»Sie meinen, ich habe das notige Feingefuhl vermissen lassen?«

»Ich sage das nur ungern, aber Sie scheinen mir ein treuer Anhanger der Knuppel-aus-dem-Sack-Methode zu sein. Lassen Sie es kunftig etwas ruhiger angehen, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein.«

»War Schwester Dtui verargert? Ist sie deshalb nicht hier?«

»Dtui hat ein weitaus dickeres Fell, als Sie glauben. Nein, sie hilft bei Kilometer 8 aus, bis die kubanischen Arzte eintreffen.«

»Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«

Siri war erstaunt. »Ich dachte, Sie konnten sie nicht leiden.«

»Im Gegenteil, Doktor. Ich war von Anfang an mehr als beeindruckt. Zugegeben, es mangelt ihr an Disziplin, aber …«

Siri wartete darauf, dass auf das »aber« etwas folgen wurde, aber es blieb folgenlos. »Ich werde es ihr ausrichten, wenn ich sie heute Nachmittag sehe.«

»Sie fahren hinaus zu Kilometer 8?«

»Mit Dr. Santiago. Ich mochte mir das Quartier der Kubaner ansehen und mich ein wenig umhoren.«

»Und wenn Sie etwas Neues in Erfahrung bringen, geben Sie mir umgehend Bescheid?«

»Selbstverstandlich.«

»Die Zentralregierung war alles andere als erfreut, als sie horte, dass es sich bei dem Opfer eventuell um einen Kubaner handelt. Die kubanische Delegation mochte den Fall so schnell wie moglich klaren. Zu dem Konzert wird auch ein Politburomitglied aus Havanna anreisen. Bis dahin sahe ich den Tater gern hinter Gittern. Am besten schaue ich heute Abend noch einmal vorbei, dann konnen Sie mir berichten, was Sie herausgefunden haben.«

»Eigentlich wollte ich uber Nacht dortbleiben.«

»Warum?«

»Ach, ich wollte Schwester Dtui ein wenig zur Hand gehen, au?erdem kann ich dort vielleicht endlich mal wieder ruhig schlafen. Seit ich hier bin, werde ich jede Nacht von dieser verfluchten Diskothek geweckt.«

Lit lachte. »Doktor, wir sind in Vieng Xai.«

»Und?«

»Und seit die Parteifuhrung nach Vientiane umgezogen ist, schwingt hier niemand mehr das Tanzbein. Darum ist das Konzert nachste Woche ja so ein Gro?ereignis.«

»Genosse Lit. Ich hore die Musik. Ich spure die Vibrationen der Lautsprecher.«

»Vielleicht ist es ein Radio oder Plattenspieler. Was fur Musik ist es denn?«

»Dieser nervtotende amerikanische Mist. Zu dem sie in den Nachtclubs der Hotels fruher herumgehopst sind.«

»Ich werde mich darum kummern, Doktor. Wir wollen schlie?lich nicht, dass unsere Jugend sich von dekadentem Westpop korrumpieren lasst. Aber glauben Sie mir, Dr. Siri, in Vieng Xai hat es noch nie eine Diskothek gegeben, und wenn es nach mir geht, wird das auch so bleiben.«

Wie es sich fur einen tollkuhnen Helden gehort, hielt Dr. Santiago mit quietschenden Bremsen vor Kilometer 8 und entstieg seinem gelben Jeep in eine dichte Staubwolke gehullt. Die erschopften Schwestern und Pfleger kamen aus dem Haus und nahmen ihn mit einem Seufzer der Erleichterung in Empfang. Nur Dtui kannte den kleinen wei?haarigen Mann auf dem Beifahrersitz. Wahrend sich das ubrige Personal um Santiago scharte, schlenderte sie zu Dr. Siri.

Sie sah reichlich mitgenommen aus. »Na, wie lauft’s, Schwester?«, fragte er lachelnd.

Sie stie? ein verzweifeltes Lachen hervor. »Seit wie vielen Jahren machen Sie das schon?«

Siri kletterte aus dem Jeep und wischte sich mit einem alten Handtuch den Staub aus dem Gesicht. »Ab dem siebzehnten Jahr wird es allmahlich leichter.«

»Heute ist mein zweiter Tag, und ich bin ein Wrack.«

Auf dem Weg in die Station fasste Siri die Ereignisse der vergangenen beiden Tage kurz zusammen. »Santiago ist sich anscheinend ziemlich sicher, dass es sich bei dem Toten um Odon, den kleineren der beiden Pfleger, handelt.«

