Dtui nahm ein feuchtes Tuch aus der Waschschussel neben dem Bett und rieb vorsichtig an einem Fu?. »Nein.«

»Aber wie …?«

»Das sieht ganz nach einem Muster aus, Singsai. Schauen Sie sich den anderen Fu? an. Als hatte ihr jemand Symbole auf die Sohlen gemalt.«

»Mit Blut? Und wozu?«

»Vielleicht kann Ihr Hmong-Pfleger uns weiterhelfen.«

»Wir werden sehen. Ich mochte ihn jetzt nicht wecken, aber morgen fruh werde ich ihm mal ein wenig auf den Zahn fuhlen. Ich bin gespannt, ob er eine Erklarung dafur hat.«

»Ich auch«, sagte Dtui. »Ich auch.«

Wegen zwei weiterer Notfalle kam Dtui erst gegen sieben Uhr morgens ins Bett. Die leichte Brise, die durch die dunnen Baumwollvorhange ins Zimmer wehte, weckte sie um zehn. Auf ihrem Weg in den Hauptkrankensaal schaute sie rasch bei Frau Wunderlich vorbei. Die lag zwar noch immer auf dem Rucken, sang jetzt jedoch ein anderes Lied.

»Panoy ist schwach. Panoy ist schwach«, sagte sie.

»Wer ist Panoy?«, fragte Dtui.

»Panoy ist schwach.«

Dtui strich der Frau das wei?e Haar aus dem Gesicht und legte die Hand auf ihre kalte Stirn. Ihre Haut wirkte stumpf, wie mit einer feinen Staubschicht uberzogen. Ihr Puls war schwach. Dtui fragte sich, ob die Alte den heutigen Tag wohl uberleben wurde. Bevor sie aus dem Zimmer ging, hob sie die Decke, um sich die Fu?e der Frau noch einmal anzusehen. Die linke Sohle, die sie in den fruhen Morgenstunden gesaubert hatte, war von Neuem mit getrocknetem Blut bedeckt.

Dr. Siri sa? im Speisesaal des Gastehauses und blatterte in einer vier Wochen alten Ausgabe der Pasason Lao. Dabei stie? er auf ein Foto, auf dem sein alter Freund Civilai einem mongolischen Diplomaten die Hand schuttelte. Beide lachelten breit, aber wenig uberzeugend. Er wusste genau, was der Genosse Civilai, sein einziger Verbundeter im Politburo, gerade dachte. Es erinnerte ihn an alte Zeiten und zwei junge Manner voller Ideale.

Siri und seine Frau Boua hatten seit Jahren der Lao Issara, dem Freien Laotischen Widerstand, angehort. Boua wollte die franzosischen Besatzer systematisch bekampfen, statt ihnen nur hin und wieder ein paar Nadelstiche zu versetzen. Sie war eine uberzeugte Kommunistin, und Siri folgte ihr an die Ngyuen-Ai-Quoc- Universitat in Hanoi, wo er Vietnamesisch lernte und Kurse in kommunistischer Ideologie belegte. Er wurde mit roter Farbe getauft und so lange in den Bottich getunkt, bis er Marx atmete und Lenin schiss. Derart gerustet, war er durch die vietnamesische Provinz getingelt und hatte die Bauern davon uberzeugt, dass nur der Kommunismus sie vom Joch der franzosischen Fremdherrschaft befreien konne. Er arbeitete in Lazaretten im Norden des Landes und fand selbst nach einer blutigen Achtzehn-Stunden-Schicht noch Zeit, die Dorfbewohner in ideologische Grundsatzdiskussionen zu verwickeln.

Diesen Abschnitt seines Lebens nannte er inzwischen nur noch »die Jahre, in denen ich meinen Verstand verborgte«. Erst als er einen anderen begeisterten Kader kennenlernte, einen treuen Genossen der Laotischen Volkspartei und alten Kommunisten namens Civilai, war Siri in der Lage, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Zwar hatte man ihm eingeblaut, jeden Genossen, der vom Pfad der Tugend abgewichen war, unverzuglich der Parteifuhrung zu melden, doch Civilai schien so erfahren und intelligent, dass Siri gar nicht anders konnte, als sich seine Worte zu Herzen zu nehmen und sein eigenes wirres Weltbild zu uberdenken. Civilai war ein gluhender Anhanger des Kommunismus. An seiner Loyalitat gegenuber der Partei bestand kein Zweifel. Aber er glaubte an eine Form des Kommunismus, die ohne Terror und Unterdruckung auskam. Wegen seiner Ansichten galt er als abgehobener Spinner. Doch da er einen hohen Rang bekleidete und bei den »Massen« zudem recht beliebt war, durfte er seinen Posten im Zentralkomitee behalten, auch wenn seine Bemuhungen in aller Regel wirkungslos verpufften.

