Si-Berge zu umgehen, von denen einige selbst fur Ziegen zu steil waren. Kaum hatte Geung einen von ihnen schnaufend und achzend bezwungen, ragte auch schon der nachste vor ihm auf.

Ferner hatte der Igel ihm nicht gesagt, was er tun sollte, wenn der Himmel bedeckt war, da Geung sich am Lauf der Sonne orientierte. Anfangs machte er einfach Rast, lie? sich nieder und wartete, bis die Wolke sich verzogen hatte. Doch je hoher er kletterte, desto dichter wurden die Wolken, und die Sonne lie? sich immer seltener blicken. Folglich wurden auch die Wartezeiten immer langer, bis er gegen drei Uhr nachmittags schlie?lich festsa?. Er befand sich in einer Zwickmuhle. Er wusste, dass er weitergehen musste, aber nicht, in welche Richtung. Die Hugel sahen alle gleich aus. Und er hatte keinen Schimmer, welchen von ihnen er soeben uberquert hatte. Es gab nichts, woran er sich hatte orientieren konnen. Die Baume sahen alle gleich aus.

Aber all das war ein Klacks gegen Punkt drei. Denn trotz der eifrigen Bemuhungen von allerlei hungrigen Dorfbewohnern, Drogenschmugglern und Pelz- oder Organhandlern wimmelte es in diesen Hugeln nach wie vor von wilden Tieren. Waren sie ihm uber den Weg gelaufen, hatten die meisten vor Herrn Geung vermutlich gro?ere Angst gehabt als er vor ihnen. Doch ein Tigerweibchen, das ihm seit dem Wasserfall nachstellte, hatte keine Angst. Sie musste ihre Jungen durchfuttern, und ihre Suche nach Beute war erfolglos geblieben. Der Mensch, den sie verfolgte, hatte reichlich saftiges Fleisch auf den Rippen und steuerte geradewegs auf ihr Versteck zu. Ganz so als ob sie ihn sich aufs Zimmer bestellt hatte und er nun an ihre Ture klopfen wurde.

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MILLIONEN SPINNEN KONNEN NICHT IRREN

Siri kehrte ins Gastehaus Nr. 1 zuruck. Santiago setzte ihn dort ab und uberschuttete ihn wie ublich mit Worten, die Siri nicht verstand. Siri antwortete gleicherma?en unverstandlich, und sie trennten sich mit einem freundschaftlichen Handedruck und schallendem Gelachter.

Bei Kilometer 8 hatte der Kubaner Dtui und dem Doktor zwingende Indizien dafur prasentiert, dass Isandro und Odon sich als Hobbymagier betatigt hatten. Die Beweislage war erdruckend. In zwei Fallen lie? sich beim besten Willen keine andere Erklarung finden. Der erste betraf eine Vietnamesin, die mit den vietnamesischen Ingenieuren nach Vieng Xai gekommen war. Sie kochte fur sie und erledigte ihre Wasche. Wie sich bald herausstellte, war sie eine unverbesserliche Rassistin. In ihren Augen standen Schwarze auf der Evolutionsleiter gerade einmal eine Sprosse hoher als Primaten, und mit diesen Ansichten hielt sie nicht hinterm Berg. Immer, wenn sie den beiden Kubanern auf dem Krankenhausgelande begegnete, beschimpfte sie die Manner lauthals und mit stolzgeschwellter Brust als Affen. Da sie die beiden fur zu dumm hielt, ihre Sprache zu verstehen, begleitete sie ihre Schmahungen mit eindeutigen Gesten.

Sie war eine wenig attraktive Frau von abscheulichem Charakter, doch einsame Manner in einem fremden Land haben die unselige Neigung, derlei Schwachen geflissentlich zu ubersehen. Und so begab es sich, dass die Frau schwanger wurde. Sie verkundete, das Wunder der unbefleckten Empfangnis sei ihr widerfahren, und da sich keiner der Manner freiwillig zu seiner Vaterschaft bekannte, glaubten die Einheimischen ihr die Geschichte. Sie wussten, dass ihr das Gelegenheit gab, einen liebestollen Soldaten ubers Ohr zu hauen und zur Heirat zu zwingen. Trotzdem schwor sie bis zuletzt, sie sei noch Jungfrau.

An dem Morgen, als sie ins Krankenhaus gebracht wurde, war Santiago nicht zugegen. Sie war im siebten Monat, und etwas Furchterliches musste geschehen sein. Der junge laotische Chirurg, der in jener Nacht Dienst tat, glaubte die Blutung nur stillen zu konnen, indem er den Fotus entfernte. Die Entscheidung lag bei ihm, und niemand zweifelte an seinem Urteil. Aber die Frau starb auf dem OP-Tisch. Der laotische Arzt war untrostlich. Als Santiago vormittags zum Dienst erschien, war der junge Mann volltrunken und redete wirres Zeug. Der alte Arzt versuchte ihn zu beruhigen, ohne Erfolg. Ihm wurde klar, dass es hier um weitaus mehr ging als um die blo?e Trauer eines Arztes, der einen Patienten verloren hatte. Da musste etwas anderes dahinterstecken. Santiago sprach mit der Oberschwester. Sie sagte, der Chirurg habe sie aus dem OP-Saal geschickt, bevor sie einen Blick auf den Fotus habe werfen konnen. Dann habe er ihn eigenhandig in die Totenhohle gebracht, wo er noch am selben Abend eingeaschert werden sollte. Santiago war von der Geschichte so fasziniert, dass er zur Hohle hinaufstieg, wo er einen kleinen Leinensack fand, in dem er das Kind der Vietnamesin vermutete. Doch was er darin entdeckte, war nicht menschlich. Der Sack enthielt den unfertigen Fotus eines Affen.

