waren Gro?katzen mit Rei?zahnen furchterregende Geschopfe. Am Ende der Vorstellung war er genauso nervos gewesen wie die ubrigen Zuschauer. Angst ist ansteckend, und das ist auch gut so, denn sonst hatte er womoglich versucht, sich dem Tiger zu nahern und Freundschaft mit ihm zu schlie?en. Der Tiger hatte ohne Weiteres angreifen und Herrn Geung bei einem seiner elf Versuche, den Baum zu erklimmen, mit Haut und Haar verschlingen konnen. Aber es war helllichter Tag, und seine Beute war noch nicht schwach genug. Er hatte sie in die Enge getrieben, und fruher oder spater wurden

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