Sie standen inmitten einer unheimlichen Hohle, und allein die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen durchdrangen das Dunkel. Das Gerausch tropfenden Wassers hallte von den Wanden wider, und allmahlich beschlich Dtui bei Santiagos Worten ein mulmiges Gefuhl.

»Kurz und gut«, fasste Siri zusammen, »die beiden Manner, Odon und Isandro, waren den Geruchten zufolge Anhanger dieses Endoke-Kults.«

Dr. Santiago nickte. Zunachst hatte er nichts dagegen unternommen: Er wusste, dass sich die Kubaner, genau wie die Laoten oder Vietnamesen, gern Geschichten ausdachten, um ihre Freunde am Lagerfeuer zu unterhalten oder ihre Kinder am Davonlaufen zu hindern. Doch eines Tages kam eine Krankenschwester zu Dr. Santiago und fuhrte ihn tief in den Berg, in dem sie sich jetzt befanden. Er bat Siri und Dtui, ihm zu folgen, und marschierte furchtlos in die Dunkelheit hinein.

Die Hohlen, die den Karst durchzogen, wurden mit jedem Schritt schmaler. Dtui blickte hilfesuchend zu Siri. Vor wenigen Monaten erst hatten die Ermittlungen in einem entsetzlichen Mordfall die beiden in Tunnels wie diese gefuhrt. Wer einen halbwegs klaren Verstand sein Eigen nannte, hatte solch finstere Gange wohl kaum betreten, bevor dieses Trauma uberwunden war. Siri blieb stehen und sah Dtui an. »Fuhlen Sie sich dem gewachsen?«

»Sie kennen mich doch, Doc. Fur einen guten Lacher bin ich immer zu haben«, lautete ihre wenig uberzeugende Antwort. Sie eilten Dr. Santiago hinterdrein; Siri bildete das Schlusslicht. Zum Gluck brauchten sie nicht allzu tief ins Berginnere vorzudringen. Santiago schien sich in den Hohlen auszukennen, und bald hatten sie ihr Ziel erreicht.

Der Kubaner blieb stehen, trat einen Schritt zuruck und lie? den Lichtstrahl fur sich sprechen. Der Gang endete an einem naturlichen Altar mit einem schmalen Sims. Unleserliche Symbole waren mit Kreide an die Wand geschrieben und mit einem Zierrahmen aus Lehm versehen worden. Siri trat naher und richtete seine Lampe auf das Sims. Er beugte sich vor und schnupperte an dem dunklen Fleck, der die Platte bedeckte und sich in zwei parallel verlaufenden Rinnsalen bis uber die Kante zog.

Santiago bestatigte seinen Verdacht: Es handele sich um Blut, und dies sei ein Opferaltar. Als er ihn das erste Mal gesehen habe, hatten sich weitere Gegenstande hier befunden, unter anderem ein Kessel, doch inzwischen habe sie wohl jemand fortgeschafft.

Dtui zog die Nase kraus. »Zum Gluck ist das Sims zu schmal, um einen Menschen darauf zu opfern.«

Der gemeine Endoke-Zauber, erklarte Santiago, erfordere lediglich Huhner- und Schweineblut.

»Also haben Isandro und Odon zwar Tiere gequalt und den Lebensmittelvorrat geplundert«, meinte Dtui, »waren ansonsten aber ungefahrlich.«

Als sie dem Kubaner ihre Bemerkung ubersetzte, geriet der in Rage. Er nahm Dtuis Hand und erklarte ihr, warum die beiden durchaus gefahrlich waren. Das Blut der Opfertiere sollte die bosen Geister beschworen, den Rachedurst der Kubaner zu stillen. Endoke war eine Magie der Vergeltung. Wer einem Mann die Frau ausspannte, den belegte er mit einem Fluch. Wer den Bruder eines Mannes umbrachte, dem wunschte er Qualen an den Hals, die schlimmer waren als der Tod. Deshalb durfte man unter keinen Umstanden den Zorn eines Endoke-Priesters erregen.

Dtui hatte Santiago eben gefragt, ob er tatsachlich glaube, dass die beiden Manner uber derartige Fahigkeiten verfugten, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie Siri das Amulett unter seinem Hemd umfasste und mit besorgter Miene in den dusteren Tunnel starrte. Wahrenddessen lie? Santiago den Blick ein weiteres Mal uber den Altar schweifen und erklarte ihr, dass die Male, die sie an ihrer Mumie entdeckt hatte, als »die Kratzer« bezeichnet wurden und denen, die diese Magie praktizierten, als Erkennungszeichen dienten. Nach der Entdeckung des Altars habe er die beiden in sein Buro zitiert und sie aufgefordert, ihr Hemd auszuziehen, worauf ihre rituellen Narben zum Vorschein gekommen seien. Da habe er …

»Wie viele?«, fragte Siri. Er hatte seine Stirnlampe abgesetzt und spahte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Dtui machte sich gar nicht erst die Muhe, die Frage zu ubersetzen. »Drei auf jeder Seite, Doc. Werden Sie langsam vergesslich? Ich habe Ihnen doch …« Plotzlich wurde ihr klar, dass die Frage nicht an sie gerichtet war. Siri hatte ihnen uberhaupt nicht zugehort. Sie richtete ihre Lampe in den leeren Tunnel. Das Licht schien Siri aus einer Trance zu rei?en.