Sowohl Siri als auch Dtui hielten dieses Schauermarchen fur frei erfunden, doch der Erzahler schien glaubwurdig und noch dazu erstaunlich ruhig. Seine zweite Geschichte war nicht minder seltsam. Ein Parteikader aus Havanna war eigens angereist, um sich von der korrekten Verwendung kubanischer Hilfsgelder bei einem der wenigen humanitaren Uberseeprojekte seines Landes zu uberzeugen. Er wollte eine Woche bleiben, die Bucher prufen und danach die Heimreise antreten. Eigentlich nichts Besonderes, doch der Kubaner war ein aufmerksamer Mann und kannte sich mit den Palo-Brauchen recht gut aus. Gleichwohl war er der Kommunistischen Partei Kubas verpflichtet und hatte keine Lust, seine Zeit mit Magie zu vertandeln. Die Partei hatte ihm beigebracht, der Schamanismus sei weiter nichts als Opium fur das Volk, das besser daran tate, sich am Sozialismus zu berauschen.

In Vieng Xai hatte der Buchhalter etwas gesehen, das ihn mit gro?er Sorge erfullte, weshalb er beschloss, Santiago darauf anzusprechen. Sie verabredeten sich fur acht Uhr abends. Eine Stunde vor dieser Zeit erschien Isandro in Santiagos Buro und erklarte ihm, der Rechnungsprufer sei urplotzlich schwer erkrankt, er halte sich den Hals und konne nicht sprechen. Der Direktor eilte ans Bett des Mannes und sah sofort, dass er Todesqualen litt. Sie schafften ihn sogleich in den OP-Saal, wo Santiago einen Luftrohrenschnitt durchfuhrte. Da es keine Anzeichen fur eine Krankheit oder eine Verletzung der Atemwege gab, musste die akute Atemnot des Mannes von starken Schmerzen herruhren. Nach einigen weiteren Explorationsschnitten hatte Santiago die Ursache gefunden. Die Epiglottis des Kubaners hatte sich in Holz verwandelt – genauer gesagt, in eine harte Substanz, die dem Kern eines kleinen Pfirsichs ahnelte. Dem Chirurgen blieb nichts anderes ubrig, als sie zu entfernen. Sie versetzten den Buchhalter in ein Tiefkoma und schickten ihn zuruck nach Havanna. Als sie seine Sachen zusammenpackten, um sie ihm nachzuschicken, fanden sie in seiner Tasche einen Zettel. Darauf standen die Namen der beiden Pfleger, neben die der Mann verschiedene Endoke-Symbole gekritzelt hatte.

Wahrend die Geschichte vom Affenfotus aus zweiter Hand stammte und bis zu einem gewissen Grad aus Spekulationen und Mutma?ungen bestand, hatte Santiago diese bizarre Erscheinung mit eigenen Augen gesehen. Bald darauf hatte er den Altar entdeckt, Isandro und Odon zur Rede gestellt und sie nach Kuba zuruckbeordert.

Siri wollte wissen, warum Santiago keine Angst vor Vergeltung gehabt habe, wo die beiden Manner doch angeblich uber so ungeheure Fahigkeiten verfugten. Der Kubaner verzog den Mund zu einem breiten Grinsen und knopfte sich langsam das Hemd auf. Siri und Dtui staunten nicht schlecht. Unzahlige Talismane baumelten wie die Amtskette eines Burgermeisters auf seiner Brust. Vor ihnen sa? ein angesehener Wissenschaftler, der mit einem Kranz aus Talismanen, getrockneten Bluten, Metallklumpchen, diversen Zahnen und sorgsam platzierten Knoten behangt war. Es war ein Wunder, dass er bei dem Gewicht uberhaupt aufrecht stehen konnte. Siris einsamer wei?er Talisman konnte da nicht mithalten. Santiago bekannte sich offen und ehrlich zu seiner Angst vor den beiden Endoke-Priestern. Siri fand es irgendwie trostlich, dass er nicht der einzige Gelehrte war, der auf Magie zuruckgreifen musste, um am Leben zu bleiben.

Siri ging nach oben auf sein Zimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seit seinem Erlebnis am Altar hatte er ein komisches Gefuhl. Seltsame Geluste regten sich in ihm. Normalerweise entledigte er sich nur ungern seiner Kleidung, aber heute verspurte er das sonderbare Verlangen, sich im Schrankspiegel zu betrachten, was er jahrelang tunlichst vermieden hatte. Er war kein Adonis. Und taugte auch nicht als Modell fur eine Statue. Doch aus irgendeinem Grunde erfullte der Anblick seines drahtigen Korpers ihn mit Stolz. Mit gefarbten Haaren hatte er glatt als funfundsechzig, ach was: sechzig durchgehen konnen. Er wirkte kraftig und, ja, mannlich. Heute hatte er aus irgendeinem Grunde das Gefuhl, mit blo?en Fausten Kokosnusse, wenn nicht gar Steine spalten zu konnen.

Er lie? seine graue Unterhose aus PL-Bestanden zu Boden sinken und stolzierte, aufrecht und splitterfasernackt, im Zimmer auf und ab. Er lie? seinen Penis hin und her baumeln, spannte seinen Bizeps, fletschte die Zahne im …

»Noch Tee?« Die Kuchenfrau stand in der Tur. Er hatte sie nicht kommen horen. Sie hielt eine frische Thermoskanne in der Hand und musterte ihn mitleidig von Kopf bis Fu?, wie einen Demenzkranken, der seine Hose

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