»Haben Sie ihn nach den parallelen Narben gefragt?«

»Ich habe sie ihm gezeigt, und er machte ein – wie soll ich sagen? – nicht direkt angstliches, aber doch recht finsteres Gesicht. Sie durfen nicht vergessen, dass wir uns nicht verstandigen konnen, darum freue ich mich schon auf Ihre Ubersetzung. Und jetzt frisch ans Werk. Was liegt an?«

Siri und Santiago waren ein erstklassiges Gespann. Dtui folgte ihnen auf ihrem Rundgang und assistierte ihnen bei vier Operationen. Bei ihnen sah alles so leicht, so einfach aus. Gegen acht waren samtliche Patienten versorgt, und das Personal sa? um einen gro?en Tisch und a? gebratenen Lemur mit Klebreis. Da Santiago uber den Mord erst sprechen wollte, wenn die drei allein waren, erzahlte Dtui ihnen einstweilen die Geschichte von Frau Wunderlich. Die beiden Chirurgen fanden den Fall so faszinierend, dass sie in Frau Duanings Zimmer gingen, kaum dass sie den letzten Bissen verschlungen hatten. Der Anblick der totenbleichen alten Dame betrubte Dtui uber die Ma?en. Sie sprach noch immer mit geliehener Stimme, doch da sie kaum Luft bekam, brachte sie die Worte nur schwer uber die Lippen. Um uberhaupt etwas verstehen zu konnen, mussten sich die drei uber sie beugen. Ihr Atem stank nach Faulnis und Zerfall.

Santiago wollte wissen, was sie sagte.

»Sie sagt: ›Bald ist’s zu spat‹«, ubersetzte Dtui.

»Was meint sie damit?«, fragte Siri.

»Dass sie es nicht mehr lange machen wird, nehme ich an.«

Aber das hielt Siri fur eher unwahrscheinlich. Das Amulett um seinen Hals lag warm an seiner Brust. Es schien zu vibrieren, als wurde es eine Art Funkspruch empfangen. Allmahlich wusste der Doktor die Signale zu deuten. Er nahm die Hand der alten Frau in die eine und das Amulett in die andere Hand. Sofort besturmte ihn eine wahre Flut fremder Bilder.

»Dtui, merken Sie sich alles, was ich sage«, rief er und schilderte ihr, was er sah. »Busche, brusthoch. Ich falle. Tropfendes Wasser. Beton. Ringsum ist alles dunkel. Eine Tur, eine schwere, grune Stahltur, die sich nicht bewegen lasst. Hande. Kleine wei?e Hande. Meine eigenen, als wurde ich auf sie hinunterblicken. Sie sind voller Blut.«

Und dann, als habe jemand die Leitung gekappt, sah er plotzlich nichts mehr. Er offnete die Augen. Die alte Dame war verstummt. Er wusste, dass sie tot war. »Was habe ich gesagt?«, fragte er Dtui.

»Wissen Sie das denn nicht mehr?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

Dtui gab seine Worte so getreu wie moglich wieder und ubersetzte sie Santiago, der sich zu fragen schien, was er da gerade miterlebt hatte. Dtui wollte wissen, ob ihm Siris Schilderungen irgendwie bekannt vorkamen. Er zuckte die Achseln und entgegnete, Busche und Wasser gebe es schlie?lich uberall.

»Gut. Fangen wir mit den Buschen an.« Siri fackelte nicht lange und nahm die Sache in die Hand. »Gibt es unter den Schwestern und Pflegern jemanden, der in dieser Gegend aufgewachsen ist?« Nach kurzer Beratung kamen sie auf Nang, eine nervose Krankenschwester, die von Zeit zu Zeit immer noch in Ohnmacht fiel, wenn sie Blut sah. Sie war sichtlich erleichtert, endlich einmal nicht uber Chirurgie sprechen zu mussen. Siri interessierte sich fur Obst. Er hatte sie zwar nicht bei sich, konnte die Beere, auf die er in seinem Zimmer im Gastehaus getreten war, jedoch recht genau beschreiben. Die anderen sahen ratlos drein, wahrend sie auf den Namen zu kommen versuchte.

»Sie meinen Affeneierpflaumen«, sagte das Madchen schlie?lich.

»Und wo findet man die?«, fragte Siri.

»Uberall, wenn man wei?, wo man suchen muss. Sie wachsen auf den Karsten. Da sie auf dem Markt einen guten Preis erzielen, sind sie bei den Dorfbewohnern hei? begehrt. Der eine oder andere ist beim Sammeln von Affeneierpflaumen schon auf eine Mine getreten und in die Luft geflogen.«

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