»Einer von ihnen ist auf dem Weg hierher«, sagte er zu Dtui.

»Wen meinen Sie mit ›ihnen‹«?

»Die Geister der negritos

Sie hatte auf die Ubersetzung gern verzichtet, aber das war sie Santiago schuldig. Die Nachricht schien den alten Arzt noch starker zu beunruhigen als sie. Er presste sich rucklings gegen den Altar, und seine olivschwarzen Augen schnellten nervos hin und her.

»Und was sollen wir jetzt tun?«, flusterte Dtui.

»Nichts«, antwortete Siri, der noch immer in den leeren Tunnel starrte. »Sie sagt, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«

Dtui wollte lieber gar nicht wissen, wer »sie« war. Sie klammerte sich an Siris Arm und hielt den Atem an. Hinter ihr murmelte der Kubaner halblaut vor sich hin. Sie drehte den Kopf hin und her, ohne Erfolg. Au?er Siri konnte den ungebetenen Besucher niemand sehen.

Er war nackt und schwarz wie die Nacht. Seine Gesichtszuge schienen nicht recht zusammenzupassen. Ungestum sturzte er auf Siri zu und baute sich vor ihm auf. Obwohl es sich vermutlich um den kleineren der beiden Kubaner handelte, musste Siri den Kopf in den Nacken legen, um in die leeren, ausdruckslosen Augen des Mannes sehen zu konnen. Und so standen sie da und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Der Schwarze verlor allmahlich die Geduld und wurde wutend. Er blickte Siri uber die Schulter und starrte mit unverhohlenem Zorn auf Dtui. Er bleckte die Zahne und hob die Faust, als wolle er sie schlagen.

»Dtui, treten Sie zuruck. Stellen Sie sich neben Santiago«, rief Siri.

Sie gehorchte, obwohl sie beim besten Willen keinen Geist sehen konnte. Siri reckte den Hals und breitete die Arme aus. Er ballte die Fauste und fing kaum merklich an zu zittern. Das Zittern wurde immer starker und erinnerte Dtui an das lautlose Vibrieren eines Lastwagenmotors. Als sie und Santiago sahen, wie heftig Siri zitterte, wussten sie, dass eine fremde Kraft im Spiel war. Da sie um seine Sicherheit furchtete, schlang Dtui von hinten die Arme um den Doktor. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht zur Ruhe bringen.

Da plotzlich erschlaffte er in ihren Armen, und sie lie? ihn zu Boden sinken. Einige Sekunden lang war alles still und stumm. Dtui hielt Siri die Hand vor den Mund, spurte aber keinen Atem. Da schlug er, ebenso plotzlich wie er zusammengebrochen war, die Augen auf und lachelte sie freundlich an.

»Schwester Dtui, ich wurde es sehr begru?en, wenn Sie dem Drang, sich mir an den Hals zu werfen, kunftig widerstehen konnten.«

»Ich habe nun mal eine Schwache fur bibbernde Manner«, sagte sie. Santiago war kreidebleich; er trat zu ihnen, um seinen alten Freund zu untersuchen. Er fuhlte erst Siri und dann sich den Puls. Siri sah aus, als ob er sich geprugelt hatte. Sein Gesicht war mit ratselhaften blauen Flecken ubersat, die sich scharf gegen seine leichenblasse Haut abhoben. Dann kehrte seine Kraft nach und nach zuruck, und die blauen Flecken verschwanden vor ihren Augen.

»Das nenne ich eine wundersame Genesung. Offenbar ist doch noch nicht aller Tage Abend, Dr. Siri«, sagte sie.

»Das alles tut mir aufrichtig leid.«

»Sie haben etwas gesehen, nicht?«

»Ja, in der Tat.«

»Was hat es gesagt?«

»Nichts.«

»Aber es hat etwas mit Ihnen angestellt.«

»Dtui, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe das dumpfe Gefuhl, dass einer unserer kubanischen Freunde sich in mir hauslich eingerichtet hat.«

Das ubersetzte sie wohlweislich nicht.

Drei Dinge hatte der Igel unerwahnt gelassen, als er Herrn Geung auf direktem Wege nach Vientiane geschickt hatte. Erstens, dass die Stra?e diesen gewaltigen Schlenker nur machte, um die Auslaufer der Kuang-

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