Siri hatte sich sofort fur Civilais goldenen Mittelweg begeistern konnen, und so wurde auch er von den Parteibonzen geachtet. Wahrend Boua sich unermudlich der ideologischen Erziehung des Proletariats widmete, hangte Siri seine rote Fahne an den Nagel und konzentrierte sich auf seinen Beruf als Arzt. Bouas Liebe zu ihm schwand nach und nach dahin. Er hingegen liebte sie bis zu ihrem Tod hei? und innig, obwohl er wusste, dass sie ihn fur einen Versager hielt. Allein seine Freundschaft zu Civilai bewahrte ihn davor, den Verstand zu verlieren, und wahrend die Partei Civilai immer sinnlosere Pflichten aufburdete, war es Siri, der seinem Freund Halt und Unterstutzung bot.

Das Zeitungsfoto zeigte einen von unzahligen symbolischen Handschlagen mit einem von unzahligen auslandischen Wurdentragern. Ein weiterer Schnappschuss fur das diplomatische Fotoalbum. Er werde allmahlich zur Micky Maus des neuen Regimes, hatte Civilai geklagt. Er …

»Genosse?« Siri blickte auf und sah sich dem Wachposten gegenuber, der normalerweise vor der Sperrholzwand im ersten Stockwerk sa?. Kreidebleich stand er in der Tur. »Sie sind doch Arzt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Siri.

»Schnell, kommen Sie mit.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und sturzte, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Siri wusste aus langjahriger Erfahrung, dass die zehn Sekunden, die sich mit solch ubertriebener Hast gewinnen lie?en, nur selten etwas bewirkten, es sei denn das vorzeitige Ableben sowohl des Arztes als auch des Patienten. Und so nahm er gemachlich eine Stufe nach der anderen. Die aufgebrachte Wache kam ihm auf halber Treppe entgegen.

»Beeilen Sie sich«, sagte der Mann. »Es geht um Leben und Tod.« Bei aller Dringlichkeit hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Tur im ersten Stock wieder zu verriegeln, bevor er Siri holen gegangen war. Mit zitternden Handen versuchte er den Schlussel in das Vorhangeschloss zu manovrieren. Siri war eben auf dem Treppenabsatz angekommen, als der Mann die erste Tur aufriss und uber den Flur zu einer zweiten, ebenfalls verschlossenen Tur lief. Siri fragte sich, was fur eine wilde Bestie solche Vorsichtsma?nahmen erforderlich machte. Als er am ersten Zimmer vorbeikam, warf er einen Blick durch die offene Tur. Auf einem der beiden Betten lagen drei allem Anschein nach recht teure Lederkoffer. Auf dem Fu?boden standen ein Tablett mit Jungpflanzen und kleine Tontopfe mit Stecklingen.

»Hier drin«, rief die Wache. »Noch ist er am Leben.«

Auf dem einzigen Bett im Nebenzimmer lag ein Mann mittleren Alters mit pomadiertem Haar und einem schlichten, aber teuren Pyjama. Er wand sich vor Schmerzen und hatte Schaum vor dem Mund. Auf dem Boden neben dem Bett lag eine umgesturzte braune Glasflasche. Das Etikett trug eine russische Aufschrift, doch das allgemeinverstandliche Totenkopfsymbol lie? an ihrem Inhalt keinen Zweifel. Siri hob die Lider des Mannes und schaute ihm in die Pupillen. Dann offnete er ihm den Mund, um sich seine Zunge anzusehen, und schnupperte an seinem Atem.

»Nachdem die Polizisten weg waren, sind die Zimmer sauber gemacht worden. Das blode Miststuck muss den Reiniger auf dem Waschbecken stehen gelassen haben. Keine Ahnung, wie er an das Zeug gekommen ist. Er hat es sich wahrscheinlich auf dem Ruckweg vom Klo geschnappt, als ich kurz nicht hingesehen habe. Blodes Arschloch. Wenn was passiert, werde ich erschossen.« Schimpfend lief der Wachposten im Zimmer auf und ab. »Krankenhaus! Wir mussen ihn ins Krankenhaus schaffen! Sie kriegen ihn doch wieder hin, Doc. Oder, Doc?«

»Horen Sie, Genosse«, sagte Siri und sah die hysterische Wache an. »Solange Sie hier herumtrampeln wie ein wild gewordener Kapitalist, kann ich gar nichts tun. Sie gehen jetzt hinunter in die Kuche und sagen den Damen, sie sollen zwei Liter Wasser zum Kochen bringen und eine Handvoll Salz sowie drei?ig Zentiliter Speiseol hineingeben. Ich will Sie hier erst wiedersehen, wenn alles so weit ist.«

»Jawoll.« Die Wache verlie? ihren Posten und eilte in die Kuche. Der Vergiftete auf dem Bett wand sich immer noch vor Schmerzen.

»Schon gut«, sagte Siri. »Er ist weg. Sie konnen jetzt aufhoren.«

Der Mann hielt einen Sekundenbruchteil inne, dann drang ein heiseres Knurren aus den Tiefen seiner Kehle. »Kran-ken-haus.«

»Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das nicht in Frage kommt.«

»Ster-be.«

»Ich bitte Sie. Sie liegen ebenso wenig im Sterben wie ich. Ich sehe wahrscheinlich nicht halb so gesund aus wie Sie. Was wollten Sie mit dieser kleinen Maskerade eigentlich erreichen?«

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